Wilde Sau

Altenkirchen - Dreifelder Weiher (23 km)

   Als ich heute Morgen Frau Nickel auf der Treppe treffe, wünscht sie mir guten Appetit fürs Frühstück und zeigt mir den dafür vorgesehenen Raum. Zufrieden setze ich mich an den Tisch - und finde zwei Brötchen, eine Scheibe Käse und eine Scheibe Salami. Die Brötchen reichen mir ja, aber zum Drauflegen könnte es schon etwas mehr sein. Frau Nickel kommt fröhlich herein und fragt, ob alles reicht. Ich zeige schüchtern auf den Wurstteller und Frau Nickel wird etwas rot. “Da haben die beiden Monteure vorhin aber gut zugeschlagen!“, lächelt sie verlegen, eilt in die Küche und holt Nachschub, mehr als reichlich. Ich schmiere mir auch noch ein dickes Brot für unterwegs und stecke mir zusätzlich ein Ei ein.

   Um kurz vor 9 Uhr verabschiedet mich Frau Nickel vor dem Haus und zeigt mir noch den Weg zur Wied hinunter. “Den kleinen Weg an dem Haus da vorne runter, unter der Bahn durch und dann bei der großen Eiche links. Von da an geht es durch das Wiesental immer auf dem Wiedtal-Wanderweg entlang.“ Na bitte!

   Auf den großen Wiesen bei der kleinen Wied tollen etliche Hunde herum, die großen verfolgen die kleinen, einer springt beherzt in den Fluss, Übermut vom Feinsten, Herrchen und Frauchen geben mehr oder weniger erfolglose Kommandos. Mit ein wenig Wehmut muss ich an Sira denken. Trotz aller Nerven, die sie uns (und besonders Annika) phasenweise gekostet hat, war es schön mit ihr letztes Jahr auf dem Jakobsweg. Gerade weil sie nicht dabei ist, wird es diesmal ein ganz anderer Weg werden.

   An einer Stelle verlässt der Wiedweg das Tal und vermeidet einen weiten Flussbogen, der ein ordentlicher Umweg gewesen wäre. Also geht es hinauf auf den Umlaufberg, und zwar ganz schön steil und gefühlt ganz schön lang. Heute bin ich nicht im T-Shirt auf dem Weg. Regen war vorhergesagt, stark zurückgehende Temperaturen. Also trage ich meinen Anorak spazieren. Und da drunter wird es mir jetzt richtig warm. Ich dampfte bald, komme aber gut hoch. Wie immer, bin ich irgendwann oben und lege einen kurzen Halt ein. Ich mache die Augen zu und lausche in mich und in den Wald hinein. Zuerst ist das Bummbum-Bummbum meines Herzens am lautesten, dann setzt sich das Rauschen des Windes in den Tannen und ein energisches Vogelgezwitscher immer mehr durch. Es klingt fast, als sollte ich getröstet werden. “Tief durchatmen, Junge, da vorne geht es ja schon wieder bergab.“ Man kann viel im Wald hören, man muss es nur zu deuten wissen.

   Auf dem schmalen Waldpfad hinunter nach Ingelbach haben links und rechts des Weges Wildschweine ordentlich den Waldboden umgepflügt. Zum Teil sieht es so aus, als hätten sich die lieben Borstenviecher gerade erst von hier verdrückt. Ich mache kurz ein Foto vom schönen Bachtal, packe die Kamera wieder weg, und als ich den Kopf hebe, steht eine Prachtsau vor mir, mitten auf dem Weg, vollkommen bewegungslos. So Petrus, jetzt zeig mal, was du kannst! Ich stehe genauso bewegungslos wie die Sau, ich kann auch gar nicht anders stehen. Auf dem Teller sehen diese Viecher irgendwie übersichtlicher aus.

   Frühling, zuckt es mir durch den Kopf. Vielleicht hat sie hier irgendwo ihre Jungen versteckt und wartet nur darauf, dass ich mich bewege. Mit ihren knopfgroßen Augen hypnotisiert sie mich förmlich und ihre Läufe (heißt das bei Wildschweinen so?) behält sie mit Wucht in den Boden gerammt. Etwa zwei Minuten lang (gefühlte zwei Stunden) steht sie so vor mir, bevor sie endlich Schritt für Schritt zurückstelzt, sich dann abwendet und im Wald verschwindet. Triumphierend schaue ich ihr nach. Ich habe soeben eine wilde Wildsau vertrieben! Bei meinen ersten Schritten habe ich etwas weiche Knie.
   Der Rest des Tages verläuft dagegen relativ unspektakulär. Kein Wanderer ist unterwegs, nur eine Joggerin und eine junge Frau, die ihre Hunde ausführt und mich kurz nach meinem Woher und Wohin befragt. Als ich es ihr sage, reißt sie kurz die Augen auf und sagt nur “Mein Gott!“ Bauern tuckern mit ihren Traktoren über die Wiesen und ziehen sie ab oder benutzen die großen Ladeschaufeln, um Zaunpfähle damit in den Boden zu rammen. Dreimal Wumm! und so ein Zaunpfahl ist versenkt. Da hatten ich oder meine Söhne früher mehr Mühe mit.

   Inzwischen ist es etwas ungemütlich geworden. Dicke dunkle Wolken sind aufgezogen und der Wind nimmt immer mehr zu. Die Krambergsmühle kommt wie gerufen. Es ist sowieso Zeit für eine Rast. Die Ochsenschwanzsuppe ist inhaltsreich, heiß und lecker. So weit, so gut. Weniger gut ist, dass es draußen jetzt beginnt zu regnen. Egal, weiter!

Hatte der Wind auf dem Umlaufberg vor Ingelbach noch was Tröstliches, so wird er jetzt fast bedrohlich. Bäume neigen sich, knarren beträchtlich wie unter Schmerzen. Gut nur, der Wind treibt auch den Regen weiter. Nur wenige Tropfen schleudert er auf mich und meinen Wheelie herunter.

    Mehr als vier Kilometer durchzieht die junge Wied ein großes Waldgebiet und erst bei Steinebach trete ich wieder aus diesem heraus. Jetzt wird es noch happiger. Auch wenn die Bäume knarrten, so bot der Wald doch einen gewissen Windschutz. Jetzt hat sich das erledigt. Fast mit Sturmstärke beutelt mich der Wind hin und her und zu allem Überfluss beginnt es jetzt zu regnen. Auf dem letzten Kilometer bekomme ich so richtig die Ganzkörpertaufe. Da hilft mein Schirm auch nicht viel, denn der Regen kommt waagerecht. Ich habe einiges damit zu tun, mich darauf zu konzentrieren, dass eine unerwartete schwere Böe mir nicht den Schirm aus den Händen reißt!
   Tropfnass erreiche ich den Campingplatz “Haus am See“ am Dreifelder Weiher. Geschafft! Hier wartet eine Unterkunft auf mich, die ich so auch noch nicht hatte: ein Weinfass unmittelbar am Schilfgürtel des Sees. Nein, wie herzig! Achtzig Zentimeter sind es ungefähr von der Tür bis zum querstehenden, etwas erhöhten Doppelbett. Mehr Platz ist nicht. Mein Wheelie passt so gerade durch die Tür, jetzt kann ich gerade noch neben ihm senkrecht stehen. Meine nassen Sachen aus- und trockene anzuziehen, fällt schon etwas schwer. Herrlich! Was für eine Liebeslaube!

 

Ihr wisst ja, zum Wegverlauf diesen Link klicken:

 

https://docs.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmQ2RZdnl4QmJGaWM/edit?usp=drivesdk 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Die Pilgertochter (Samstag, 22 März 2014 11:39)

    Ach, Vaddi! Eine Wildsau vertreibt die andere... Ich wusste schon immer, dass du der stärkste Keiler bist! Oh Mann, da wird einem ja schon wieder ganz anders. Kaum lässt man dich zwei Tage aus den Augen... Ist schon gut, dass Sira nicht dabei war. Die will ich mir in der Sausituation gar nicht vorstellen...

  • #2

    Anja (Sonntag, 23 März 2014 10:32)

    Ich habe schon letztes Jahr begeistert euer Blog verfolgt und freue mich, nun wieder hier lesen zu dürfen. Mir gefällt die ausführliche und anschauliche Art zu schreiben sehr und freue mich auf die nächsten Wochen und Monate. :)

  • #3

    Der Kronprinz (Dienstag, 01 April 2014 17:25)

    Was hätte ich früher für so eine dicke Verladeschaufel gegeben. Aber gut: meine Oberarme haben es mir gedankt


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