Verrücktes Wetter

Aarbergen-Michelbach - Idstein (22 km)

   Aufstehen kann mühsam sein, völlig unabhängig von der Uhrzeit und der Dauer des Schlafes. Und vor allem schmerzhaft. Gekrümmt wie eine Banane humpel ich in Richtung Bad. Auf dem Rückweg bin ich schon fast wieder in der Senkrechten und als ich meine Balkontür aufmache und eine Welle eiskalter Morgenluft mein Zimmer überschwemmt, bleibe ich für Sekunden tapfer, vollführe eine dynamische körperbildende Morgengymnastik und bin damit fit für den Tag.

   Schon gestern, beim ersten Blickkontakt, war der Königspudel von Frau Zeppenfeld, meiner Gastgeberin, anscheinend ganz vernarrt in mich. Er ist eine Hündin, von daher ist das ja irgendwie verständlich. Als ich heute Morgen zum Frühstück die Treppe runterkomme, ist sie ganz aus dem Häuschen, wedelt wie ein Scheibenwischer auf Stufe 3 mit dem Schwanz, holt sich umgehend eine Streicheleinheit bei mir ab und begleitet mich bis zu meinem Platz am Frühstückstisch. Dort bleibt sie wie eine Statue die komplette Zeit sitzen. Jetzt erfahre ich auch ihren Namen: Clara Kingsize Heartbreaker. Ist-das-ein-Name!!?? Wie sie da so neben mir sitzt und mich anstarrt, wird sie dem dritten Teil ihres Namens absolut gerecht. Mit Billigung meiner Gastgeberin und ihres Frauchens, halte ich ihr nach Beendigung des opulenten Frühstücks eine Scheibe Wurst hin, die sie mir mit äußerster Vorsicht aus den Fingern nimmt.

   Frau Zeppendorf und ihr Lebenspartner verabschieden mich an der Haustür und ich verspreche, für ihr Haus (berechtigte) Werbung zu machen. Also: Wanderer, kommst du bei deiner Wanderung auf dem E1 nach Aarbergen-Michelbach, gönne dir eine Nacht in der “Villa an der Aar“!

   Schon gestern, auf den letzten beiden Kilometern bis Michelbach, hatte ich keine Wegmarkierung mehr gesehen. Da der Ort aber offensichtlich vor mir lag, hatte ich darauf auch keinen großen Wert mehr gelegt. Jetzt, auf meinem Weg durch Michelbach, und auf der Suche nach dem E1-Zeichen, finde ich es aber auch nicht. Dann fällt mir ein, dass Frau Zeppenfeld etwas von “hoch zum Segelflugplatz“ gesagt hat, und das Schild “Flugplatz“ finde ich schnell. Der hinführende Weg geht, wie kann es auch anders sein, zünftig bergauf.

   Die Sonne scheint prächtig und der Himmel ist blau wie die Augen von Terence Hill, aber die Temperatur liegt immer noch nahe der Frostgrenze. Auf den Autos liegt eine knackige Eisschicht, und je höher mich der Weg bringt, umso mehr glitzern Eistropfen im Gras. Es ist ein herrlicher Morgen.

   Oben auf der Höhe stößt auf einmal von links der E1 auf meinen Weg. Damit bin ich jetzt auch wieder auf der sicheren Seite. Am Waldrand komme ich zu dem kleinen Hangar des Segelflugplatzes. Ein Schild weckt mein Interesse: “Rundflug? Bitte anmelden!“ Bei wem denn, bitteschön!? Kein Mensch ist hier oben. Mit dem Segelflieger mal bei diesem Wetter eine kleine Runde zu drehen, würde mir schon gefallen.

   Gegenüber gestern ist der nun folgende Waldweg glatt eine Kurpromenade. Schön befestigt, kaum ein Zweig liegt auf ihm und ohne großes Auf und Ab lasse ich mich dahintreiben.

   Unbemerkt bin ich auf der “Historischen Eisenstraße“ gelandet. Ein Schild gibt mir bald freundliche Auskunft: Die Historische Eisenstraße ist Teil eines mindestens eisenzeitlichen Fernweges von der Lahn bis nach Mainz, wobei der Weg von Wiesbaden bis Mainz römischen Ursprungs ist. Sie deutet auf die Eisenfuhren von den zahlreichen Waldschmieden in diesem Gebiet bis hin nach Mainz. Waldschmieden beherrschten technisch alle Zweige der Eisengewinnung, so wurden z.B. in kleinen Öfen, die mit Holzkohle befeuert wurden, Eisenerze geschmolzen, in Hammerschmieden weiter verarbeitet und die Erzeugnisse auf der von Norden in Richtung Süden in Gräben gelegten und eingeebneten Eisenstraße befördert. Gleichzeitig diente dieser stark befahrene und mit natürlicher Festigkeit versehene Weg auch den Einheimischen zum Transport von Feldprodukten und anderen Handelsgegenständen. Heute ist sie ein beliebter Wanderweg. Sie läuft gradlinig und ohne bemerkenswerte Steigungen durchs Gelände. - Wieder was gelernt!

   In der Tat geht es ohne jede Anstrengung eine Weile dahin. Immer wenn ich den Wald verlasse und zum freien Feld komme, ist die Aussicht von diesem Höhenweg phantastisch. Das einzige, was stört, sind die grauen Wolkenberge, die ringsum sich bilden und immer näherkommen. Gerne wäre ich länger auf dieser wanderfreundlichen Eisenstraße geblieben, aber sie führt ja gen Mainz, also nach Süden. Ich aber muss nun nach Südosten schwenken, gen Idstein, meinem Tagesziel, und hin zum Taunus. Also gehts hinab nach Hennethal, nur um von da die nächste Höhe zu erklimmen.

   Inzwischen hat sich eine schwere graue Wolke über mich gelegt und beginnt, einige Tropfen runterzuschicken. Wie bestellt, erreiche ich in diesem Moment den großen Grillplatz der Gemeinde Hennethal. Der üppig dimensionierte Grill ist mir zwar egal, aber die Schutzhütte mit etlichen Sitzbänken und Tischen gefällt mir. Außerdem finde ich hier etwas vor, was ich so noch nicht gesehen habe: Alle Bänke sind mit Teppichstreifen überzogen und vermitteln einen angenehmen Sitzkomfort. Ich setze mich aber nicht, sondern lege mich und sammel beim Genuss eines Apfels Kraft für die nächsten Kilometer.

   Und das ist auch nötig. Als ich mich wieder auf den Weg mache, wird der Regen intensiver. Innerhalb weniger Minuten wird aus dem Regen Graupel und Abermillionen Graupelkörner schlagen auf einmal vor mir auf dem Weg auf und purzeln fröhlich umeinander herum.

   Und dann wird aus dem Graupel Schnee. Immer dichter wird er und bald ist der Weg und der Waldboden wie mit Puderzucker überzogen. Es schneit weiter, und bald werden aus einem Zentimeter zwei, dann drei... vier. Zunächst unmerklich, dann aber immer deutlicher, muss ich mich mit meinem Wheelie ganz schön ins Zeug legen. Und es schneit immer weiter.

   Bald nähere ich mich einer Straße und sehe, wie sich die Autos stauen. Als ich sie überquere, erkenne ich auch, warum. LKWs haben sich an einer geringen Steigung bei festgefahrener Schneedecke quergestellt. Nichts geht mehr. Nur 20 Meter von mir entfernt hält ein PKW am Straßenrand. Ein Mann steigt aus und holt aus seinem Kofferraum eine größere Kamera. Auf seinem Auto ist "HR" aufgedruckt, anscheinend dreht das lokale Fernsehen vom Hessischen Rundfunk einen aktuellen Bericht zur aktuellen Wetter- und Verkehrssituation.

   Keine Viertelstunde später und einen Kilometer weiter stelle ich auf gleicher Meereshöhe fest, dass der Wald wieder grün ist. Von Schnee ist nichts mehr zu sehen. Das muss wirklich ein gewaltiger, sehr punktueller Schneeschauer gewesen sein. Ich trudel bergab bis Oberauroff, setze mich oberhalb des Dorfes auf eine gemütliche Bank und genieße die Sonne bei frühlingshaften Temperaturen. Verrückte Gegensätze!

   Von Oberauroff ist es nicht mehr weit bis Idstein. Ich unterquere die Autobahn A3 - und ab sofort hört die stumme Schönheit von Landschaft und Natur auf und die laute Scheußlichkeit des deutschen Gewerbegebiets greift sich ihren Platz: Hallen, Werkstätten, Großtankstellen, Discount-Märkte, Fast-Food-Paläste. Ich lasse alles gleichgültig links und rechts liegen und strebe auf der Wiesbadener Straße der Innenstadt von Idstein entgegen. Und genau an dieser Straße liegt die Kath. Kirche St. Martin. Dort ist für heute mein Ziel. D.h. nicht die Kirche, sondern das daneben stehende Pfarrhaus von Pfarrer Paul. Ihn hatte ich vor vielen Wochen angerufen mit der Bitte, mir bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich zu sein, denn alle Hotels bzw. Pensionen hatten keine Zimmer mehr frei oder waren mir entschieden zu teuer. Daraufhin war Pfarrer Paul bereit, mir sein Gästezimmer zur Verfügung zu stellen. Vielen Dank, Herr Pfarrer!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWma2lUQ3JaS1BjdzQ/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 26 März 2014 16:17)

    Wie gut, dass du deinen Partypavillon-großen Regenschirm dabei hast, da kann dir das schlimmste Wetter nix anhaben. Aber wie wir erkannt haben: Das Wetter ist immer nur so schlimm, wie die Kleidung, die man trägt!

  • #2

    zeppis (Mittwoch, 26 März 2014 18:37)

    Als die Unwetterfront Michelbach erreichte, dachten wir voller Mitleid an den einsamen Wanderer:-))

  • #3

    Der Kronprinz (Mittwoch, 02 April 2014 09:04)

    Vatter, du warst noch nie aus Zucker...


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