Treffsicherheit

Dreieichenhain - Darmstadt (19 km)

 

   Noch bis tief in die Nacht dauerte die Abschiedsfeier für Heinzi an. Die Laute, die zu mir gelangten, wurden immer zusammenhangloser, dafür aber auch lauter. Frauen quiekten, Männer brüllten, die Musik wurde immer noch ein wenig lauter gedreht, man hätte ja sonst davon nichts verstehen können. Die Schlachtgesänge für die Eintracht gerieten martialischer und alles in allem wurde es immer gemütlicher. Nur nicht für mich. Aber ich gönnte Heinzi seine Feier von Herzen. Retter in solchen Situationen sind die netten kleinen Artikel aus dem Hause Ohropax. Als ich sie mir in die dafür vorgesehenen Körperteile steckte, versank ich binnen Sekunden in eine wohlige Stille und schlief schneller ein als ich mir mein Kopfkissen zurechtknautschen konnte. 

   Am nächsten Morgen, oder wohl noch in der Nacht, müssen die Heinzelmännchen von Köln dagewesen sein. Vom nächtlichen Gelage ist nichts mehr zu erkennen. Alles ist sauber und aufgeräumt, sowohl drinnen wie draußen. Selbst von abgestandener Alkohol- oder Zigarettenluft ist nichts zu riechen. So geht's bei Naturfreunden zu! Nach meinem Selbstversorgerfrühstück stolpere ich mit meinem Wheelie die Treppen runter, schließe das Haus von außen ab und werfe den Schlüssel, wie gestern Abend noch mit Heinzi verabredet, in den kleinen Briefkasten am Gartentörchen.

   Ich wundere mich, dass von der Sonne trotz wolkenfreiem Himmel noch nichts zu sehen ist. Es dauert etwa eine Viertelstunde bis mir einfällt, dass sich ja letzte Nacht klammheimlich die Sommerzeit eingestellt hat. Mir soll es recht sein.

   Der Weg geht so weiter, wie er sich gestern bereits gezeigt hat. Mehr oder weniger eben läuft er dahin, durch herrliche Buchenwälder, an Waldrändern entlang oder auf Wirtschaftswegen durch weite Felder. Die Sonntagmorgen-Jogger und -Walker frönen ihrem Hobby, obwohl nicht alle so aussehen, als ob sie wirklich Freude daran hätten. Für mich ist es wieder einer jenen Tage, an denen ich mit mir selbst spreche. “Wow, wie schön!“ sage ich zum Beispiel, ganz laut, damit ich meine Stimme höre und sicher sein kann, das ist kein Traum, nein, ich bin es wirklich. Ich laufe mit großen Augen staunend durch diese Welt und bewundere ihre Schätze.

   Während ich so vor mich hin träume, höre ich hinter mir eine Klingel. Ich gehe an den rechten Wegrand, ein Fahrradfahrer überholt mich und hält dabei grüßend den rechten Arm hoch. Direkt folgend: “ Noch eine! - Danke! - Keiner mehr!“ Das ist die Ehefrau. Na das nenne ich doch mal eine gelungene Kommunikation zwischen Aktivgruppen, die sich dasselbe Terrain teilen. Oft spielt sich das anders ab. Dann rasen manche Radler mit hoher Geschwindigkeit knapp von hinten an einem vorbei und man hört sie nicht immer kommen. Ein unbedachter Schritt zur Seite kann verheerende Folgen haben. Warum gibt es denn die Klingeln...?

   Nach etwa zwei Stunden Weges höre ich seltsame Tierlaute in einiger Entfernung. Was das Streitgespräch von kolossalen Monsterkatzen sein könnte, sind aber nur die Lockrufe von Pfauenmännchen. Als ich das Hinweisschild “Gartenlokal Zum Kalkofen“ erblicke und die Lockrufe von daher zu kommen scheinen, bin ich sehr gerne bereit, diesen zu erliegen. Was ich dann sehe, lässt mich staunen.

   Mitten in einem kleinen Tannenwald steht ein nicht allzu großes, aber urig wirkendes Haus, ein ehemaliges Forsthaus. Davor ein großer ovaler Teich mit Mittelinsel, zu der eine kleine gebogene Zierbrücke hinüberführt. Links und rechts um den Teich herum führt ein breiter Kiesweg, der wiederum flankiert wird von etlichen Vogelvolieren. Am Rand des Weges stehen eine Unmenge von Gartentischen und -stühlen, die auf die ersten Gäste an diesem schönen sonnigen Sonntagmorgen warten.

   Der erste Gast bin ich und überall um mich herum stolzieren Pfaue. Meist sind es Männchen, eitle Fatzken, die sich vor ihren wenigen Mädels nacheinander aufplustern und ihr Rad schlagen. Dann traue ich meinen Augen nicht. Zwei Pfauenherren sitzen kackfrech auf Gartentischen, zwei andere auf dem Dach in der Regenrinne und schauen zu mir hinunter. Mensch, hier ist es aber originell.

   Als ich mir mein Kännchen Kaffee von der Selbstbedienungstheke abhole und kurz die Bemerkung fallen lasse, dass hier wohl an schönen Tagen ganz netter Betrieb herrsche, gibt mir die junge Dame lachend recht. “Seien Sie froh, dass Sie so früh hier sind, in einer Stunde ist hier bald kaum noch ein Platz frei.“ Während ich meinen Kaffee trinke, sehe ich auch noch Bierzeltgarnituren auf einer großen Wiese stehen. Ich überschlage alles in allem die Sitzplätze und komme auf rund 700. Ein typisches Ausflugslokal halt.

   Gerade ergötze ich mich an meinem Kaffee, als Söhnchen Yannik anruft. Er ist gerade mit Annika, Florian und Freundin Sabine auf dem Weg nach Mecklenburg-Vorpommern, um dort in einem Robinson-Club ein Praktikum zu machen. Wir klönen ein Weilchen, dann wünsche ich ihm eine interessante Zeit und gute Erfahrungen und lege auf. Im gleichen Moment schreit direkt über mir in der Dachrinne ein Pfau. Ich schaue hoch - und sehe ihn. Aber nicht seinen Kopf, sondern das entgegengesetzte Ende mit dem langen Federbusch... der sich auf einmal ganz langsam aufrichtet. Der wird doch nicht...? Ich habe es noch nicht fertiggedacht, da öffnet sich eine Schleuse und eine Ladung Pfauexkremente landet... ja wirklich, das ist kein Witz... genau in meiner Kaffeetasse. Normal hätte ich bei dieser Treffsicherheit applaudiert, aber da war noch Kaffee drin!!! Die alte Dame am Nachbartisch, die sich während meines Telefongesprächs mit Yannik dort hingesetzt hat, erstickt bald an ihrer Laugenbrezel und ihr schießen die Lachtränen aus den Augen. Ich entschließe mich, kräftigst mitzulachen, was die junge Frau von der Selbstbedienungstheke auf uns aufmerksam macht. Sie grinst nur, verschwindet kurz und kommt dann mit einem neuen Kännchen Kaffee wieder zurück. “Entschuldigen Sie, aber das kennen wir. Dafür haben wir einen extra Posten im Budget.“ Ich könnte mich wegschmeißen und die alte Dame sich auch. Merke: Hast du einmal richtig Kaffeedurst, gehe ins Gartenlokal Zum Kalkofen, setze dich an die richtige Stelle und warte auf den richtigen Pfau. Dann gibt es bald einen Kaffee umsonst!

   Kurz nach meiner so vergnüglichen Rast komme ich zur Dianaburg. Wer sich darunter eine trutzige mittelalterliche Burg vorstellt, liegt falsch. Mitten im Wald, im Zentrum von sternförmig zusammenlaufenden Schneisenwegen, steht in einer kreisförmigen Mittelinsel, künstlich erhöht, ein kleines Gebäude. Eine Tafel gibt Auskunft: An dieser Stelle stand das ehemalige Rokokoschlösschen Dianaburg, das Landgraf Ludwig VIII. Anfang des 18. Jh. seinem Sohn Ludwig IX. als Geburtstagsgeschenk erbauen ließ. Es war ein zweistöckiges Gebäude, mit einer Küche im Keller, die mit einem “Tischleindeckdich“-Mechanismus ausgestattet war. Im Obergeschoss waren die Schlafräume und die Spitze bildete eine begehbare Dachlaterne. Sohnemann verlegte aber nach Papas Tod seinen Wohnsitz von Darmstadt nach Pirmasens, die Dianaburg verfiel und wurde 1808 auf Abbruch verkauft. Keine 30 Jahre später ließ Großherzog Ludwig lll. von Hessen-Darmstadt an historischer Stätte einen schlichten achteckigen Biedermeierpavillon als Jagdpavillon errichten, der aber mit den Jahren ebenfalls baufällig und erst 2007 von Grund auf renoviert wurde. Heute kann man hier stilvoll heiraten. Na, meine Kinder, wie wär es denn...?

   An der Dianaburg deutete es sich schon an. Etwas später, bei Schloss Kranichstein, wird es nochmal unterstrichen. Wer Macht demonstrieren und repräsentieren will, muss jagen. So war es im Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Die Landgrafen von Hessen-Darmstadt bauten deshalb an vielen Stellen ihres Herrschaftsgebietes stattliche Jagdhäuser, erschlossen Wälder und Fluren für den höfischen Jagdbetrieb. So entstanden u.a. Fasanerien und Tiergärten, Fischteiche und Jagdpavillons. Schloss Kranichstein gehörte zu den ehemals bedeutendsten Jagdhäusern und war seit 1772 über drei Jahrhunderte ein Zentrum für die Jagd der fürstlichen Herrschaften. Heute beherbergt es ein Jagdmuseum.

   Am frühen Nachmittag erreiche ich ein beliebtes Naherholungsgebiet der Darmstädter, den Steinbrücker Teich. Der riesige Parkplatz ist eng besetzt mit Autos und immer noch kommen welche dazu. Die großen Wiesenflächen entlang des Teiches sind gut belegt mit Familien und Liebespaaren. Sie liegen auf ausgebreiteten Decken, Kleinkinder krabbeln durchs Gras, Omas sitzen auf Campingstühlen unter Sonnenschirmen und der Schwiegersohn hat den kleinen Holzkohlengrill angeworfen. Ich setze mich auf eine Bank und schäle mir meine Schuhe von den Füßen. Auf der großen Wiese vor dem Kinderspielplatz läuft gerade ein erbittertes Fußballmatch, zwei gehen zwei, und keine 20 Meter neben mir stehen Mütter und Väter in einer Schlange, um für ihre Kinder ein Minipony zu einem kleinen Geländeausritt zu ergattern. Und dann der große Moment: Ein Eiswagen fährt vor! Sofort bildet sich eine Traube von großen und kleinen Menschen an der Heckklappe des Autos, wo heraus das Eis in Waffeln und Bechern verkauft wird. Ich kann genau drei Minuten widerstehen, dann ziehe ich blitzschnell meine Schuhe wieder an und stelle mich mit in die Schlange. Es schmeckt köstlich!

   Eine Stunde später bin ich in der Jugendherberge von Darmstadt. Einzelzimmer mit Blick auf den See “Großer Woog“. An ihm entlang geht es morgen weiter.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmWHFRaEotTzlVX3M/

 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Wolfgang Joest (Montag, 31 März 2014 03:47)

    Hallo Reinhard,
    Rad schlagende Pfauen sind offensichtlich im wahrsten Sinne kackfrech ;-) .
    Dein Blog ist sehr interessant und ich wünsche Dir eine gute Zeit auf Deinem Weg sowie freundliche Begegnungen auf den Wanderetappen. LG Wolfgang

  • #2

    Sebastian (Montag, 31 März 2014 08:55)

    Bei 19 gelaufenen km und ca. 1.400 verbrannten Kalorien kannst du ca. 10 Kugeln Eis essen. Toll, nicht?

  • #3

    Der Kronprinz (Donnerstag, 03 April 2014 08:37)

    Boah was hätte ich gelacht...


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