Dicke Brocken

Darmstadt - Lautertal-Reichenbach (26 km)

   Habe ich überhaupt schon gesagt, dass ich inzwischen im Odenwald bin? Seit Dreieichenhain kann man das wohl so nennen. Die Etappe Dreieichenhain - Darmstadt war flach, aber heute habe ich schon gemerkt, dass der Odenwald auch ein Mittelgebirge ist.

   Spät abends kam gestern noch ein Bus mit älteren Spaniern an der Jugendherberge in Darmstadt an. Mit der Ruhe war es dadurch erstmal vorbei. Koffer wurden über die Flure gerollt, sich lebhaft und laut unterhalten, Türen geschlagen und dann nochmal auf den Gängen hin und her marschiert, als wäre man auf der Flaniermeile von Barcelona. Wahrscheinlich musste man sich nach einer langen Busreise etwas die Füße vertreten. Was machen überhaupt ältere Spanier in der Jugendherberge von Darmstadt?

   Als ich beim Frühstück sitze, kommen sie alle so nach und nach ebenfalls von ihren Zimmern, wesentlich wortkarger und keineswegs so aussehend, als würden sie sich auf ihr heutiges Tagesprogramm freuen.

   Das erste Mal während meiner Tour zeigt sich heute Morgen nicht die Sonne. Der Himmel ist grau, ich glaube aber, dass es sich nicht um Regenwolken handelt, sondern eher um Hochnebel. Die Kälte der vergangenen frühen Morgenstunden, an denen der Raureif noch auf den Wiesen lag, ist aber auch vorbei. Meinen Anorak knüpfe ich direkt um meinen Wheelie, die Fleecejacke reicht. Um kurz nach 8 Uhr bin ich wieder unterwegs.

   Jetzt muss ich erstmal den E1 wiederfinden, die Karte sagt mir aber, dass das nicht so schwer werden dürfte. Ein älterer Herr, der seinen kleinen Terrier Gassi führt, sieht, wie ich die Karte studiere und spricht mich an. “Wo wollen Sie denn hin?“ Als ich ihm antworte, dass ich den E1 suche, weiß er sofort Bescheid. “Hier vorne kreuzen Sie die Straße und dann kommen Sie da hinten zu der kleinen Brücke, sehen Sie die? Und dahinter verläuft der E1. Der geht bis Italien!“ Ich verschweige ihm, dass ich genau da hin will, mir steht noch nicht so recht der Sinn nach einem Smalltalk.

   Genau wo beschrieben, stoße ich wieder auf meinen E1 und nehme Geschwindigkeit auf - für fünf Minuten. Dann stoße ich auf eine Info-Tafel, die mein Interesse weckt.Von jetzt ab, aber wohl nicht sehr lange, gehe ich auf dem “Kotelettpfad“. Herrlich, oder? Doch damit hat es ohne weiteres eine ernste Bewandtnis. Ende des 19. Jahrhunderts gab es den schönen Brauch, dass Darmstädter Bürger besonders sonntags sich zu Fuß ins benachbarte Roßdorf aufmachten, um dort die mutmaßlich besten Koteletts der Region zu genießen. Die hungrigen Städter zog es so zahlreich nach Roßdorf, dass nach und nach ein richtiger Trampelpfad dadurch entstand. Diese Tradition wurde 1993 wiederbelebt und alle zwei Jahre findet eine organisierte Wanderung mit Kotelettessen im Gasthaus “Zur Sonne“ in Roßbach statt.

   Ab jetzt geht es bergauf, nie dramatisch, aber stetig. Es erlaubt mir noch, richtig kräftig zu marschieren, jedoch mir wird warm unterm Fleece. Andererseits weiß ich, dass das T-Shirt alleine nicht reichen würde, denn die Sonne bleibt immer noch verborgen.

   Ober-Ramstadt empfängt den Wanderer mit konzentriertem Tierduft. Pferde stehen auf den Wiesen und links des Weges, vor der großen Halle, dampft der Pferdemist. Rechts vom Weg ist der Kaninchenzuchtverein beheimatet und züchtet kräftig. Und wo viele Kaninchen leben, fällt viel Dung an und der riecht auch nicht nach Veilchen. Unmittelbar danach reihen sich mehrere Hühnerkäfige aneinander. In trauter Nachbarschaft mit den Kaninchenzüchtern wirken hier die Geflügelzüchter. Man soll ja gar nicht glauben, wie viele Hühnerarten es gibt. Hier könnte man sie sich anschauen - wenn man den Gestank von Hühnermist mag. Ich mach schnell, dass ich an all dem vorbeikomme, ehe mir diese Geruchsmischung von Pferd, Kaninchen und Huhn in den Klamotten hängen bleibt.

   Jetzt geht es auf die Hohe Straße. Keine Sorge, ich habe mich nicht auf die Kölner Shoppingmeile verirrt, sondern so nennt sich die schmale asphaltierte Straße, auf die ich jetzt komme. Ohne nennenswertes Bergauf und Bergab führt sie zunächst durch den Wald, später dann über die offenen Höhen mit weiten Blicken in die benachbarten Täler. Früher war es wohl ein Hauptverbindungs- und Handelsweg, als die Wege durch die Täler viel seltener genutz wurden. Aus der Hohen Straße wird bald die kilometerlange Hutzelstraße, die das Wandern über die Höhen des Odenwaldes in diesem Bereich sehr angenehm und aussichtsreich macht. Ich muss mich mal schlaumachen, was der Teilbegriff “Hutzel-“ zu bedeuten hat.

   Auf diesem angenehmen Weg erreiche ich auf einer kleinen Passhöhe das Restaurant “Kuralpe-Kreuzhof“. Es wurde aber auch Zeit. Ich kann jetzt wirklich eine Verschnaufpause vertragen. Die Sonne hat es mittlerweile gegen den Hochnebel geschafft und entwickelt prompt eine ordentliche Hitze. 24°C zeigt das Thermometer auf der Restaurantterrasse und es wird jetzt hohe Zeit, dass ich mich endlich meiner Fleecejacke entledige.

   Ich verziehe mich mit meiner Pilgerkarre in die letzte Ecke der großen Terrasse, denn irgendwie sitzt mir hier ein wenig zu viel feine Gesellschaft. Was mich aber nicht hindert, zu meinem bestellten Bärlauchsüppchen mein heute Morgen in der Jugendherberge geschmiertes Brötchen zu verzehren. Die Sonne brennt mir auf den Kopf, so dass ich mich einen Moment frage, warum ich nicht lieber in den kühleren Innenraum gehe. Ich bleibe wegen der drumherum blühenden Obst- und Magnolienbäume und wegen der Kinder, die auf dem naheliegenden Spielplatz herumtoben und einigen der Gäste damit wohl ein wenig auf den Keks gehen. Ich würde sie gerne noch etwas anstacheln.

   Von der Streckenplanung her nicht so ganz glücklich, kommt es nun auf den letzten drei Kilometern des Tages zu der größten Herausforderung. Unmittelbar nach der Kuralpe beginnt der steile Aufstieg auf den 514 m hohen Felsberg, um anschließend mindestens genauso steil wieder ins Tal der Lauter nach Reichenbach, meinem Etappenort, absteigen zu können. Da aber ja ein einfacher Abstieg über einen breiten, sanft abfallenden Waldweg zu einfach wäre, kommt es nun für Mensch und Maschine noch zu einer echten Herausforderung. Das Lautertaler Felsenmeer muss bezwungen werden. Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von kolossalen abgerundeten Steinen, die wie überdimensionale Flusskieselsteine aussehen. Fast einen Kilometer lang ziehtsie  sich den Südhang des Felsberges hinunter. Sagen und Mythen ranken sich um dessen Entstehung. Tatsächlich ist es das Ergebnis eines Verwitterungsprozesses.

   Eine Weile führt der E1 genau zwischen diesen Monstersteinen hindurch. Sie, querverlaufende Baumwurzeln und Treppenstufen der unterschiedlichsten Höhen verlangen mir und meinem Wheelie nochmal alles ab. So imposant die Szenerie im Felsenmeer ist, so froh bin ich, als ich es hinter mir habe.

   Der letzte Kilometer nach Reichenbach wird allerdings zum Genuss. Wie gemalt liegt der Ort unten im Tal und überall an den Berghängen blühen die Obstbäume in ihrer ganzen Pracht. Wie Schneebälle sind sie in der Landschaft verteilt. Löwenzahn blüht auf den Wiesen und als ich die ersten Häuser erreiche, darf natürlich auch das strahlende Gelb der Forsythien nicht fehlen.

   Schon bald treffe ich auf das “Gästehaus am Nibelungensteig“, meiner Unterkunft für heute. Den Schlüssel muss ich mir allerdings im dazugehörigen “Gasthaus zur Traube“ holen und das liegt nochmal einen Kilometer weiter im Stadtzentrum. Kleine Schickane zum Schluss, aber was soll's...

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmSm9xYUhwRnZ1Y1U/

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Donnerstag, 03 April 2014 08:52)

    Na das ist doch mal ein Wander-Frühling wie man ihn braucht. Wenn ich da an letztes Jahr denke...


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