Von Kühen und Schnecken

Birkenau - Wilhelmsfeld (18 km)

   Ich wache auf, so langsam, wie eine Luftblase in Honig aufsteigt. Tief muss ich geschlafen haben, bevor der Wecker seine lästigen Laute von sich gibt. Nichts ist herrlicher, als fit und erholt aus dem Bett zu springen und voller Elan den Tag zu begrüßen. Warum auch immer, kann ich das heute vergessen. Ich hebe meine immer noch brennenden Füße vorsichtig von den Matratzen und kämpfe auf dem Weg ins Bad um einen halbwegs aufrechten Gang. Die Anstiege des Odenwaldes machen mich mit Muskeln meines Körpers bekannt, über deren Existenz ich noch nichts wusste.

   Die liebe Wirtin meiner Pension in Birkenau bringt mich noch bis zur Tür. “Isch muss mir dochamol oogucke, wie Sie Ihr Dingsda, Ihr..., wie heeßt das nochamol, ach ja, Wheelie, wie Sie sisch des umschnalle.“ Ich zeige es ihr in aller Ausführlichkeit, winke und setze mich in Trab. “Ha noi, so ebbes han isch aa no nett gsehn...“ ruft sie hinter mir her, lacht und winkt ebenfalls.

   Heute habe ich zehn Minuten länger, um mich mental auf den Aufstieg auf den Eichelberg vorzubereiten. Dann geht es wieder los. Kleine, kurze Schritte, aaatmen, Schritt, Schritt, Schritt, aaatmen... Ein Mann mittleren Alters kommt mir auf seinem Gassigang mit seinem Hund entgegen. “Na, da kriegen Sie mit Ihrer Karre aber was zu tun...“ Solche Sprüche kann ich leiden, ein Gutenmorgen hätte es auch getan. Schritt, Schritt, aaatmen, Schritt, Schritt... Ich stehe bereits wieder im eigenen Saft. So viel geschwitzt wie in der letzten Woche  habe ich auf dem gesamten Jakobsweg nicht. Als ich endlich oben bin, fühlt sich mein Kopf an wie eine rotglühende Ceranplatte und mein Puls hämmert in Spechtgeschwindigkeit. Das Schöne aber ist, nach zwei Minuten bin ich wieder gut runtergefahren, dampfe noch etwas nach, aber bin jedesmal stolz auf mich, es wieder geschafft zu haben. Nicht selten, wenn ich mir einigermaßen sicher sein kann, dass niemand in der Nähe ist, bringe ich das auch mit einem glücklichen Brüll zum Ausdruck.

   Immer wieder schön dann: die Abstiege. Vom Eichelberg senkt sich der Weg nach Unterflockenbach ins Gorxheimer Tal. Glückliche Kühe kommen von ihrer Weide auf mich zugerannt, muhen mal kurz und kräftig und begleiten mich bockspringenderweise ein Stück am Stacheldrahtzaun entlang, als wollten sie mich anfeuern: “Go, Wanderer, go!“ Ganz anders macht's die Weinbergschnecke vor mir auf dem Weg. In aller Seelenruhe ist sie unterwegs. “Ich bin auch auf meinem Weg, Wandersmann, vielleicht brauche ich etwas länger. Aber mich hetzt ja keiner. Der liebe Gott hat uns die Zeit gegeben, aber nicht die Eile. Und ich weiß auch schon, wo ich heute Nacht schlafe. Ich trage meine Unterkunft ja auf dem Rücken.“

   Immer weiter gehe ich nach unten. Um mich herum abgrundtiefe Stille. Nur die eigenen Schritte, Atemzüge, Herzschläge, sonst kein Laut. In sich einsinken. Selbst mein Wheelie ist ganz leise. Er rollt auf Asphalt.

   Unten in Unterflockenbach stoße ich auf eine große Tafel. Sie behandelt den E1, wo er beginnt, wo er endet, durch welche Landschaften er in Deutschland führt. Als ich 1978 anfing, ihn in Etappen abzugehen, begann er noch in Flensburg und endete in Genua. Heute beginnt er in Grövelsjön in Schwedisch Lappland und endet in Umbrien. Es soll sogar noch weiter gehen. Ich glaube, mittlerweile ist er sogar vom Nordkap an markiert und soll noch bis Sizilien fortgeführt werden. Erinnerungen tauchen auf: In Schwedisch Lappland läuft er parallel zum Kungsled, einem der grandiosesten Wanderwege, die ich in Europa begangen habe.

   Wo es ein Niederflockenbach gibt, gibt es auch ein Oberflockenbach, und dahin führt nun auch der E1. Von Nieder... zu Ober... geht es erwartungsgemäß wieder bergauf, diesmal aber nicht so quälend. Außerdem ist nach zweieinhalb Stunden Gehzeit eine Rast angesagt und eine wohlpositionierte Bank in der Sonne lädt mich ein. Ich ziehe die Schuhe aus und gönne auch meinen Füßen die Sonne, schließlich muss ich sie mir als gute Freunde bewahren. Als Draufgabe lege ich sie auch noch auf die Packtasche meines Wheelies und spüre förmlich, wie sie aufatmen. Sie müssen viel leisten, also muss ich ihnen auch mal was gönnen.

   Gemütlich lehne ich mich zurück, nehme einen Schluck aus der Pulle, atme tief durch und schließe die Augen. Meine Gedanken schwirren zum Horizont und wieder zurück: Das Loslassen und Alleinsein macht mir jetzt nichts mehr aus. Ich sehe meinen eigenen Weg nun als einen langen “Fluss“, auf dem es einfach immer weitergeht, ohne dass ich mir irgendwelche größeren Sorgen machen müsste. Es “fließt“ alles dahin und ich sauge jede einzelne Sekunde in mich auf. Ich kann genießen und abschalten. Mein Lebensfluss fließt. Natürlich ist er auch vor meinem Jakobsweg und vor diesem Weg nach Rom geflossen. Ich beginne aber ganz deutlich, den Unterschied zu spüren. Früher war dieser Fluss etwas, was mich mitgespült hat. Während ich gegen die “Stromschnellen“ gekämpft habe, war oft keine Zeit, den Moment zu genießen. Jetzt beginnt dieser Fluss ruhig zu werden. Meine “lichten Momente“ sind wie Spiegelungen an der Wasseroberfläche, die ich nun in aller Ruhe beobachten kann. Ich bemerke nun ganz bewusst, wo ich gerade bin und kann mich ganz ruhig dahintreiben lassen. Ich habe Zeit, die Gegenwart zu studieren. Und vielleicht ist nun das Wandern dem Meditieren ganz nahe. Dieser ausgeglichene Zustand verschafft mir eine prall gefüllte Welt der Eindrücke und Gefühle. Nichts ist mehr eintönig. Alles ist bunt, schön und jeder einzelne Schritt geht nach vorne.

   In Steinklingen sehe ich zum wiederholten Mal eine kleine Figur auf einem Dachfirst stehen, einen niedlichen Schlafwandler. In den letzten Tagen habe ich ihn schon öfter gesehen. Möglicherweise gab es ihn irgendwann einmal in einer Baumarktkette im Sonderangebot. Und trotzdem hat er all meine Sympathien. Wie er so als Sinnbild des deutschen Michels im Nachthemd und mit Schlafmütze, das Gesicht gen Himmel gereckt und beide Hände nach vorne gestreckt, über den First balanciert - herzallerliebst. Ihm darf einfach nichts passieren!

   Ab Steinklingen gesellt sich ein Ehepaar zu mir und begleitet mich für etwa zwei Kilometer. Sie sind von zu Hause geflüchtet, weil ihr Nachbar mit schweren Maschinen viel Erde bewegt und der Lärm kaum zu ertragen ist. So kann man es machen: Mit dem Nachbarn Krach anfangen, obwohl der ja nun auch nichts dafür kann, oder man geht für ein paar Stunden spazieren und entzieht sich so dem Lärm. Sie fragen mir Löcher in den Bauch, aber das kenne ich ja nun inzwischen. Irgendwann werden der Mann und ich voneinander gewahr, dass wir beide Lehrer an Grund- und Hauptschulen waren und beide nun den Ruhestand genießen, jeder auf seine Art. Als sie bei einem Restaurant einkehren, habe ich nur noch zwei weitere Kilometer vor mir.

   Meine Pension Sonnenhügel in Wilhelmsfeld liegt alles andere als am Weg. Als ich vom E1 in die Bergstraße abbiege, zieht sich diese endlos. Die Wirtin (ihrer Aussage nach ist sie 75) betrachtet mich bzw. meinen Wheelie skeptisch. “So wandert man also heute...“ und gibt mir den Zimmerschlüssel. In ihrer Zeit wanderte man noch mit Rucksäcken, und die sahen aus wie Kartoffelsäcke.

 

 Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmcXNNaG9ZdUZiSDQ/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Barbara Große (Mittwoch, 02 April 2014 22:31)

    Hallo Reinhard,
    bin heute endlich mal dazu gekommen deine ganzen letzten Tage zu verfolgen. Über den Pfau musste ich sehr lachen und gab ihn laut zum Besten.Noch größer wurde der Lacher als Moritz fragte warum die FRAU das gemacht hat!!!Man sollte seiner Mutter zuhören.
    Ansonsten stelle ich fest, dass du so alleine doch sehr sinnierend und gefühlvoll wirst. Es heißt doch immer, dass Rentner VIEL Zeit haben,gelle!
    Aber deine neue Gelassenheit lässt mich auch hoffen, dass Veronika in diesem Jahr bei ihrem Wanderbesuch liebevoller und rücksichtsvoller behandelt wird, damit sie nicht so lange Nachwehen hat wie im letzten Jahr!
    Wenn du so viel Zeit hast kannst DU ihr ja in diesem Jahr die Ostereier verstecken.
    Ich wünsche dir weiter schönes Wetter, nicht zu steile Berge und nette Begegnungen!
    Man sieht sich!
    Barbara

  • #2

    Der Kronprinz (Donnerstag, 03 April 2014 17:45)

    Freut mich sehr dass du das alles so genießt. Aber: Eichelberg... Hihihi! GO Wanderer GO!!!

  • #3

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 03 April 2014 21:18)

    Schön, dann hat dir ja doch noch eine barmherzige Schnecke deine Makroaufnahme emöglicht. Wo Sira dir doch die letzte versaut hat...


Translation: