Frustzanken

Bammental - Mühlhausen (20 km)

   Im Frühstücksraum vom Hotel Elsenztal sitzen schon vier Männer und kauen sprachlos ihre Brötchen. Solange ich unterwegs bin, habe ich noch nicht ein Mal Urlauber beim Frühstück sitzen sehen. Immer waren es Monteure, Handelsvertreter o.ä., die entweder alleine ihren Geschäften nachgehen oder gleich wieder schwer arbeiten müssen. Dann spricht man nicht gern. Noch ist keine Urlaubszeit. Ich denke, wenn ich den Schwarzwald erreiche oder die Osterferien näherkommen, wird das anders.

   Bammental liegt in einer Senke, aus der ich heute Morgen erst mal heraus muss. Langgezogen führt eine schmale Straße auf die Höhe und ich stampfe sie hoch, um es schnell hinter mich zu bringen. Vor mir geht eine junge Mutter, mit der linken Hand einen leeren Kinderwagen schiebend, mit der rechten einen größeren Hund an der Leine führend. Allerdings weiß ich nicht so genau, wer wen führt, sie den Hund oder der Hund sie. Das Kleinkind, das wohl noch nicht lange in der Lage ist, selbstständig zu gehen, trippelt hinterher und trägt einen kleinen Ball. Als es sich zufällig umdreht und mich kommen sieht, wirft es vor Schreck den Ball weg, der sich daraufhin in Bewegung setzt und den Berg hinunterrollt. Kind schreit und rennt zur Mama, Hund bellt wie verrückt und zerrt an der Leine. Kind klammert sich ans Bein von Mama, und da der Hund in meine Richtung zerrt und kläfft, wird Mama um den sicheren Stand gebracht. Ich will nett sein, stoppe den mir entgegenrollenden Ball und hebe ihn auf. Alles wird noch schlimmer. Kind schreit lauter und tritt Mama gegen die Beine, Hund dreht fast durch, weil da jemand den Spielball (vom Kind oder vom Hund?) klauen will, und zerrt Frauchen fast zu Boden. Als ich die drei erreiche, ist es mir unmöglich, der Frau oder dem Kind den Ball zu übergeben. Der Hund hätte mich zerrissen. Ich versuche mich in der Sportart, die ich nie so recht beherrscht habe: Basketball. Ich nehme mit zittriger Hand Maß, werfe... und treffe in den Kinderwagen. Hätte das nicht geklappt, wäre der Ball wohl wieder den Berg runtergerollt. Das Kind schreit weiter, der Hund bellt weiter, die junge Frau bringt nur, sichtlich genervt, ein “Vielen Dank“ heraus. Schnell ziehe ich weiter und nur langsam wird es hinter mir ruhiger.

   Die heutige Etappe ist so ganz anders als die gestrige. Gestern ging es nahezu ausnahmslos durch wunderbaren Hochwald nur bergab (dank Bergbahn!). Heute blicke ich rundherum über offenes, nur noch leicht hügeliges Land, über frisch gepflügte und geeggte Äcker. Streuobstwiesen mit ihren blühenden Bäumen gehören genauso dazu wie kleine Wäldchen, die ich in einer Viertelstunde durchschritten habe. Das ist typisch Kraichgau.

   Viele große Bauernhöfe liegen versprenkelt in der Landschaft. Neben dem Ackerbau betreiben sie Rinderzucht, Geflügelzucht, halten einige Pferde. Beim Kramerhof fällt mir aber was anderes auf. In die Steinmauer zum Hof sind Grabsteine eingefasst, offensichtlich von Gräbern der Vorgängergenerationen. Auf dem Friedhof wurden wohl die Gräber irgendwann eingeebnet und der jetzige Bauer wollte die Erinnerung an seine Vorfahren auch weiterhin bewahren. So ließ er die Grabsteine eben in seine Hofmauer ein. Der Text eines schwarzen Grabkreuzes bewegt mich. Unter den Namen des verstorbenen Ehepaares steht: “Tausende km hinter dem Pflug - Tausende km bei der Wehrmacht - Tausende km in der Gefangenschaft - und Tausende km für diesen Hof - oft nahe am Ende - nach tiefstem Tief noch ein Anfang - doch alles geht den einen Weg - den Weg des Werdens und Wandelns“. Was hatten diese Menschen für ein Leben? Ein Buch reicht nicht aus, um darüber zu berichten.

   Bei einer netten Sitzgruppe auf einer Anhöhe lasse ich mich nieder und nehme den Kraichgau-Blick in mich auf. Neben dem Braun der Äcker, dem Grün der Wiesen und Wälder, dem Weiß und Zartrosa der blühenden Bäume, kommt nun immer öfter eine weitere Farbe flächendeckend ins Spiel. In jeder Himmelsrichtung, weiter hinten, mehrere Streifen Raps. Ihr Gelb leuchtet in der Sonne, als hätte jemand mit einem Neonstift Striche durch die Landschaft gezogen. Von einem nicht weit entfernten kleinen Hof klingen Kinderstimmen zu mir hoch, dazu Hundegebell, fröhlich alles zusammen, als würden Kinder und Hund miteinander spielen. Über mir schmettert eine Lerche ihren aufgeregten Gesang, flattert herum, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Ich pfeife und sie schießt davon.

   Kurz darauf unterquere ich die Autobahn Richtung Heilbronn und muss für etwa zwei Kilometer durch einen kleinen Wald an ihr entlanggehen. Was vorhin noch Ruhe und Beschaulichkeit war, ist jetzt ein einziges Rauschen, laut, aufdringlich. Ich höre meine Schritte, meinen Atem, das Rollen der Wheelieräder nicht mehr. Ich bewege mich in einem Meer von permanent an- und abschwellendem Rauschen. Es stört mich nicht, schon gleich wird es wieder anders sein.

   Vor mir auf dem Weg kommt ein Geländewagen ins Blickfeld. Zwei Männer dreschen mit ihren schweren Äxten auf ca. ein Meter lange Buchenstämme ein, zerlegen sie kamingerecht und werfen die Scheite anschließend in einen kleinen Hänger. Als sie mich kommen sehen, halten sie einen Moment inne, damit ich gefahrlos vorbei kann. “Der nächste Winter kommt bestimmt!“ rufe ich und erkenne sofort, dass das nicht unbedingt ein sehr sinniger Kommentar war. Die Männer lachen gequält und nehmen sich das nächste Stück Buche vor.

   Noch bevor ich mich dem Windhof nähere, frage ich mich, wo hier eigentlich die Hofhunde sind. In einigen Landstrichen, durch die ich bereits gegangen bin, gehörten sie ganz selbstverständlich dazu. Entweder lagen sie vor ihren Hundehütten, beäugten den Vorbeiziehenden kritisch und hielten es meistens nicht für lohnenswert, Krawall zu schlagen. Andere schlugen den sehrwohl, wurden aber meist durch Eisengitter oder Maschendrahtzaun im Zaum gehalten, ganz in meinem Sinne. Dann gab es noch die, die frei herumliefen und mir mit Gebell deutlich machten, wo die Reviergrenzen sind. Seit Beginn des Odenwaldes habe ich keine Hofhunde mehr gesehen oder gehört.

   Aber irgendwann ist doch immer das erste Mal. Als ich mich dem Hofeingang nähere, fliegt mir ein schwarzer Riesenschnauzer entgegen. Er stellt sich mir in den Weg, bellt und zeigt die Zähne und weckt in mir überhaupt nicht das Verlangen, den Helden zu spielen. Ich stehe wie das Bronzedenkmal des einsamen Wanderers, vermeide Augenkontakt, auch wenn es mir schwerfällt. Die Bäuerin ruft etwas so schnell von der Haustür in ihrem Dialekt, dass ich außer den Kommas überhaupt nichts verstehe, und erst der hinzueilende Bauer jagt ihn erfolgreich davon. Auf diese Weise erniedrigt, sitzt der Frust bei Bronko tief. Mit einem gewaltigen Satz springt er über einen Zaun und landet bei einem stattlichen Ziegenbock im Pferch. Vielleicht sind die beiden im Normalfall ganz gute Freunde, jetzt ist das aber anders. Nach dem von ihm vielleicht so empfunden Gesichtsverlust bei mir, hat der Köter es nun auf die lustvoll frei baumelnden Hoden des Bocks abgesehen, kommt aber nicht recht zur erfolgreichen Attacke. Der Bock boxt ihm in die Flanke und Bronko fliegt heulend etwa zwei Meter durch die Luft, kneift darob den Schwanz ein und nimmt sich eine Auszeit, indem er sich hinlegt und so etwas wie toter Mann spielt. Der Bock akzeptiert, dass er gewonnen hat und guckt den Daniederliegenden an, als wolle er sagen: “Was willst du denn von mir? Spinnst du?“ Der Bauer holt den Verlierer aus dem Pferch, und Bronko schleicht mit hängenden Ohren und mucksmäuschenstill davon. Merke: Lass deinen heiligen Zorn niemals an Unschuldigen aus.

   Wenig später säumen Rebstöcke meinen Weg, lange nicht in dem Ausmaß, wie an Rhein, Mosel, Ahr oder Nahe, aber immerhin. In Mühlhausen treffe ich auf die Badische Weinstraße und übernachte sogar auf einem kleinen Weingut. Heute bin ich früh dran und kann mir auf dem Zimmer ein kleines Nickerchen leisten. Als ich wieder wach werde, grummelt es draußen, dann blitzt und donnert es. Regen setzt ein, nicht lange, aber heftig. War es das jetzt mit dem schönen Wetter?

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmeExfVTdHWXktT3c/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Wilf (Sonntag, 06 April 2014 21:43)

    Schon seit langem habe ich nichts mehr so spannendes gelesen.

  • #2

    Der Kronprinz (Montag, 07 April 2014 09:42)

    Das kannst du ja froh sein, dass es nur die Hoden des Bocks waren...


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