Ehrenrunde in Trance

Mühlhausen - Kraichtal-Gochsheim (24 km)

   Erstmals schaue ich heute Morgen vom Fenster meines Zimmers nicht in einen mehr oder weniger blauen Himmel. In den letzten drei Tagen hatte sich die Sonne in der Frühe zwar hinter der ein oder anderen Wolke versteckt, ich konnte aber erwarten, dass sie sich im Laufe des Tages durchsetzen würde. So war es dann ja auch immer. Aber nach dem Gewitter am gestrigen Abend und dem Regen in der Nacht, sieht es draußen nicht gerade erfolgsversprechend aus, alles ist grau in grau.

   Als ich zum Frühstück in den Gastraum meiner Unterkunft komme, bin ich etwas irritiert. Ein älterer Mann sitzt an einem Tisch in der Nähe der Theke, schlürft seinen Kaffee und schaut dabei unverwandt auf ein großes Bild mit der Muttergottes, das er sich gegenüber von seinem Sitzplatz jenseits des Tisches auf zwei Stühle gestellt hat. Die ältere Bedienung, die sich mir gestern Abend als die Schwester der Wirtin vorgestellt hatte, kommt aus der Küche und bringt mir Kaffee und einen Teller mit Rühreiern. Nach ihrer Frage, ob ich sonst noch einen Wunsch hätte und ich verneine, setzt sie sich neben den Mann und beide beginnen ihr gemeinsames Frühstück - nicht ohne vorher laut und vernehmlich und längere Zeit miteinander gemeinsam zu beten. Nun soll es jeder mit dem Beten halten wie er es mag, aber im Gastraum eines Hotels in Anwesenheit von anderen Gästen, ist zumindest etwas ungewöhnlich. Während ihres (und meines) Frühstücks, unterhalten sie sich - weiterhin laut - über Glaubensfragen, allerdings über solche, bei denen ich mir überlege, ob die beiden im richtigen Jahrhundert leben. Etwa zwanzig Minuten später, beim Bezahlen meiner Übernachtungskosten, spricht sie mich direkt an: “Sind Sie katholisch oder evangelisch?“ Bei meiner Antwort, ich sei Christ, flattern für einen Moment ihre Augenlider. “Was halten Sie denn von unserem neuen Papst Franziskus?“ Dabei fixiert sie mich stahlhart mit ihren stechenden Augen. Ich bemerke, dass jeder, der jetzt über Franziskus urteile, so oder so, lieber noch etwas damit warten solle. Er sei gerade mal ein Jahr im Amt, und Worte wären das eine, Taten das andere. Diese Antwort befriedigt sie wohl nicht ganz, deshalb gibt es jetzt ordentlich was um die Ohren. Ich höre die krudesten Abhandlungen über Abtreibung, Homo-Ehe, Zölibat, Fegefeuer, himmlisches Paradies, Reformtheologen usw., usw., dass ich innerlich nur mit den Ohren schlackern kann. Je öfter ich meine ganz bescheidene Meinung einzubringen versuche, desto mehr stehe ich auf verlorenem Posten. Irgendwann merke ich, dass ich hier vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt wurde und trete den Rückzug an.

   Das Wetter hat sich mittlerweile adäquat zu dem vorhin Erlebten entwickelt. Als ich die Unterkunft verlasse, ist das Grau am Himmel noch eine Spur grauer geworden und just beginnt es, in dünnen Bindfäden zu regnen. Zunächst hoffe ich, dass Anorak und Hut ausreichend der Feuchtigkeit trotzen, aber kurz vor Östringen muss ich diese Hoffnung aufgeben und meinen Schirm zücken.

   Das Wetter wird nun eher wie Karfreitag und Totensonntag zusammen. Es hat sich endgültig eingeregnet. Am besten, denke ich, läufst du dich jetzt in Trance, fährst alle Empfindungen herunter, nimmst die Nässe, wie sie kommt, vermeidest jeden Gedanken, lässt die Umwelt verschwimmen hinter den bedröppelten und beschlagenen Brillengläsern und gehst einfach geradeaus.

   Das sollte man aber in einem etwas größeren Ort mit einigen Abzweigung möglichst alles unterlassen! Besonders wenn die Markierung in einem Ort so angelegt ist, dass man bei einer kleinen Unaufmerksamkeit Gefahr läuft, für eine Weile komplett im Kreis zu laufen. Erst als eine große Straße, ein Sportplatz und ein Wald auf einmal da sind, wo sie eigentlich überhaupt nichts zu suchen haben, hole ich mich aus der Trance zurück und bemühe verschärft das mir zur Verfügung stehende Kartenmaterial. Im Zusammenspiel mit meinem neuen Freund, dem Handynavi, finde ich den Punkt zurück, an dem ich bereits vor ca. einer halben Stunde sein wollte. Ich bin piefig!

   Durch tiefe Hohlwege gehe ich nun Odenheim entgegen. Bei dieser Art von Wegen, bei denen man außer Erdwällen, Bäumen und Büschen links und rechts nichts sieht, muss ich immer an “Wilhelm Tell“ denken. “Durch diese hohle Gasse muss er kommen, es führt kein andrer Weg nach Küßnacht hin.“ Naaa? Wer sagte diesen bedeutungsschweren Satz in dem Klassiker, an dem viele junge Menschen meiner Generation nicht vorbeikamen?  Glücklicherweise hört der Regen auf, sonst wäre es in den Hohlwegen noch düsterer geworden.

   In Odenheim ist Rasten angesagt. Über drei Stunden bin ich jetzt schon auf den Beinen. Das erste Mal muss ich für mein Plätzchen auf einer Bank in einer kleinen Grünanlage meine Sitzunterlage aus dem Tagesrucksack holen. Die Bank ist noch kalt und feucht. Mein Proviantbrötchen ist noch nicht dran, dafür zücke ich mein Handy. Basti hat heute Geburtstag. Er ist der erste, dessen Geburtstag ich nicht zu Hause mitfeiern kann, andere werden noch folgen. Aber ich habe es mir ja so ausgesucht. Als ich ihn auf der anderen Seite der Leitung höre, ist er gerade beim Einkaufen, die Restfamilie hat sich zur Feier angekündigt. Ich gratuliere von Herzen und wir reden eine kleine Weile.

   Hier nun fünf Sätze für die Bildung (stehen auf einer Tafel neben der Bank!): Odenheim ist eine Gründung der Franken... Neben Land- und Forstwirtschaft war das Steinhauerhandwerk über Jahrhunderte wichtigster Erwerbszweig. Über 30 Sandstein-Steinbrüche gibt es rundum. Mehrere unterschiedliche Sandsteinarten waren wegen der feinen Körnung, Härte und Farbnuancen früher sehr begehrt. Das berühmteste Bauwerk, bei dessen umfangreicher Umgestaltung im 19. Jahrhundert heller Odenheimer Sandstein verwendet wurde, war der Speyerer Dom.

   Gegen 15 Uhr wollte ich heute am Ziel in Gochsheim sein. Wegen meiner Ehrenrunde in Östringen wohl nicht mehr zu schaffen. Trotzdem ziehen die nächsten Kilometer recht zügig an mir vorbei. Auf der letzten Höhe liegen ein größeres Motorsportgelände und ein Modellflugplatz in trauter Nachbarschaft nebeneinander. Im Moment liegt alles ruhig da, trotz Samstag. Aber vielleicht ist noch keine “Saison“.

  Dann geht es abwärts, drei Kilometer lang, Gochsheim liegt im Tal. Meine Füße sind gut in Form, mein Wheelie schnurrt zufrieden hinter mir her, und als ich an meiner Unterkunft “Zur Stadtschänke“ in Gochsheim ankomme, ist es punkt 15 Uhr. Geht doch!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmUVJYUTNhSmFQSDQ/

 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Renate (Sonntag, 06 April 2014 16:00)

    Ach - Herr Lehrer:
    Wilhelm Tell sagt es, als er Gessler auflauert.
    Wie schön, dass du täglich an unsere Bildung denkst :)

    Liebe Grüße aus Much (ohne hohle Gassen)
    Renate

  • #2

    Lore (Sonntag, 06 April 2014 20:02)

    Das hätt ich mir natürlich auch ergooglen können ;-)

    Nee, ist wirklich schön, was Du immer so schreibst. Peter sagte jetzt noch, dass Du ein richtig guter Deutschlehrer gewesen sein musst, weil Du so wunderbar erzählen kannst. Und weißt Du was? Es wäre bestimmt lustig gewesen, Du hättest von den Wanderwochen mit uns, z.B. dem 66-Seen-Weg, auch jeden Tag einen Blogeintrag geschrieben. Wären bestimmt lustige Sachen dabei raus gekommen.

    Aus Lohmar alles Gute weiterhin
    Lore

  • #3

    wilf (Sonntag, 06 April 2014 21:54)

    den Tell kenne ich als Schweizer natürlich gut.
    Zu dir, Alleinwanderer, würde dieser Tell-Spruch auch passen: "Der Starke ist am mächtigsten allein."
    Viel Glück auf deinen Wegen!

  • #4

    Der Kronprinz (Dienstag, 08 April 2014 10:05)

    In Rente und immer noch klugsch...


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