Ja, ja... damals...

Pforzheim/Weißenstein - Dobel (25 km)

   Ich bin entzückt, dass die Jugendherberge in Weißenstein einen Aufzug hat. Das war gestern schon angenehm, als ich ankam. Kein Rückwärts-die-Treppe-hochgehen und den Wheelie zum Abschluss des Wandertages in das zweite Stockwerk hochziehen, heute Morgen nicht damit herunterpoltern. In der Jugendherberge ist es genauso ruhig wie gestern im Hirsch, nur eine Frau, die normalerweise in der Küche arbeitet, sitzt an der Rezeption. Wo sind die Wanderer, die in den Jugendherbergen übernachten? Wo sind die Kinder auf Klassenfahrt?

   Das Wetter ist so, wie die Vorhersage es androhte: Draußen sieht es aus, als wäre es noch zwei Stunden früher. Die schwarzen Wolken lassen kaum Licht in den Tagesraum fallen und ich warte nur darauf, dass sie gleich jede Menge Regen schicken. Sie warten aber damit, bis ich vor der Tür stehe, dann wird es richtig feucht. Egal, sage ich mir, die Vorhersage kündigt an, dass es gegen Mittag besser wird und darauf vertraue ich.

   Die ersten eineinhalb Kilometer tappe ich unter meinem Regenschirm auf einer engen Straße dahin, immer wieder von vorbeifahrenden Autos, die ihre Scheinwerfer eingeschaltet haben, mit einer Ladung Spritzwasser versorgt. Grauschwarze Wolkensträhnen verhüllen doppelt und dreifach die Sonne, reiben sich links und rechts an den Hängen. Die finstere Stimmung drückt auf mein Gemüt und ich trotte dahin. Lange genug habe ich witterungsmäßig Sahne geleckt, jetzt sind auch mal die Bittermandeln dran.

   Nach zwanzig Minuten sehe ich die rote Raute an einem Laternenmast, jetzt bin ich wieder auf Kurs. Der Westweg zeigt sich zunächst versöhnlich, er will mich nicht gleich kraxeln lassen. Mit dem Regenschirm in der Hand macht das auch nicht so richtig Spaß. Auf einem breiten Waldweg geht es sogar bergab ins Enztal hinunter. Kurz bevor ich unten bin, steht neben dem Weg ein markanter großer Stein, von der Stadt Pforzheim hier aufgestellt, um an die mächtigste Naturgewalt zu erinnern, die in den letzten Jahrzehnten hier bzw. im Schwarzwald gewütet hat, der Tornado Lothar. Am 10. Juli 1968, gegen 21.30 Uhr, richtete er so große Verwüstungen an, wie sie in Europa äußerst selten sind. Die Verwüstungszone war 500 Meter breit, in Frankreich 60 Kilometer, in Deutschland 35 Kilometer lang. Den Rheingraben übersprang der Wirbelsturm und tobte sich nur in den Vogesen und im Schwarzwald aus. Wahrscheinlich kann man von Glück sagen, dass Lothar am späten Abend übers Land zog, als sich keine Wanderer oder Ausflügler in den Wäldern befanden, sonst hätte es zusätzlich zu den Tausenden von Hektar zerstörtem Wald auch noch Tote gegeben.

   Es regnet immer noch in Strömen und der dunkle Wald passt zur Stimmung. Jetzt liegt er vor und hinter, links und rechts neben und über mir: “silva nigra“, der schwarze Wald der Römer. Sie gaben ihm aber seinerzeit nicht den Namen wegen der “schwarzen Bäume“, der dunklen Tannen, sondern wegen der dunklen, bedrohlich erscheinenden Schluchten und Täler, in die sie hinunterblickten, wenn sie über die Höhen zogen. Eines dieser dunklen Täler war das enge Tal der jungen Enz, dem ich nun für etwa eine Stunde auf einem breiten Radweg folge.

   Über dicke Flusssteine stürzt mir die Enz eine Weile lang entgegen und unzählige davon liegen, dick bemoost, zu beiden Seiten an ihrem Ufer. Durch das Rauschen des kleinen Flusses bemerke ich gar nicht, dass kein Regen mehr auf meinen Schirm prasselt. Erst als es merklich heller wird, werde ich darauf aufmerksam und klappe meinen Schirm zu.

   Mein Wanderführer und auch die Hinweisschilder am Wegrand kündigen die Grösselbachfurt an, wo ein Bach auf Trittsteinen zu überqueren ist. Das will ich ja auch gerne tun, aber was mach ich mit Wanderfreund Wheelie? Ihn für die paar Trittsteine auf den Rücken schnallen oder ihn vor mir her tragend über den Bach balancieren? Oder einfach Trittsteine Trittsteine sein lassen und “Augen zu und durch“? Wie seinerzeit in Skandinavien? Als ich an der Furt ankomme, ist alles ganz einfach. Ich schnalle ab, gehe selbst über die Trittsteine und ziehe den Wheelie neben mir her durchs Wasser. Man kann sich aber auch 'nen Kopp machen!

   Kurz vor Neuenbürg ist meine Schonzeit für heute vorbei. Der Enztalradweg endet - und ich übersehe eine wichtige Markierung. Ehe ich merke, dass ich nicht mehr auf dem Westweg bin, stehe ich auf der Hauptstraße von Neuenbürg. Aus Sorge, den richtigen Einstieg nach oben zu verpassen, dort, wo der Westweg aus dem Enztal hinaus sich auf die Höhe schraubt, gehe ich wieder zurück und suche den übersehenen Abzweig. Der ist auch schnell gefunden - er geht 55 Stufen hoch. (Irgendwie ist das ein Tick von mir, ich muss immer Stufen zählen.) Das ist noch nicht alles! Immer höher geht es rauf! Ich dachte, ich müsste ins Ortszentrum von Neuenbürg!? Auch wenn die Temperaturen nach dem Regen im Gegensatz zu gestern und den letzten Tagen bemerkenswert in den Keller gefallen sind, dampft mir jetzt wieder der Kittel. Als ich endlich oben bin, wird mir alles klar. Der Schwarzwaldverein hat mich noch auf Sightseeingtour geschickt. Durch eine kleine Toröffnung betrete ich die Burgruine Neuenbürg, komme dann an ihrem Nachfolgebau, dem Neuenbürger Schloss, vorbei und gehe zum Schluss, wegen des rutschigen Sandstein-Kopfsteinpflasters vorsichtig Schritt für Schritt setzend und die rechte Hand immer an der Wheelie-Handbremse, die steile Schlosssteige hinunter bis in den Ort. Und was soll ich sagen? Etwa 100 Meter von dem Punkt entfernt, an dem ich vor etwa einer Dreiviertelstunde schon mal war, komme ich raus. Herzlichen Glückwunsch! Sooo 'ne tolle Nummer war das da oben auch nicht.

   Dafür habe ich aber den gesicherten Einstieg in die nächste Bergwertung. Noch im Ort geht die Straße so steil nach oben, dass es mir ein Rätsel ist, wie die Autos hier bei Schnee hochkommen oder wie die Handbremsen halten. Weiter oben, wo die Bebauung endet und die Straße in einen Geröllweg übergeht, wird es erst recht kritisch. Ich rutsche mehr zurück, als dass ich hochkomme. Ja, ja, Westweg, jetzt hast du mich wieder an den Hammelbeinen!

   Ist das jetzt positiv oder negativ? Die Sonne kommt wieder raus und heizt mir zusätzlich ein. Doch langsam, sehr langsam wird der Weg weniger steil, der Wheelie hinter mir wird wieder leichter. Am südlichen Ortsrand von Straubenhard komme ich aus dem Wald raus - und habe plötzlich Blicke zum Blödewerden. Der Regen hat die Luft reingewaschen, die schwarzen Regenwolken sind weg und wurden ersetzt durch lockere Bewölkung, die ein recht strammer Wind vor sich herjagt. Im Norden sehe ich die Wald- und Hügellandschaft von Odenwald und Kraichgau, im Nordwesten die Rheinebene und über sie hinweg sogar die Berge des Pfälzer Waldes. Ich setze mich in die Schutzhütte am kleinen Aussichtsturm Schwanner Warte, in der es etwas windgeschützt ist, und genieße diesen Ausblick.

   Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Genau hier habe ich schonmal gesessen! Nicht genau hier in dieser Schutzhütte, sondern gegenüber an einer Bierzeltgarnitur unter einem Sonnenschirm. Mein Freund Holger und ich hatten damals gerade, vor fast 35 Jahren, am Anfang der Sommerferien die Westweg-Etappe im Rahmen unserer E1-Wanderung begonnen. Wir kamen hier an der Schwanner Warte vorbei und der Schwarzwaldverein, der den Aussichtsturm betreibt, feierte gerade ein Fest. Es war heiß und die Stimmung höchst ausgelassen. Wir beiden jungen Kerle wurden herangewinkt und zu einem Bier eingeladen. Aus einem Bier wurden mehrere, ab und zu noch verlängert durch den ein oder anderen Obstler. Alkohol und Sonne taten ihre verhängnisvolle Wirkung. Schemenhaft erinnere ich mich noch an die weiteren Kilometer bis Dobel und ich weiß auch, dass ich am nächsten Morgen dort in einer Pension aufgewacht bin, aber zwischenzeitlich gibt es sehr viel undurchdringlichen Nebel.

   Ich erwachte jedenfalls mit einem entsetzlich dicken Kopf. Mein Mund war so trocken wie Gandhis Sandalen, und ich hatte Sehstörungen. Es war hell, furchtbar hell, und das Zimmer drehte sich bedenklich. Als ich mich zufällig im Spiegel entdeckte, bekam ich einen Schreck. Hatte ich gestern einen Unfall? - Aber das war vor 35 Jahren, sowas würde mir natürlich heutzutage nieeee mehr passieren. Ich muss laut auflachen, als ich bei meiner Rast in der Schutzhütte an diese Begebenheit von damals denke. Gut gelaunt ziehe ich weiter.

   Leider bin ich immer noch nicht ganz oben. Ich kann zwar ein gutes Tempo beibehalten, aber es geht schon noch immer weiter hoch. An der Schutzhütte am Dreimarkstein kommt es zu einer Premiere. Das erste Mal auf meiner gesamten Strecke treffe ich auf Wanderer, richtiger: auf zwei Wanderinnen. Eine Frau Mitte 40 und ihre Mutter, Anfang 70, wagen sich, ohne vorherige Wandererfahrung, an den Westweg. Aber sie sind vernünftig. Sie gehen jetzt nur etwa die Hälfte bis Freudenstadt und machen jeden Tag auch nur eine halbe Etappe. Gestern ging es von Pforzheim bis nach Neuenbürg, heute bis Dobel. Wenn alles klappt, wollen sie sich im Herbst an der zweiten Hälfte versuchen. Sie sind guter Dinge und ich glaube, sie schaffen das.

   Noch eine Premiere: Nach meiner Ankunft in Dobel, finde ich auf meinem Zimmer in der Pension Beck einen kleinen Heißwasserkocher, eine Tasse und Kaffeepulver vor. “A warm welcome“ nennt man das in England, Schottland oder Irland. Auf meinem bisherigen Weg habe ich das noch nicht erlebt. Einen Riesenpluspunkt für die Pension Beck!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmZElNcUQ0b3NvYmM/

 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 09 April 2014 07:57)

    Tja, da lernt der Vatter doch noch was! Auch wenn es für dich unglaublich ist: Es gibt auch Autos, die haben Handbremsen, die tatsächlich tun, was der Name verspricht; BREMSEN! Ich weiß, kannste dir kaum vorstellen, weil das bei unseren Mühlen selten der Fall war, aber sie existieren wirklich!

    Und zum Thema "Alkoholabstürze können mir nicht mehr passieren!": Ich sag nur Beluno, ich sag nur Prosecco, ich sag nur Johann, Nanni, Christoph, Yannik, du und ich und ich zitiere deinen Kommentar am folgenden Morgen: "Mich ham se verhauen!"

    Und für einen vorbeigehenden Spaziergänger stelle ich mir das wirklich interessant vor, wenn man dieses kleine Hutzelmännchen mit seinem Rangerhut, seinen roten Gamaschen und seinem übergroßen Einkaufstrolley in einer Schutzhütte sitzen und aus dem Nichts plötzlich laut loslachen sieht...

  • #2

    Der Kronprinz (Mittwoch, 09 April 2014 14:34)

    Orkan Lorhar war aber im Dezember 98. hah! Klugscheißen kann ich auch...

  • #3

    Barbara Grosse (Mittwoch, 09 April 2014 17:59)

    Bei so Kommentaren kann ich das Nachgucken ja nicht lassen!
    Und das ebenfalls klugscheissen auch nicht:
    Der Tornado Lothar war 68 und der Orkan oder auch als Wintersturm geführte Lothar war Dezember 99!!!
    Sorry, musste sein!!!
    Weiterhin viele sturmfreie Kilometer!!!
    Barbara

  • #4

    Lore (Donnerstag, 10 April 2014 10:48)

    Ach, ist doch die Kommentar-Funktion was Schönes!
    Mindestens ebenso interessant wie Reinhards Berichte...

    Gruß an alle fleißigen Kommentatoren!
    Lore


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