Königsetappe

Unterstmatt/Ochsenstall - Zuflucht (23 km)

   “In den nächsten Tagen wird's voller hier in der Gegend, nicht nur am Wochenende. Ab Montag bin ich ausgebucht“, erklärt mir morgens beim Frühstück die junge Wirtin. Die Ruhe hier am Ochsenstall ist dann wohl vorbei. Ich habe sie und die Abendsonne gestern draußen im Biergarten noch richtig genossen. Nur Roxi, die junge Schäferhundhündin des Hauses spielte mit einem Stammgast des Hauses Stöckchenfangen. Sie machte das aber sehr rationell. Sie rannte nicht nur für EIN Stöckchen, sondern sammelte auf dem Weg jedesmal so sechs bis sieben in ihrem Maul und legte sie dann ihrem menschlichen Spielkameraden vor die Füße. Also ich denke, um Anmachholz braucht sich der Ochsenstall keine Gedanken zu machen, da sorgt Roxi schon für.

   Als ich mich nach dem Frühstück auf den Weg mache, rennt Roxi schon wieder draußen rum - und hat das Maul voll Stöckchen. Sie guckt mich fragend an, ob ich nicht eventuell Spaß an einem Spielchen hätte. Als ich ihrem Wunsch nicht nachkomme, wendet sie sich beleidigt ab und rennt ins Haus, Brennholz wegbringen. Ich könnte mich wegschmeißen.

   Zum Wetter sage ich jetzt gar nichts mehr. Gibt es morgens noch was anderes als Sonne und blauen Himmel? Die Frage ist nur immer, gehe ich direkt im T-Shirt los oder lass ich die Fleecejacke noch an. Im Schatten des Waldes ist es morgens frisch, aber der nächste Aufstieg kommt bestimmt. Und hinter dem Ochsenstall kommt er direkt - rauf zur Hornisgrinde.

   Die Hornisgrinde ist der höchste Berg des Nordschwarzwalds und damit kraxel ich das erstemal über die 1.000-Meter-Marke, genauer gesagt sogar auf stolze 1.164 m ü. NN. Schon aus der Ferne konnte ich ihn bereits gestern durch den mächtigen, 206 m hohen (!) Fernsehturm lokalisieren. Der Name rührt vermutlich vom lateinischen “mons grinto“ her, das bedeutet “sumpfiger Kopf“. Auf der Hochfläche gibt es tatsächlich ein Hochmoor, das heute durch einen Bohlenweg erschlossen ist. Die heute noch erhaltenen Grindenflächen auf einigen Kuppen des Nordschwarzwalds gehen auf die Weidewirtschaft im ausgehenden Mittelalter zurück. Ab dem 14. Jahrhundert wurden die Weideflächen in den Tälern durch die zunehmende Bevölkerung knapp. Die Bauern rodeten auf den Bergen die Wälder und legten Hochweiden an, auf denen das Vieh den Sommer verbrachte. Die Weiden in den Tälern nutzten sie zum Heuen. Ein regelmäßiges Abbrennen, das sog. Weidbrennen, sollte die Wiederbewaldung verhindern.

   Die intensive Bewirtschaftung führte bereits im 16. Jahrhundert zur Überweidung, hinzu kamen Nährstoffverlust und Bodenverdichtung. Die hohen Niederschläge von über 2.000 mm pro Jahr begünstigten auf den Hochflächen die Entstehung von Mooren und Grinden. Ich finde, sowas muss man wissen!

   Die weite Hochfläche im Gipfelbereich erreiche ich mal wieder tropfnass, aber ich ignoriere das inzwischen. Der frische Wind hier oben bringt schnell wieder Abkühlung. Auf großen Steinplatten rumpel ich über die langgezogene Grindfläche und kann mich an den Ausblicken nicht sattsehen. Ich glaube, so etwas gibt es in Deutschland, abgesehen von den Alpen, nur selten. Umso mehr wundert mich, dass sich bisher außer mir noch kein Mensch hier rauf verirrt hat. Aber es ist erst 10 Uhr, das ändert sich schon noch.

   Kaum habe ich die Hornisgrinde eine Viertelstunde hinter mir, stehe ich unvermittelt vor einem DER touristischen Highlights des Schwarzwalds, dem Mummelsee. Zumindest hier hätte ich mit etwas mehr Betrieb gerechnet, aber nur wenige Autos parken auf dem riesigen Parkplatz und eine Handvoll Menschen dreht ihre Pflicht-Spazierrunde um den See.

   Der Mummelsee ist eigentlich nur einer von neun Karseen, die es heute im Nordschwarzwald noch gibt. Sie alle liegen inmitten der dichten Wälder in einem fast runden Talkessel. Von oben betrachtet wirken sie wie die Augen des Waldes. Wegen ihres hohen ökologischen Wertes stehen sie alle unter Naturschutz. Ihre Talkessel wurden in der letzten Eiszeit vor etwa 25.000 Jahren von großen Gletschern ausgehobelt, zum Talausgang bildete sich ein Karriegel, der die Entstehung des Karsees begünstigte. Mit Ausnahme des Mummelsees liegen die Karseen sehr abgeschieden und nur wenige Menschen machen sich die Mühe, die steilen Karmulden hinabzusteigen, um an ihre Uferzonen zu kommen. Diese Ruhe hat der Mummelsee nicht. Seine hohe touristische Bedeutung erlangte er mit dem Bau der Schwarzwaldhochstraße, der unmittelbar am See vorbeiführt. Hinzu kommt, dass sich um den Mummelsee etliche Sagen und Geschichten ranken. Dadurch zählt er zu einem der meist besuchtesten Seen in Baden-Württemberg. Kommerz und Kitsch feiern fröhliche Urstände und die Grenze zur Unvereinbarkeit mit der schönen Natur ringsum ist sehr fließend. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich hier als Kind mit einem Bär von einem Mann in einem Wassermann-Kostüm fotografiert wurde. Grässlich! Und für mich schon damals entsetzlich peinlich.

   Meine Wanderung auf der durchgehenden Aussichtsplattform der heutigen Höhenwege geht unverändert weiter. Am Hang des Altsteigerskopfs komme ich am Lothar-Denkmal vorbei, einem großen Erinnerungsstein aus dem hiesigen Buntsandstein für denjenigen, der für diese guten Aussichten verantwortlich ist, Lothar. Schon bei meinem Tagesbericht von der Etappe Pforzheim - Dobel hatte ich den Tornado Lothar erwähnt, der im Sommer 1968 über die Vogesen und bei Pforzheim über den nördlichsten Bereich des Nordschwarzwalds hinwegfegte. Mein Sohn und Kronprinz Daniel fühlte sich daraufhin genötigt, mich in einem Kommentar darauf hinzuweisen, dass Lothar doch bitteschön im Dezember 1999 sein Unwesen getrieben habe. Er versäumte es aber in diesem Zusammenhang nicht, sich (mit Recht) als Klugsch... zu bezeichnen. Was er bei seiner Recherche nicht berücksichtigte, war, dass es Lothar tatsächlich zweimal gegeben hat, einmal als Tornado 1968, ein anderesmal als schlimmen Orkan 1999. Das irritierende daran, beidemale hieß der Bösewicht Lothar. Ich glaube, spätestens nach Orkan-Lothar hatten Eltern im Nordschwarzwald Probleme damit, ihre Babys auf den Namen Lothar taufen zu lassen.

   Am Lothar-Denkmal treffe ich auf ein Ehepaar aus Dortmund, das sich mir für eine Weile anschließt. Es fragt mir Löcher in den Bauch, wollen alles wissen über meinen Weg nach Rom, den Wheelie, meine Unterkünfte, das Alleinsein, den Jakobsweg mit Hund usw., usw. An der Darmstädter Hütte laden sie mich auf einen Kaffee ein und löchern mich weiter. Zum Schluss fragt der Mann: “Sagen Sie mal, geht es Ihnen nicht so langsam auf den Geist, immer ausgefragt zu werden?“ Ich kann das ehrlich verneinen. Es freut mich, dass sich Menschen für mein Unternehmen interessieren und meine Annahme richtig war, dass ich unterwegs nicht alleine sein werde. Gesprächspartner gibt es immer wieder. Das Ehepaar geht von der Darmstädter Hütte wieder hinab ins Tal. Morgen muss es zurück nach Dortmund, übermorgen müssen sie wieder arbeiten.

   Ich steige von der Hütte ab zum Ruhestein an der Schwarzwaldhochstraße. Im Mittelalter war er einer der wichtigsten Übergänge des Nordschwarzwalds. Der Name soll nach der Überlieferung von einer großen Buntsandsteinplatte auf der Passhöhe stammen, auf die die Leute nach dem anstrengenden Aufstieg ihre Lasten abstellten, um zu verschnaufen. Bei Straßenbauarbeiten soll sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstört worden sein.

   Ich brauche den Stein sowieso nicht, da ich auf der anderen Seite des Passes direkt wieder hochklimme. Mit Geschnaufe ziehe ich meinen Wheelie den grünen Rodelhang hinauf und lande wenig später am Turm einer Sprungschanze. Sie macht jetzt auf mich nicht unbedingt einen großen Eindruck, aber auf einer Hinweistafel lese ich, dass unter den Springern, die hier mal den Schanzenrekord hielten, ein gewisser Dieter Thoma rangiert. 90 Meter sprang er hier anno 1999, eine Frau sprang sieben Jahre später an gleicher Stelle neun Meter weiter.

   Weiter geht's! Die nächsten Bergkuppen mit weiten Grindflächen und ihrem typischen Bewuchs aus Heidekraut, Binse, Heidelbeere, Wollgras und krüppelwüchsiger Latschenkiefer hake ich nacheinander ab: Schweinskopf, Schliffkopf, Schurkopf, Plankopf, Sandkopf. Zwischen Plankopf und Sandkopf führt ein Abzweig zum Lotharpfad (Er nu widder!). Hier noch ein paar kleine Infos zu diesem Lümmel: Mit Windgeschwindigkeiten über 200 km/h verwüstete er zahlreiche Waldflächen im gesamten Schwarzwald. Wie abgeknickte Streichhölzer lagen die Bäume entlang der Kammlagen. Der Westweg war so betroffen, dass er im Jahr danach nur mit großen Umwegen zu begehen war. Für die Waldbesitzer eine Katastrophe, für die Natur wurden die Sturmwurfflächen zu einer Chance für neues Leben. Die umgeknickten Bäume boten Lebensräume für eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren. Der Lotharpfad hat zum Ziel, die Kraft des Windes und die Rückeroberung des zerstörten Raumes durch die Natur aufzuzeigen. Auf dem etwa 1 km langen Pfad geht es über Stege, Treppen und Leitern unter und über Bäume durch das Sturmwurfgebiet. Vielleicht interessant, aber zum Ende eines langen Wandertages eine zu große Herausforderung - vor allem für mein Wheelie.

   Kurz vor meinem Etappenziel, dem alterwürdigen, aber renovierten Hotel Zuflucht, nochmal ein Highlight: Von einer bestimmten Stelle auf dem Höhenweg, dem Renchtalblick, erkenne ich in der hintersten Bergreihe im Südwesten den Feldberg. Eine Hinweistafel sagt mir, was ich noch sehe: die Vogesen mit dem Grand Ballon, Petit Ballon und dem Mont St. Odile. Erinnerungen an eine Vogesen-Wanderung mit Freunden kommen auf. Lang, lang ist es her.

   Das Hotel Zuflucht führt den Zusatz “Wellness- und Sporthotel“ in seinem Namen. Das klingt nach teuer! Nett vom Chef: Sie führen Wanderer-Zimmer zu einem akzeptablen Preis. Eins davon ist ab 17 Uhr meins.

 

 Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmY3FlTlhLNlNQNFE/

 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Christof (Samstag, 12 April 2014 13:34)

    Hallo Reinhard,

    Königsetappe - das klingt nach der Schlauchkarsatteletappe auf dem Traumpfad München-Venedig ;-)

    Jedenfalls schön, dass Du wieder "on the road" bist UND darüber auch bloggst!

    Bin jetzt zwar selbst drei Wochen auf dem Fränkischen Gebirgsweg unterwegs, aber ich werde versuchen weiterhin mitzulesen.

    Viel Spaß und pass auf Dich auf

    Christof

  • #2

    Der Kronprinz (Montag, 14 April 2014 08:01)

    Gibt es dieses Foto noch?! Würde mich ja brennend interessieren...

  • #3

    Die Pilgertochter (Montag, 14 April 2014 08:50)

    Ja, Christoph, Ähnlichkeit mit dem Schlauchkar ist bestimmt da, allerdings wäre Papa an diesem fiesen Schotterweg mit dem Wheely mit Sicherheit verzweifelt...


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