Glück gehabt!

Kloster Beinwil - Gänsbrunnen (21 km)

   Morgengebet im Kapitelsaal um 8 Uhr, erst dann wünscht man sich einen Guten Morgen, anschließend gemeinsames Frühstück in Stille. Es ist schon nach 9 Uhr, als ich mit Christoph, dem Leiter des Klosters (so ganz habe ich die hierarchischen Strukturen nicht durchblickt), im Klosterhof stehe, noch etwas mit ihm rede und er mich verabschiedet. “Aber eine Bitte habe ich noch, Reinhard! Darf ich von dir und deinem Wheelie eben noch ein kleines Video machen für unsere Homepage. Wir stellen dort in unregelmäßigen Abständen Pilgertipps ein und dein Wagen ist ja wohl ein besonderer Tipp. Ich stell dir einfach ein paar Fragen und du berichtest dann von deinen Erfahrungen.“ Auf diese Bitte gehe ich natürlich gerne ein, und als ich mich dann doch endlich zum Gehen wende und Christoph mir noch ein “Gottes Segen auf deinem Weg!“ hinterherruft, ist es schon 9.30 Uhr. Ich glaube, so spät war es noch nie.

   Hundert Meter weiter habe ich nochmal einen schönen Blick auf die Klosteranlage. Und als ich so schaue, merke ich, wie gerne ich dort war, wie mir die besondere Atmosphäre dieses Hauses gefallen hat. Ich könnte mir gut vorstellen, hier einmal eine ganze Woche zu verbringen.

   Doch jetzt wird es Zeit, ich muss den Berg hoch. Und was für einen! Außerdem sind für meine Tagesstrecke bis Gänsbrunnen neun Stunden Gehzeit veranschlagt. Das wird ein harter Tag. Über 600 Höhenmeter sind es, mal eben so, am Anfang. Doch erstaunlicherweise geht es zunächst recht zügig und gut. In weit ausholenden Schwüngen bringt mich ein breiter Forstweg hoch. Ich finde schnell meinen Schritt und das richtige Tempo, sodass mir nicht die Beine weich werden. Das ändert sich, als der Weg mal wieder in die Pfadvariante übergeht und die letzten hundert Höhenmeter eher treppenartig nach oben verlaufen. Als ich aus dem Wald herauskomme, sehe ich vor mir nur Wiese, und gaaaanz oben, wo die Wiese den Himmel berührt, steht eine große pyramidenartige Gipfelmarkierung. Und die kommt und kommt nicht näher. Als ich sie letztendlich doch erreiche und mich umdrehe, bin ich überwältigt. Der Blick reicht bis Basel und sogar die letzten Schwarzwaldgipfel erkenne ich schwach im bläulichgrauen Dunst.

   Mit dem Erreichen der Hohen Winde sind die Mühen des Tages aber leider noch nicht Vergangenheit. Nur mit dem dichten Wald ist es erstmal vorbei. Wandern mit Weitblick - das ist mein Ding! Die Kämme und Täler des Schweizer Jura liegen wie eine auseinandergezogene Ziehharmonika vor mir und ich sehe jetzt schon, dass einige Höhenmeter heute noch, aber auch in den nächsten Tagen, zusammenkommen werden. Die Almmatten sind hier oben noch mit Löwenzahn übersät, ein schönes Bild.

   In Abständen von etwa einer Stunde tauchen große Bauernhöfe auf, die meisten von ihnen mit dem Zusatz “Berggasthof“. Von jedem alleine könnte man hier oben wohl nicht leben, deshalb macht man beides. In einem Zeitungsartikel, der im Kloster Beinwil aushing, las ich heute Morgen noch: “Wer sich auf die Wanderung von Beinwil nach Gänsbrunnen begibt, braucht keine Sorge davor zu haben, zu verhungern oder zu verdursten. Ein Berggasthof reiht sich an den anderen.“ Man kann nicht verdursten? Man kann! Jedenfalls von montags bis mittwochs. An fünf Gasthöfen komme ich vorbei, alle öffnen nur von donnerstags bis sonntags. Da muss mal dran gearbeitet werden.

   Bei allen Vorzügen, die Kloster Beinwil hat, das Essen ist eher als spartanisch zu bezeichnen. Mir was für unterwegs zu machen, habe ich mich nicht getraut. Also ein wenig nagt der Hunger ab nachmittags an mir. Wasser habe ich zwar eineinhalb Liter dabei, aber bei den anstehenden Aufstiegen geht dieser Vorrat auch rapide zu Ende. Bei den geschlossenen Berggasthöfen sehe ich keine Menschen und keinen außen liegenden Wasserhahn, die mir zu Wasser verhelfen könnten. Deshalb trinke ich in Maßen, immer in Sorge, irgendwann gar keins mehr zu haben.

   Der Berggasthof Malsenberg hat ebenfalls geschlossen. Hier höre ich aber aus dem Haus einen lauthals schallenden Gesang. Irgendjemand probt hier für eine Castingshow, denke ich, klopfe an die offenstehende Tür und rufe “Hallo?“. Mit einem “Huch!“ erstirbt der Gesang, hinter dem ich einen weiblichen Teenie vermute. Um die Ecke erscheint ein 10/11jähriger Junge und auf meine Frage, ob er da gerade so schön gesungen habe, lächelt er verschämt. Als ich ihm meine Wasserflasche in die Hand drücke, mit der Bitte, sie mir zu füllen, rennt er in die Küche und kommt umgehend mit der gefüllten Flasche zurück. “Üb noch ein wenig, mein Junge“ , sage ich, “dann wird aus dir noch ein ganz toller Schlagersänger!“ Erst schaut er mich etwas irritiert an, dann strahlt er über das ganze Gesicht.

   Ich will mich gerade wieder in Bewegung setzen, als die Mutter des Jungen in Gummistiefeln und mit Schürze aus dem Kuhstall kommt. “Grüezi, na, wo wollen Sie denn heute noch hin?“, spricht sie mich laut und fröhlich an, während keine fünf Meter weiter eine Milchziege ihre zwei Zicklein säugt. “Nach Gänsbrunnen runter zum Berghof Montpelon“, antworte ich. “Au weh“, sagt sie nur. Als ich sie daraufhin fragend ansehe, wird die Bäuerin genauer. “Ich kenne das schon. Die Wanderer, die von Beinwil hochkommen, erreichen uns schon immer ziemlich fertig. Und wenn ich ihnen dann sagen muss, dass sie unten in Gänsbrunnen noch nicht am Ziel sind, sondern noch drei Kilometer zum Berghof Montpelon den Berg wieder rauf müssen, tun sie mir ganz schön leid. Ja, und so ist das jetzt bei Ihnen auch.“

   Das sitzt! Ich bin nach dem immer wiederkehrenden Auf und Ab von heute ganz schön ausgelutscht. Noch eine Stunde nach Gänsbrunnen steil ein Asphaltsträßchen runter mach ich ja noch mit, obwohl meine lieben Gehwerkzeuge jetzt schon wieder höllisch brennen. Aber dann wieder den Berg drei Kilometer rauf?  Nä, kei-nen Bock!!! Ich versuche beim Berghof anzurufen, aber keiner geht ran. Wo sind die? Im Stall bei den Kühen? Mag sein um diese Zeit. “Wissen Sie was?“, kommt es spontan von der Bäuerin. “Ich fahr Sie da jetzt hin!“ Ich protestiere nicht. Jetzt keinen falschen Ehrgeiz an den Tag legen, sondern unter “Glück gehabt!“ einordnen. Ehe ich mich versehe, ist der Kofferraum eines Jeeps geöffnet, der Wheelie passt bequem hinein, und ab geht die Fahrt den Berg hinunter.

   Als ich dann feststellen muss, wie weit es von den vier Häusern von Gänsbrunnen hinauf zum Berghof ist und wie steil, stelle ich mal wieder fest, dass manches einfach so kommen muss, wie es kommt. Herzlich bedanke ich mich bei meiner guten Fee und gebe ihr mit auf den Weg, ihrem Sohm vielleicht eine Gesangsausbildung zukommen zu lassen. Sie lacht schallend und braust wieder davon.

   Ich habe der Berghofbäuerin, die vor der Haustür steht, noch nicht die Hand geschüttelt, da bricht ein Platzregen los. Wo die passenden Wolken dazu auf einmal hergekommen sind, habe ich überhaupt nicht mitbekommen. Noch eine weitere Stunde lang regnet es ergiebig. Das hätte mir jetzt unterwegs auch noch gefehlt!

   Nach der Dusche ist Fußpflege angesagt. Meine Treterchen schreien nach Balsam. Zu Hause hatte ich mir doch extra noch eine Tube Hirschtalg gekauft, sie aber leider nicht konsequent genutzt. Wie heißt also die Devise: “Wenn dir die Füße schmerzen, gräme dich nicht, creme dich!“

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmeEdSZmRkNXNZQWc/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 5
  • #1

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 24 April 2014 07:38)

    Hm, ich hab das Gefühl, du fährst ja mehr als dass du läufst ;-)

  • #2

    Der Kronprinz (Donnerstag, 24 April 2014 08:30)

    Das wäre dich was: du trittst als Mönch ins Kloster ein. Die Frisur hast du ja schon...

  • #3

    Sebastian (Donnerstag, 24 April 2014 17:44)

    Wieso hast du den Wheely nicht mit Elektromotor genommen?

  • #4

    Lore (Donnerstag, 24 April 2014 20:07)

    Welch liebevolle Kinderkommentare :-)
    Einfach herrlich!

  • #5

    Die Pilgertochter (Freitag, 25 April 2014 07:47)

    Jetzt isser beleidigt. Jetzt schreibt er nicht mehr. :-( Kein neuer Blogartikel heut Morgen...


Translation: