Alles im Fluss

Rüeggisberg - St. Antoni (24 km)

   Als ich aufstehe, höre ich Kinder unter meinem Zimmerfenster entlanggehen. Alle streben sie zu der kleinen Schule, die sich schräg gegenüber befindet. Sie hat schon bessere Tage gesehen, sieht recht renovierungsbedürftig aus. Heute ist Montag, kein guter Tag für Schüler und Lehrer. Vielen Kindern sehe ich an, dass sie noch gar nicht richtig aufgestanden sind. Mädchen gehen langsam nebeneinander her und reden miteinander, drei Jungen haben den ersten Streit und fechten ihn lautstark aus. Ein vierter Junge nähert sich von hinten den beiden Mädchen und bewirft sie mit kleinen Steinen. Ich glaube, die Kinder von Dattenfeld und Rüeggisberg sind sich sehr ähnlich.

   Im Frühstücksraum stehen der Kaffee und eine Kanne mit heißer Milch unter einer Wärmehaube bereit. Brot, Butter und Käse sind hart kalkuliert, reichen aber für mich exakt aus. Das Brot ist zwei Zentimeter dick geschnitten, da reicht eine Scheibe für unterwegs. Frau Schürch schaut kurz vorbei und bedauert mich, weil Petrus es mal wieder ordentlich pladdern lässt. Mich erschüttert das nicht allzusehr, da ich mich auf der Grundlage der Wettervorhersage für diese Woche auf reichlich Regen eingestellt habe. Dass all dieser Regen am St. Bernhard-Pass als Schnee fällt, beunruhigt mich zwar, ich muss es aber hinnehmen wie es ist.

   Heute kann, ja muss ich mir fast Zeit lassen, um nicht zu früh in St. Antoni zu sein. Frau Käser, meine Zimmervermieterin, ist erst ab 17 Uhr zu Hause, vorher komme ich nicht rein. Die Länge des Weges bewegt sich heute im normalen Rahmen und die körperlichen Anforderungen sind eher lau. Gegen 15 Uhr könnte ich da sein, zwei Pausen einberechnet. Und dann? An warmen, sonnigen Tagen würde ich mich an einer passenden Stelle ins Gras kuscheln und die beste Zeitüberbrückungsvariante wählen, die ich mir vorstellen kann: Schlafen. Bei diesem Wetter kann ich mir das aber abschminken. Regen, Kälte, alles nass. Die Frage ist, ob es überhaupt eine einigermaßen komfortable Möglichkeit zum Rasten gibt. Ich werde mir unterwegs also Mühe geben müssen, nicht in meinen gewohnten strammen Schritt zu verfallen, sondern eher die Bad-Pyrmonter-Kurpark-Variante zu wählen.

   Um kurz nach 9 Uhr trotte ich los. Auf Unwissende muss ich einen nahezu lustlosen oder sogar kranken Eindruck machen und ich weiß selbst nicht, wie lange ich diesen Schongang durchhalte. Ich komme wieder an der Klosterruine vorbei und sehe von Weitem unter der Überdachung gegenüber des kleinen Museums zwei Menschen hantieren. Bei genauerem Hinsehen identifiziere ich sie als ein Pilgerpaar, das gerade dabei ist, Sachen in seine Rücksäcke zu stopfen. Ich gehe auf es zu und wünsche einen “Guten Morgen!“. Der Mann grüßt freundlich zurück, die Frau kann das offensichtlich nicht, weil sie am ganzen Körper zittert und mit den Zähnen klappert. Die beiden sind Österreicher und in Etappen auf dem Jakobsweg unterwegs, diesmal seit zwei Wochen. Geschlafen wird nicht in festen Unterkünften, sondern “... an der frischen Luft! Wir brauchen nur immer irgendetwas, wo wir unterkriechen können, damit wir nicht nass werden. Ein Zelt haben wir nicht dabei, nur Isomatten und Schlafsäcke. Dös passt scho!“ Wie es aussieht, kommt er damit auch ganz gut klar, bei ihr bin ich mir nicht so sicher. Sie sitzt da auf der Bank, die Beine an den Leib gezogen und mit den Armen umfangend, und alles an ihr zittert wie Espenlaub. Immer wieder reibt sie sich die Beine, hustet dabei und stiert ohne eine andere Reaktion vor sich auf den Boden. Macht sie das wirklich alles freiwillig oder folgt sie nur brav ihrem Mann durchs Abenteuerland? Wissen sie, dass das Wetter in dieser Woche eher zu den schlechten seiner Art gehören wird? Mit Regen, Kälte und Nachttemperaturen zwischen drei und fünf Grad? Vielleicht bin ich aber auch nur ein absolutes Weichei, ein Luxuspilger?! Aber ich will ankommen, gesund bleiben, genießen.

   Apropos “gesund bleiben“. Nach fast sechswöchiger Wanderung fühle ich mich gesundheitlich pudelwohl. Kein Zwicken, kein Kneifen, keine Schmerzen an irgendwelchen Körperteilen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt. Und so soll es bitte auch bleiben!

   Heute ist Premiere! Ich kann mich nicht erinnern, wirklich mal einen kompletten Wandertag unter meinem Schirm verbracht zu haben. Heute ist es so. Permanent rieselt der Regen herab, unaufdringlich, aber eben beständig. Er fällt senkrecht, da kein Wind dabei geht. Kein Kleidungsstück wird nass, nur mein Schirm. Ich pratsche durch Pfützen, Wasser kommt mir in kleinen Strömen auf dem Pfad oder der Straße entgegengeflossen. Wahre Wassermassen schießen durch sonst ruhigere Bäche und Wasserfälle stürzen Hänge hinab, die sonst nur Rinnsale sind. Wassertropfen rinnen wie an einer Perlenschnur ringsum von meinem Schirm und ich fühle mich fast wie in einem sicheren Zelt. Alles ist im Fluss! Regen ist Natur und ihr sollte man sich fügen.

   Das gleichmäßige leichte Prasseln bringt Ruhe in meinen Kopf. In den letzten Tagen ist so viel passiert. Ich erwische mich dabei, dass ich immer wieder ganz unvermittelt lächeln muss. In meinem Kopf spule ich kleine Filmchen der letzten Tage ab. Alles passiert wie in Zeitlupe.

   Auch meine Schritte haben jetzt etwas Zeitlupenartiges an sich. Ich gehe bewusst langsam, bergauf noch langsamer. Wieder bleibt der Blick im Nahen hängen, eine Ferne gibt es heute nicht. Schon lange nicht mehr habe ich so viele Regenwürmer gesehen. Wassertropfen hängen an Grashalmen, weil sie von keinem Wind runtergeschüttelt werden. Esel stehen stoisch und mit angelegten Ohren auf ihrer Wiese, ihnen gefällt der Regen nicht. Den Kühen scheint er nichts auszumachen. Entweder sie grasen oder sie gucken. Kühe können sooo lange und sooo emotionslos gucken.

   Ohne Pause gehe ich über Schwarzenburg und Heitenried nach St. Antoni. Ich brauche heute auch keine Pause. Wo auch? Alle Gasthäuser haben geschlossen, es ist Montag. Ruhebänke gibt es nur wenige, und wenn welche auftauchen, sind sie klitschnass. Außerdem, wenn ich gehe, stimmt die Körpertemperatur, wenn ich bei dem Wetter in der freien Natur sitze, fange ich an zu frieren. Folge: Trotz bewusst gesteuerter Entschleunigung bin ich um 15 Uhr in St. Antoni.

   Zwei Stunden kann ich jetzt noch warten, bis ich in die Unterkunft kann. Außerdem überfällt mich jetzt der Hunger. Wenn Herberge und Gasthof verschlossen sind, ist eine andere Tür meist offen. Die der Kirche! St. Antoni hat zwei Kirchen, die evangelische und die katholische. Zuerst komme ich an der evangelischen vorbei. Die Tür ist wirklich zu öffnen und drinnen ist es sogar warm. Andächtig drehe ich zuerst meine Runde, dann setze ich mich in die hinterste Kirchenbank und esse. Mir fällt ein, dass ich jetzt Unterkünfte festmachen könnte. Ich studiere die Listen, wähle aus, greife zum Handy und wähle. Für morgen in Fribourg bekomme ich ein Bett in der Jugendherberge und übermorgen ein weiteres in einem vietnamesischen Zisterzienserkloster. Nach einer Stunde ziehe ich weiter zur katholischen Kirche, dort soll es einen Pilgerstempel geben. Gibt es auch, und wohlige Wärme noch dazu. Es ist eine angenehme Stimmung, die mich umgibt. Ich setze mich wieder und hänge eine Viertelstunde meinen Gedanken nach. Als ich wach werde, ist es kurz vor 17 Uhr.

   Frau Käsers Haus ist nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt. Es ist das alte Pastorenhaus, vor einigen Jahren von den Käsers erworben und liebevoll renoviert und jetzt ein Schmuckstück von innen und von außen. Ich fühle mich sofort wohl.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmR0JzYmcxajBuZms/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Dienstag, 29 April 2014 18:32)

  • #2

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 30 April 2014 07:48)

    Genau, Dani, wollt ich auch grad sagen. Papa, du KANNST doch gar nicht entschleunigen. Ich erinnere mich gut:"Höösch, Kind, wir haben heut nur 16 km..." Und weg war er und ich guck hinterher.


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