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St. Antoni - Fribourg (12 km)

   Heute kann ich mir erneut Zeit lassen. Zwölf Kilometer sind es nur bis Fribourg. Einer meiner Ruhetage also. Außerdem soll Fribourg ein schönes Städtchen sein und da sehe ich mich ja immer gerne etwas um. Leider wurde mir nur vorgestern bereits bei der Reservierung mitgeteilt, dass erst um 17 Uhr die Jugendherberge geöffnet wird.

   Also Freunde, das ist schwach! Dass man erst ab 17 Uhr einchecken kann, könnte ich noch verstehen, dass aber die Jugendherberge einer der größten Städte der Schweiz, die aufgrund ihrer Lage und Sehenswürdigkeiten von einem gewissen touristischen Interesse und außerdem ein Etappenziel der Via Jacobi ist, erst um 17 Uhr die Tür aufmacht, finde ich einigermaßen unverständlich. Man stelle sich vor, irgendein Pilger hätte heute vielleicht 30 und nicht wie ich heute nur zwölf Kilometer hinter sich gebracht, draußen ist es kalt oder regnet, dann will er ankommen, duschen, sich ausruhen, und nicht noch dreimal um den Häuserblock rennen, bis es endlich 17 Uhr ist. Und bei den Preisen der örtlichen Gastronomie überlegt sich jeder Pilger, der etwas auf sein Geld achten muss, ob er seine Wartezeit in einem Straßencafe totschlagen will. Mindestens ab 15 Uhr hat eine Jugendherberge geöffnet zu sein!

   Also gehe ich heute eben etwas später los. Meine Gastgeberin Andrea ist auch ganz froh, etwas länger schlafen zu können und außerdem klönt sie ganz gerne. Wir frühstücken gemeinsam ab 8.30 Uhr (so spät war es noch nie) an dem großen Tisch in der Wohnküche und ihr gehen die Themen nicht aus. Ihr beruflicher Werdegang als Sozialpädagogin, ihre Kinder, ihr Ex-Mann, ihr jetziger Lebenspartner, ihre Aktivitäten im Dorf, ihre politische Einstellung, ihre Vorliebe für Trödel aller Art und für die Sketche von Loriot, ihr Garten, ihre Schildkröten etc. Das Frühstück hätte wohl problem- und nahtlos ins Mittagessen übergehen können und Andrea hätte immer noch etwas zu erzählen gehabt. Es gibt ja manchmal Momente, wo man sich fragt, warum man die Augen zumachen kann, die Ohren aber nicht. Bei Andrea stellt sich die Frage jedoch nicht. Sie erzählt mit Freude und Humor, setzt zwischendurch noch einen weiteren Kaffee auf und ist schließlich richtig enttäuscht, dass ich mich irgendwann dann doch erhebe, um mich startklar zu machen.

   Zum Abschied sage ich ihr, dass es Unterkünfte gibt, von wo aus man sich gut wieder auf den Weg machen kann und andere, wo man gerne noch bleiben würde. Ihr Haus gehöre zu den letzteren. Sie geht schnell darüber hinweg. “Ich wünsche dir eine gute Reise und komm gesund wieder zurück nach Hause!“

   Der Himmel ist bedeckt, aber es regnet nicht. Wäre auch nicht so schlimm, wenn es heute mal trocken bliebe. Aus der nahegelegenen Kirche kommen gerade mehrere Frauen in Wanderausrüstung, die dem Wetter nicht ganz trauen. Jedenfalls haben sie alle ihre Regenponchos übergeworfen und laufen jetzt als lebende Farbpalette in Gelb, Rot und Blau vor mir her. Als ich sie überhole und ihr Französisch höre, erkenne ich sie wieder. In Rüeggisberg haben wir abends für die Dauer meines Wurstsalats im Gastraum des “Bären“ zusammengesessen. Dort hatte ich die Damen in den Sechzigern (also meine Kragenweite) einem Ausflug des Bridge-Clubs zugeordnet und nicht einer Jakobspilgervereinigung. Als solche sind sie aber seit einiger Zeit, immer in Etappen von einer Woche, unterwegs. In Konstanz haben sie mal angefangen, diesmal wollen sie noch bis Genf kommen. Ob sie in Santiago noch alle zusammen sein werden?

   Weiter geht mein Weg nun “... durch die genussreiche Hügellandschaft des Freiburger Mittellandes“. Immer noch ist hier die Vieh- und Milchwirtschaft vorherrschend, Obstanbau und Ackerbau haben einen hohen Stellenwert in der Erwerbsstruktur der Bevölkerung. Prächtige bäuerliche Anwesen säumen den Weg, großflächig umgeben von Äckern und Weiden. Aber nicht nur glückliche Kühe beweiden die Wiesen, sondern auch - Lamas, Alpakas und Emus. Mittlerweile habe ich diese lieben Tierchen nun schon öfter gesehen und manchmal frage ich mich, was die Bauern der vorletzten Generation zu ihnen sagen würden, bekämen sie noch einmal die Gelegenheit, für einen Tag auf die Erde zurückzukehren.

   Das Freiburger (oder Fribourger) Mittelland war schon im Mittelalter bevorzugtes Durchzugsgebiet der Pilger zum Grab des Jakobus nach Spanien. Viel mehr als im reformierten Teil der Schweiz um Basel und Bern findet man hier im katholischen Teil immer wieder Hinweise auf die jahrhundertelange Tradition des Pilgerns. Durch den kleinen Ort Tafers führt z.B. solch ein historischer Wegabschnitt, der teilweise sogar noch auf eine römische Wegführung zurückgeht.

   Neben der St. Martinkirche von Tafers und mitten zwischen den Gräbern eines Friedhofs steht die Jakobskapelle. 1665 wird sie erstmals erwähnt und erhält ihre heutige Gestalt 1769. Jakobus und Johannes sind an der äußeren Fassade zu sehen und außerdem eine Darstellung der Legende des Hühner- und Galgenwunders. Es gibt in vielen Ländern entlang des Jakobsweges Kirchen, in denen man auf Darstellungen dieser Legende trifft. Der bekannteste Ort diesbezüglich ist wohl die Kathedrale von Santo Domingo della Calzada, in der sogar ein lebender Hahn und ein lebendes Huhn zum Angedenken an diese Legende in einem Käfig gehalten werden. Ein weiterer Ort ist - die katholische Kirche von Windeck-Herchen, eine Spaziergangentfernung von meinem heimatlichen Haus entfernt. Vor einigen Jahren wurden bei Restaurierungsarbeiten dort Fresken freigelegt, die die Hühnerlegende zweifelsfrei darstellen. Daher ist man sich sicher, dass auch der Weg durch das Siegtal als ein Jakobsweg angesehen werden kann und man vermutet, dass Pilger vor Jahrhunderten auf ihrem Rückweg von Spanien diese Wandmalerei selbst erstellt oder in Auftrag gegeben haben.

   Hilfreich für die heutigen Pilger ist die im Inneren der Kapelle ausliegende Liste mit den im Ort vorhandenen Unterkünften. Und immer wieder gern gesehen: der Pilgerstempel.

   Von Tafers aus muss ich nur nochmal einen kleinen Hügel überwinden und sehe dann die ersten Häuser von Fribourg vor mir. Zwischen Tafers und Fribourg liegt die “Rösti-Grenze“. Spricht man in Tafers (so gerade noch) Schwyzerdütsch, so ist es nur drei Kilometer weiter ganz klar Französisch. Die Mentalität ist hier sogar schon so sehr französisch, dass man gegenüber Auskunftssuchenden vorgibt, kein Englisch und erst recht kein Deutsch zu können, sondern eben nur Französisch. Von dieser etwas merkwürdigen Frackigkeit habe ich bei Franzosen schon gehört. Aber von Schweizern, von Landsleuten untereinander? Mir ist ein solches Verhalten unverständlich, wurde mir aber noch gestern Abend von Andrea in St. Antoni so bestätigt.

   Unmittelbar vor Erreichen der Altstadt von Fribourg geht es eine steile Treppe hinunter zur alten Holzbrücke Pont de Berne. Viele Stufen sind es - und es hätte mühsam werden können und nicht gerade materialschonend für meinen Wheelie. Aber dann kommt wieder eine Situation, die ich auf Jakobswegen zusammen mit Annika im letzten Jahr wiederholt erlebt habe. Gerade bin ich vielleicht zehn Stufen mit dem Wheelie die Treppe hinuntergerumpelt, höre ich hinter mir eine Stimme. “Darf ich Ihnen helfen?“ Noch ehe ich antworten kann, hat ein Mann mit Rucksack den Wheelie hinten ergriffen und hochgehoben und trägt ihn nun mit mir zusammen nach unten. Österreicher ist er, hat im letzten Jahr seinen Jakobsweg in Salzburg gestartet und will diesmal, wie das französische Damensextett, noch bis Genf. Im nächsten Jahr will er dann durchgehen bis Santiago. Wir unterhalten uns bis die Treppe zu Ende ist, dann heißt es “Buen Camino“. Er will heute nicht in Fribourg bleiben, sondern noch ein paar Kilometer weitergehen.

   Durch das Stadttor und über die Pont de Berne hinweg komme ich in die Altstadt und von dort geht es, an einigen alten Brunnen vorbei, mehr als steil hoch in die Oberstadt bis zur Kathedrale Saint Nicolas. 76 Meter hoch ist der Turm der dreischiffigen gotischen Kirche, eine der mächtigsten der Schweiz. Drinnen lege ich eine Rast ein, setze mich in eine Kirchenbank und genieße wiedermal die Ruhe. Vom Straßenlärm draußen ist nichts zu hören. Es geht doch nichts über die Schallisolierung von dicken Kirchenwänden. Auf einem kleinen Tisch hinter dem Kirchenportal liegen Stadtpläne aus, zum Mitnehmen. Wahrscheinlich ist den hiesigen Kirchenvätern klar, dass die Jakobspilger zuerst hier die Kathedrale besuchen und dankbar für diese Wegehilfe durch die Stadt sind. Sie wird auch mir helfen.

   Es ist gerade mal 13 Uhr. Mal sehen, was die nächsten vier Stunden bis zur Öffnung der Jugendherberge für mich bereithalten.

   Mit Hilfe des Stadtplans schlendere ich mit der größtmöglichen Langsamkeit durch die Straßen und Gassen, schaue nach links und nach rechts, überlege, irgendwo eine Suppe zu essen oder einen Kaffee zu trinken, lese die Speisekarten in den Schaukästen und lasse es daraufhin schön bleiben. Irgendwann fällt mir auf, dass ich überhaupt nicht weiß, wo sich die Jugendherberge befindet. Diesmal könnte sie meinetwegen am entgegengesetzten Ende der Stadt liegen, nur möglichst in der Nähe meines Weges, wenn ich bitten darf.

   Im selben Moment erblicke ich das blauweiße Symbol der Touristen-Information und stehe kurz darauf einer netten jungen Dame gegenüber, die sogar einwandfrei deutsch spricht. Auf meine Frage hin kennzeichnet sie die Lage der Jugendherberge mit einem blauen Neonstift in meinem Stadtplan und ergänzt mit deutlichem Bedauern in der Stimme: “Die Jugendherberge öffnet aber leider erst um 17 Uhr.“ Ich teile ihr auch mit, dass ich darüber nicht gerade glücklich bin, als sie auch schon die Tabulatur ihres Computers bedient und auf den Monitor schaut. “Warten Sie mal, ich habe hier eine Liste von Leuten, die an Pilger Zimmer vermieten, vielleicht ist ja für Sie was dabei.“ Hoffnung flammt auf. Zwei Adressen, die sie auf dem Stadtplan sucht, liegen zu weit außerhalb, aber bei der dritten wird sie fündig. “Mme Meyer wohnt nur zehn Minuten von hier. Soll ich mal anrufen?“ Sie soll und sie macht. Ergebnis: Das Pilgerzimmer von Mme Meyer ist noch frei und preiswerter als das Bett in der Jugendherberge. “Soll ich reservieren?“ - “Ja, bitte!!!!!!! Und wann kann ich kommen?“ - “Ab 14 Uhr!“ Es ist 13.45 Uhr. Manchmal gibt es Momente, da könnte man wildfremden Frauen um den Hals fallen.

   Als ich ankomme, steht Madame schon vor der Tür, lächelt mir entgegen, spricht deutsch mit mir und bietet mir eine Tasse Tee an. Auf meine Frage hin, ob Kaffee auch geht, lacht sie nur. “Aber natürlich!“

   Als um 17 Uhr die Jugendherberge öffnet, erhebe ich mich gerade nach einem schönen Nickerchen aus dem Bett.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmSm44TUlGMXFoTFk/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Der Kronprinz (Mittwoch, 30 April 2014 08:54)

    Also wirklich! Ständig bist du schon um 13/14h angekommen. Wo sind die Zeiten (wie in Norwegen) hin, in denen wir uns beeilen mussten, vor der Dämmerung anzukommen? Du wirst doch nicht tatsächlich alt werden?

  • #2

    Lore (Mittwoch, 30 April 2014 10:00)

    Der Bericht der zahlreichen ausgesprochen positiven Begegnungen und Begebenheiten!

    Wie schön!

    Gruß
    Lore

  • #3

    Sebastian (Freitag, 02 Mai 2014 12:33)

    Ja Daniel, da musste er ja auch immer auf dich warten...


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