Pilgerpause gefällig?

Fribourg - Orsonnens (24 km)

   Es ist erstaunlich lange ruhig in Mme Meyers Wohnung. Für 8 Uhr hatten wir uns gestern Abend zum Frühstück verabredet, aber bis zehn Minuten vorher tut sich so gar nichts. Dann höre ich eine Tür schlagen und hastige Schritte auf dem Flur. Das Wasser im Badezimmer läuft kurz, dann klappert in der Küche Geschirr. Mit dem Glockenschlag der alten Uhr im Flur verlasse ich mein Zimmer und gehe rüber in die Küche. Da steht Frau Meyer im Schlafanzug und lässt die Finger fliegen! Sie kichert wie ein kleines Schulmädchen und entschuldigt sich. Der Wecker war wieder mal schuld. “Immer dieser dumme Wecker! Ich sollte mir mal einen neuen kaufen.“ Ich weiß so gar nicht, was ich darauf antworten soll, setze mich an den Küchentisch und warte, bis sie fertig ist. Während die Kaffeemaschine läuft, hüpft sie nochmal aus der Küche und kommt im Bademantel zurück.

   In der Küche sind wir nicht allein. Madames Katze und Hund leisten uns Gesellschaft. Die beiden sind anscheinend beste Freunde, nur die Proportionen stimmen nicht. Die Katze ist ungefähr doppelt so groß wie der Hund und wahrscheinlich dreimal so schwer. Dafür hören sich ihre Laute sehr ähnlich an. Diese Laute kommen aber weder einer Katze noch einem Hund sehr nahe, sondern irgendwie mehr einem heiseren Papagei. Beide fressen aus einem Napf, und wenn der Hund dabei mal ein wenig ungestüm wird, legt ihm die Katze nur kurz eine Pfote auf den Kopf und weist ihn damit in die Schranken. Als ich mit dem Essen anfange, wird der kleine Fiffi allerdings von der Katze zum Betteln vorgeschickt. Er bekommt von Madame zwei Stücke Käse, bringt diese zu seiner überdimensionierten Freundin und dann wird gerecht geteilt. Ich habe sowas noch nicht gesehen.

   Die ganze Nacht hat es geregnet und es ist immer noch dran, als ich mich von Madame und von Hund und Katze verabschiede. Ich schaue von der Straße nochmal zu Madames Fenster hoch und sehe sie da stehen, mit ihren beiden Süßen im Arm und winkend. Hat sie noch jemand anderen als ihre beiden Tiere und ihre Übernachtungsgäste?

   In der Stadt ist es so wie in anderen Städten um diese Zeit und bei diesem Wetter. Touristen mit Fotokameras sind noch keine zu sehen, nur eilende Menschen, die zu ihrer Arbeitsstelle streben. Anlieferer stehen mit ihren Lieferwagen vor den Geschäften. Autos, Busse und eilige Radfahrer hasten vorbei, und Männer, die die Papierkörbe nach Pfandflaschen durchsuchen, gibt es anscheinend auch hier.

   Ich will aus dieser hektischen Betriebsamkeit raus, aber es dauert eine Weile. Erst nach Villar-sur-Glane wird es wieder etwas ruhiger. Aber nicht nur ruhiger, auch der Regen hört auf und selbst die Sonne wagt sich ab und zu zwischen den dicken Wolken hervor.

   Inzwischen merke ich wirklich, dass ich wieder auf einem Jakobsweg bin. Immer wieder stoße ich auf die Jakobsmuschel: als echte Muschel an der Hauswand oder an einem Baum befestigt, als Steinmosaik, in einen Stein eingeschlagen, in Holz eingeritzt oder eingebrannt oder nur irgendwo aufgemalt. Ab und zu gab es auch schonmal die Tische mit Kaltgetränken, Kaffee, etwas Gebäck am Straßenrand, aber immer gegen klar vorgegebene Bezahlung, und zwar recht ordentlich. Dort habe ich mich nie bedient.

   Heute in Posieux ist das anders. Ein ganz kleines Schild am Gartenzaun lädt zur “Pilgerpause“ ein. Vor der Haustür steht ein kleiner Tisch mit einer Thermoskanne mit heißem Wasser darauf, daneben zwei Campingstühle. Unter dem Tisch steht eine Kühlbox mit Flaschen voll selbstgemachtem Saft und eine Vorratsbox mit Kaffeepulver, Teebeuteln, Zucker, Plastikbechern und kleinen Löffeln. Auf einem Zettel lese ich “Gratuit -Umsonst“. Auf dem Tisch liegt noch eine Klarsichtfolie voll Kopien mit Listen der Unterkünfte bis Genf - “Zum Mitnehmen“. In diesem Haus wohnen wirkliche Jakobsfreunde und keine Geschäftemacher. Vielleicht sind sie sogar selbst mal bis Santiago gepilgert und möchten auf diese Weise etwas von dem zurückgeben, was sie selbst unterwegs oft empfangen haben. Ich mache mir einen Kaffee, nehme mir eine Unterkunftsliste aus der Hülle und lege etwas Geld in die Vorratsbox. Eine Viertelstunde mache ich Pause, dann geht es wieder weiter.

   Die nächsten Kilometer sind nicht wirklich anstrengend. Die Sonne scheint sogar inzwischen immer öfter durch die Wolken  und ich kämpfe mit mir, ob ich nicht den Anorak ausziehen soll. Dass ich ihn dann doch anlasse, hat nur etwas mit meiner Bequemlichkeit zu tun. Die Berge links von mir sind manchmal wolkenverhangen, manchmal auch vollständig zu sehen und zum Greifen nah. Letzteres soll ja nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein, aber ich werde sehen, wie sich das Wetter entwickelt.

   In Posat mache ich auf einer Bank vor der kleinen Kirche nochmal eine Pause. Ein schwarzer, massiger Hund kommt bellend auf mich zugelaufen, will mich aber wohl eher begrüßen als erschrecken. Er legt sich zu meinen Füßen, fixiert mein Brot und würde gerne mit mir teilen. Gerade als ich ihm ein Stück Rinde hinwerfen will, ruft sein Frauchen und er trottet mit eingekniffenem Schwanz zu ihr hin. Irgendwas ruft sie mir zu, und als ich sie bitte, es doch vielleicht mal auf Deutsch zu versuchen, meine ich herauszuhören: “Er versucht es immer wieder, dieser Lump, immer wieder!“

   Am Ortsanfang von Autigny kommt mir, während ich einen kleinen Hügel ersteige, ein jugendlicher Radfahrer entgegen, winkt mir zu und ruft im Vorüberfahren: “Ultreia!“ Diesen alten Ausruf der Jakobspilger, der so viel heißt wie “Weiter geht's!“, kennen nur Insider. War er auch schon auf dem Jakobsweg? Vielleicht sogar schon in Santiago? Gerne hätte ich ihn danach gefragt, doch er ist schon auf und davon.

   In Chavannes-sous-Orsonnens zweige ich vom Weg ab. Heute Abend erwartet mich ein Bett im Zisterzienserkloster von Orsonnens, geführt von Vietnamesen. Der Preis für die Unterkunft und Halbpension ist dort etwa um die Hälfte günstiger als eine Pilgerunterkunft in der benachbarten Umgebung. Als ich am Kloster ankomme, sehe ich zunächst mal nur Menschen, die in dem dazugehörigen Garten arbeiten. Bei genauerem Hinsehen bemerke ich, dass es Vietnamesen sind und einer von ihnen verweist mich auf den Haupteingang. Dort solle ich doch mal kräftig am Glockenseil ziehen, dann würde schon jemand kommen. Ich tue wie mir geheißen, und Sekunden später erscheint im dritten Stockwerk auf einem kleinen Balkon ein kleiner, älterer Vietnamese in T-Shirt und Jogginghose. “Guten Tag!“, ruft er in sehr gebrochenem Deutsch zu mir herunter. “Du Pilger? Du Telefon gestern? - Ich kommen!“

   Sekunden später wird die Tür geöffnet und ich werde mit einem breiten Lächeln begrüßt. Umgehend zeigt er mir den Raum, in dem ich essen werde. “Hier Abendessen halb sieben, Frühstück halb acht!* Dann steigt er mit mir eine Wendeltreppe hinauf bis in den zweiten Stock. Bei einer Tür mit der Aufschrift “Novizen“ geht es rechts in einen langen Flur. “Hier Toilette! Hier Dusche! Hier Zimmer, bitteschön! Schön wohnen!“ Er verbeugt sich tief, dreht sich um und geht.

   Mein Zimmer ist klein, ich möchte mal sagen, funktionell und - grottenkalt. Einen Heizkörper gibt es, aber seinem Sinn und Zweck geht er nicht im geringsten nach. Wirklich nachhaltig bringt die warme Dusche auch nichts und das warme vietnamesische (und sehr schmackhafte) Abendessen um halb sieben macht mich zwar pappsatt, wärmt aber nur kurzfristig etwas auf.

   Aber auf dem Esstisch steht eine Flasche Rotwein mit einem Korkenzieher daneben! Jetzt bedaure ich, das von Annika ausgeliehene Kochgeschirr samt Brennspiritus von Kandern aus wieder nach Hause geschickt zu haben. Gekocht hätte ich wahrscheinlich wirklich nie, aber jetzt hätte ich mir z.B. einen herrlichen Glühwein machen können. Na gut, dann nehme ich ihn eben mit auf mein Zimmer und schnassel ihn mir dort rein, vielleicht hilft es ja.

   Inzwischen ist die Flasche leer, ich sitze im kalten Zimmer an einem kleinen Schreibtisch, habe mich in meine Bettdecke gewickelt und beende gerade meinen Blogbeitrag. Ich friere zwar immer noch, aber das ist mir jetzt dank des Rotweins auch egal - und auch, dass ich den Artikel heute nicht mehr einstellen kann, weil ich kein Internet habe. Jetzt gehe ich ins Bett (21.40 Uhr) und da ist es erst recht kalt. Na prima!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmbVB4S3JWenoteTg/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Die Pilgertochter (Freitag, 02 Mai 2014 08:01)

    Ha! ich wusste, der Kocher würde dir bald fehlen, aber SO schnell?!? Und endlich ist es wieder Zeit für Honor-Boxen! Hach, da werden Erinnerungen wach... Und das mit dem Wein kann ich mir bildlich bildlich vorstellen. Hoffentlich waren die Kopfschmerzen am nächsten Tag nicht allzu schlimm. Oder ham se dich wieder verhauen?

  • #2

    Der Kronprinz (Freitag, 02 Mai 2014 08:33)

    Ist ja geil mit dem Hund und der Katze...!

  • #3

    Kulbach (Freitag, 02 Mai 2014 18:16)

    Jetzt habe ich schon länger "Opa's Homepage" nicht mehr aufgerufen und bin richtig platt wie weit Sie schon (per pedes) gekommen sind. Richtig beeindruckend!
    Ich hoffe der Rotwein hat wenigstens ein bisschen geholfen und die Kälte etwas vertrieben. Auf jeden Fall Ohren steif halten und weiter so. Ich finde wie Sie jedes Mal aufs Neue den inneren Schweinhund überwinden, grandios! Die Kulis


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