Genfer See erreicht!

Bressonnaz - Lausanne (30 km)

   Gehört habe ich die Züge nicht, das hat Ohropax verhindert. Nur wenn ich im Halbschlaf so ein Vibrieren verspürte, wusste ich, da ist wieder einer. Das Kommen und Gehen nebenan im Bad zwischen 6.30 und 7 Uhr, wenn die Jungs sich für ihre LKW's frisch gemacht haben, ist mir auch entgangen, also kann ich mich doch nicht beklagen. Nur wie die Männer mit dem Frühstück auskommen, ist mir schleierhaft.

   Ich finde, es hat lange nicht mehr geregnet und deshalb bin ich auch völlig entspannt, als ich nach draußen komme und es wieder dran ist. Schirm raus, Abmarsch! Eigentlich wollte ich heute bloß bis Epalinges gehen, einem größeren Ort fünf Kilometer vor Lausanne. Ich habe es mir aber anders überlegt, ziehe durch bis Lausanne und lege dort einen Ruhetag ein. Ein Zimmer ist schon für zwei Nächte gebucht, also alles in trockenen Tüchern. Außerdem ist Lausanne einen Ruhetag wert, ich muss mal wieder ein paar Sachen durchwaschen und die Schuhe putzen und einfetten.

   Nach 500 Metern gibt es ein Frischeerlebnis der besonderen Art. Der Weg führt als Pfad über eine Wiese, was an sich ja noch nichts Ungewöhnliches wäre. Da aber so früh im Jahr kaum Pilger unterwegs sind und das Gras plattgetreten haben und das Wachstum hier jetzt doch schon etwas fortgeschritten ist, stehen die Halme mehr als kniehoch. Als ich die andere Seite der Wiese erreiche, ist der untere Teil meiner Hose klatschnass, klebt an Knie und Wade und gibt eine angenehme Frische ab. Mein Wheelie freut sich auch, konnte er doch gar keine bessere Räderwaschanlage finden.

   Auf asphaltierten Feldwegen haben die Hosenbeine dann genug Zeit zum Trocknen. Ich bin über diese festen Wegstrecken eigentlich sehr froh. Die Füße ermüden darauf zwar grundsätzlich schneller, durch den Regen der letzten Tage und Stunden versinke ich aber nicht im Schlamm. Ganz anders geht es den Puten, die gerade von einem Bauern aus ihrem Stall gelassen werden und auf eine Wiese spazieren, die ihren Namen nicht verdient. Eigentlich ist es ein Schlammloch mit Grashalmen. Komischerweise sind ihre Federn strahlend weiß, kein Dreck klebt irgendwo dran. Waren die gestern Abend vorm Schlafengehen noch baden? Sie sind aber nicht nur sauber, sondern auch streitlustig. Mit ihren kehligen Kullerlauten (man/frau versteht, was ich meine?) kommen sie auf mich zugerannt und giften mich an. Vielleicht wissen sie, dass sie eine der wenigen Tierarten sind, zu denen ich keine richtige Beziehung aufbauen kann. Schon als Kind fand ich das optische Erscheinungsbild von Puten und besonders Truthähnen dermaßen abscheulich, dass ich immer gerannt bin, wenn ich an ihnen vorbei musste. Und da diese dann immer - zwar auf der anderen Seite des Zaunes, aber egal! - hinter mir hergelaufen sind, war irgendwann das Trauma perfekt. ICH MAG SIE EINFACH NICHT!

   Kilometerlang sehe ich dann zwei Pilger etwa dreihundert Meter vor mir herlaufen. So wie sie sich bewegen, kommt mir ein Verdacht. Nach einem kurzen, aber sehr glitschigen Aufstieg aus einem Bachtal kommt die Gewissheit. Auf der Bank vor der kleinen Kirche von Montpreveyres sitzt das österreichische Paar, das mir an der Klosterruine von Rüeggisberg begegnet ist. Ich wähnte es schon weit vor mir, wollte es doch am morgigen Samstag bereits in Genf sein, dem letzten Etappenort der Via Jacobi auf Schweizer Boden. Er schimpft wie ein Rohrspatz auf das Wetter, denn dies hat all ihre Pläne durchkreuzt. Mit mal eben unter einem tiefen Vordach oder in einer Bushaltestelle schlafen, wie geplant, klappte es eigentlich nie so richtig. Sie wollten doch immer so weit gehen, wie die Füße sie trugen und dann die Schlafsäcke zücken. Aber der Regen, die nächtliche Kälte, immer klamme Sachen am Leib und überhaupt... Wegen der letztendlich gefundenen Unterkünfte sind die meisten Etappen kürzer geworden als gedacht, ja und jetzt müssten sie schon in Lausanne aufhören. Das verdammte Wetter! Tja, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.

   “Ich will jetzt 'nen Kaffee! Im Dorf da gibt es bestimmt irgendwo einen“, knurrt der etwas desillusionierte Pilger und macht sich mit seiner Frau wieder auf den Weg. Zehn Minuten später treffe ich sie an einer Bushaltestelle wieder. Er ist ins Kartenstudium vertieft und sie kocht gerade auf einem kleinen Campingkocher zwei Tassen Kaffee. “Da habt ihr aber ein gemütliches, kleines Cafe gefunden“, kann ich mir im Vorübergehen nicht verkneifen. Sie dreht sich noch nicht mal um und er lächelt nur süßsauer zu mir herüber. Ich gehe ungefähr 300 m in diesem langgestreckten Straßendorf an der verkehrsreichen Kantonalstraße entlang, als vor mir ein kleines Restaurant mit vielen davor parkenden Autos auftaucht. Hier hätte es bestimmt einen leckeren Kaffee gegeben.

   Nach dem Asphaltabschnitt des heutigen Tages folgt nun der Waldteil. Und dieser Waldteil kann es fast mit dem E1 hinter Balduinstein aufnehmen. Regen, Forstmaschinen und Pferde haben ihr Bestes gegeben, um dem Pilger ein wenig Mühsal aufzuerlegen. Jedenfalls kann ich nun mit stolz geschwellter Brust, aber verschlammt wie eine Wildsau nach der Suhle in das mondäne Lausanne einziehen.

   Vorher aber überschreite ich noch im Bois du Jorat, auf einer Höhe von 876 m ü. NN die Wasserscheide zwischen den Gewässern des Rheins und der Rhône, also zwischen Nordsee und Mittelmeer. Bis Santiago, sagt mir noch der zusätzliche Hinweis auf dem großen Schild am Wegesrand, sind es von hier aus noch 1.965 km. Und bis Rom, bitte?

   Durch das vorstädtische Gebiet von Les Croisettes komme ich zu einer etwas exponiert auf einem kleinen Hügel stehenden Kapelle - und stehe umvermittelt vor einem grandiosen Ausblick hinunter auf den Genfer See und auf die Dächer von Lausanne. Ich stehe wie angewurzelt und staune. Zwar gibt es heute nicht den Postkartenblick, mit blauem Himmel, blauem See und weiß glänzenden Bergen im Hintergrund, sondern nur tief hängende dunkle Wolken, einen grauen See, über dem gerade weiter hinten ein dicker Schauer niedergeht und wolkenverhangene Berge, trotzdem schnürt es mir ein wenig die Kehle zu. Nach 950 Kilometern, fast der Hälfte meiner Gesamtstrecke, und 45 Wandertagen habe ich ein großes Zwischenziel erreicht. Der E1 ist schon lange Vergangenheit, jetzt auch der Jakobsweg in der Schweiz. Andere werden diesen Weg in den nächsten Tagen und Wochen weitergehen. Ich biege hier ab nach Rom. Aber nicht morgen, übermorgen erst.

   Der Abstieg auf Seehöhe hat es nochmal in sich, aber kaum habe ich den letzten Wald hinter mich gelassen, stehe ich auch schon vor der Kathedrale. Drinnen gibt es im rechten Teil des Querschiffes eine Ecke speziell für Pilger, wohin sie sich zum Ausruhen oder zur inneren Einkehr zurückziehen können. Der Pilgerstempel liegt dort ebenfalls aus. Ich begebe mich für einen Moment der Ruhe an diesen Platz und genieße es.

   Von der Kathedrale führt eine überdachte Holztreppe in die Altstadt hinab auf den Marktplatz. Menschen drängeln sich. Hier sind es noch die Touristen, 200 m weiter in der Einkaufszone sind es die Einheimischen, die nach einem Arbeitstag noch durch die Geschäfte rennen. Dann aber kommen die prunkvollen Hotels und Villen, der kolossale Justizpalast und die blumengeschmückten Grünanlagen, die auf dem Weg zu meiner Unterkunft liegen. Die Avenue de Tivoli führt schon wieder etwas aus dem Zentrum heraus und ich habe fast das unscheinbare Wohnhaus mit den Pensionszimmern im dritten Stockwerk erreicht, als mir an einer Pizzeria die beiden Worte “Pizza Hawaii“ entgegenprangen. Sofort fällt mich ein unbändiger Hunger an. Ich schnalle den Wheelie ab und habe Sekunden später auch schon die Bestellung aufgegeben. Pizza Hawaii zur Feier des Tages und zur Belohnung nach einem 30-Kilometer-Tag!

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Montag, 05 Mai 2014 08:50)

    Wow! Echt cool. Aber unser Vater hat ein Puten-Trauma?!

  • #2

    Die Pilgertochter (Montag, 05 Mai 2014 08:52)

    Wie kannst du bei deinen schmucken roten Wandergamaschen, die du doch in den Alpen 24/7 getragen hast, nasse Hosenbeine kriegen?!?


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