Absoluter Top-Trail

Lausanne - Vevey (23 km)

   Ich fass es nicht! Ich schaue morgens aus dem Fenster und die vorherrschende Farbe am Firmament ist - Blau! Wenn sich das hält, ist das eine Punktlandung. Bei den bisherigen schönsten Streckenabschnitten hatte ich bisher immer die Sonne vor der Stirn. Sollte das heute wieder so sein? Alle Wanderführer und Reiseberichte, die ich im Vorfeld über die Via Francigena gelesen habe, sprechen von den beiden Etappen am Genfer See entlang als einem der Höhepunkte des gesamten Weges - bei gutem Wetter. Darf ich das tatsächlich so erleben?

   So schnell wie möglich mache ich mich auf die Strümpfe. Als ich vor dem Haus bin, ist es zwar kalt, aber der Wind ist nicht mehr so biestig wie gestern Nachmittag und die Sonne strengt sich bereits an. Wieder fahre ich mit der Metro bis an den See hinunter und bin sofort überzeugt, dass es ein herrlicher Tag werden wird. Obwohl es noch recht früh ist, sind schon viele Menschen unterwegs. Eigentlich sind es die typischen Menschen für diese Uhrzeit an einem Sonntagmorgen bei schönem Wetter: Jogger und Gassigeher. Auf der Seepromenade zwischen Ouchy und Pully begegnen sie mir scharenweise und ich will nicht wissen, was wahrscheinlich heute Nachmittag hier los ist. Alle haben wohl darauf gewartet, dass die eher grauen Tage bald vorbei sind.

   Auf der Mauer der Promenade sind Bilder angebracht, die dem vorbeiwandelnden Spaziergänger (oder Pilger der Via Francigena) etwas davon vermitteln wollen, wie es hier vor hundert Jahren und mehr ausgesehen hat. Die Promenade gab es damals schon und schick angezogene Damen in langen Kleidern, großen Hüten und Sonnenschirmen lustwandeln mit ihren Herren genau daher, wo ich jetzt mit meinem Wheelie entlangziehe. Die gepflegten Rabatten, die die Promenade von der Straße trennen, gab es damals auch schon, nur die jetzt mächtigen, alten Bäume waren um 1900 gerade erst gepflanzt. Wenn sie sprechen könnten, hätten sie viel zu erzählen und ich würde gerne zuhören. Sie haben erlebt, wie sich das Leben, die Menschen und die Welt in über hundert Jahren verändert haben. Würden sie urteilen, dass alles besser geworden ist?

   Kurz vor dem kleinen Hafen von Pully, als aus der Promenade nur noch ein schmaler Uferweg geworden ist, sehe ich zwischen Steinen und grobem Kies eine Entenmutter mit ihren Küken. Als sie mich bemerken, verschwinden sie alle blitzschnell unter der Mutter. Ich bleibe einen Moment ruhig stehen und es dauert nicht lange, bis die Mutter ihren Kleinen mit einem kurzen Quaken wohl signalisiert, dass von mir keine Gefahr ausgeht, und alle krabbeln wieder unter ihr hervor. Direkt wird wieder gewatschelt und getippelt, gepickt und gepiept und kopfüber ins Wasser gesprungen.

   Der Weg wird immer enger. Eigentlich ist es nur noch ein höchstens ein Meter breiter Streifen, linker Hand Zäune, Hecken, Hauswände oder Mauern, rechter Hand unmittelbar das Wasser des Sees. Wenn jemand entgegenkommt, müssen wir schon aufpassen. Ein falscher Schritt, und man liegt im See. Kirchenglocken läuten, eine Segelregatta zieht an mir vorbei, Möwen kreischen, Reiher stehen wie ihre eigenen Denkmäler unbeweglich auf Felsen in Ufernähe und Enten und Schwäne ziehen im Wasser ihre Bahnen. Die Berge jenseits des Sees haben nur noch einen dicken Wolkengürtel umgelegt, ihre Spitzen ragen, von der Sonne beleuchtet, aus ihm heraus.

   Beim Hafen von Lutry zeigt eine Karte, wie diese Berge heißen und wie hoch sie sind. Die Namen habe ich alle vergessen, behalten habe ich, dass die höchsten von ihnen mit ihren schneebedeckten Gipfeln ungefähr 300 m niedriger sind als der St. Bernhard-Pass. Au Mann, wie soll das gehen? Im Moment kann ich mir eine Überquerung jedenfalls nicht vorstellen. In ein paar Tagen weiß ich mehr.

   In Cully mache ich Rast auf einer Bank am Seeufer. Kurz nach diesem Ort ist es mit dem Weg direkt am Wasser entlang vorbei und es geht, wie schon vorher mal für ein paar Kilometer, hoch in die Weinberge. Es wird auch immer wärmer und ich kann endlich den Anorak ausziehen. Außerdem ist mir gerade eingefallen, dass ich mir noch nicht den Via-Francigena-Wimpel an den Rucksack gehängt habe. Kerstin, die mich zusammen mit ihrem Mann Hans-Jürgen in Bretten mit ihrem Besuch überraschte, hatte ihn mir seinerzeit mitgebracht und geschenkt. Ab Cully also hängt das Erkennungszeichen der Rompilger an meinem Rucksack und flattert fröhlich vor sich hin.

   Hunger habe ich jetzt auch noch, und obwohl das jetzt noch nicht die Zeit dafür ist, hole ich mein Brot raus. Aber was heißt hier Brot? Zwei Scheiben von dem fluffigen Frühstückstoast habe ich mir heute Morgen bei Madame Doris gemacht, das wird auch nicht lange vorhalten. Vor allen Dingen dann nicht, wenn man auch noch teilen muss. Während ich nämlich in den Toast beiße, kommt ein kleiner Schwarm Spatzen angeflattert und möchte, bitteschön, ein paar Krümel abhaben. Sie platzieren sich neben mich auf der Sitzfläche der Bank, auf der Rückenlehne, zu meinen Füßen und schauen mick keck an. Einer ist besonders mutig. Keinen halben Meter von meinem Mund entfernt flattert er herum und bittet mich jetzt tschilpend sehr eindringlich, doch endlich mal was springen zu lassen. Ich bin nun niemand, der Enten am Teich mit altem Brot füttert und schon mit der Winterfütterung der Vögel habe ich meine Probleme, aber das kann man jetzt mit mir nicht machen. Ein Stück vom trockenen Rand zerbrösel ich zwischen Daumen und Zeigefinger und streu mir die Krümel auf meine auf dem Wheelie ruhenden Beine. Dann hole ich meine Kamera heraus und mache sie startklar. Und tatsächlich! Erst kommt der Kecke und lässt sich auf meine Oberschenkel nieder, dann folgen zwei andere. In Nullkommanix sind die Krümel weg und wenig später die Spatzen auch.

   Die nächsten Kilometer durch die Weinberge des Lavaux gehören mit zu den schönsten Strecken, die ich je gewandert bin. Ich kann mich nicht sattsehen an den steil abfallenden Weinbergterrassen, durch die ich auf breit angelegten Wegen wandere, an den kleinen Winzerdörfern, von denen einige bereits römischen Ursprungs sind, weil sie an der alten Handelsroute der Römer von Italien nach Gallien lagen, an der tiefblauen unter mir liegenden Seefläche, auf der Segelboote kreuzen und Schaufelraddampfer entlangtuckern und letztlich an dem gewaltigen Bergpanorama der Walliser Alpen. Bei mir baumelt die Seele genussvoll vor sich hin.

   Die Weinberge des Lauvax zählen aufgrund ihrer Ursprünglichkeit und Steilheit seit 2007 zum Unesco-Weltkulturerbe. Die Terrassen gehen bis auf das 12. Jahrhundert zurück, als die Steilhänge damals von Mönchen befestigt und, wie der Name schon sagt, terrassiert wurden. Heute gehören sie zu den bekanntesten und beliebtesten Weinanbaugebieten der Schweiz.

   Unten auf der Straße, die immer nah am Ufer des Sees entlangführt, windet sich ein Lindwurm von Radfahrern. Zwischen Cully und Vevey ist autofreier Sonntag und so radeln sie alle dahin, auf Rennrädern oder Mountainbikes, Familien mit kleinen und großen Rädern und mit Babyanhängern, Pärchen auf Tandems und auch die Skater. Da ansonsten Ruhe im Weinberg herrscht, höre ich die Unterhaltung, das Lachen und manchmal auch das Gejohle der strampelnden Menschen bis zu mir herauf. Ich sehe Verpflegungsstände entlang der Straße, wo sich Menschen knubbeln und auf Bänken und an langen Tischen sitzen, um sich mit Waffeln, Würstchen, Bier und Wein zu stärken und sich zu erholen. Eigentlich hätte ich jetzt auch gar nichts gegen einen kleinen Wein-Verköstigungsstand hier im Weinberg einzuwenden. Kleine, überdachte Rastplätze, wo zur Weinlese bestimmt der ein oder andere Liter zum Probieren fließt, gibt es ja. Die Frage ist nur, in welchem Zustand ich dann, mit der heutigen Grundlage von fünf Scheiben Toastbrot, in Vevey landen würde.

   So komme ich um 15 Uhr bestens gelaunt und Herr meiner Sinne, die auf der heutigen Etappe bestens bedient worden sind, über Rivaz, Saint-Saphorin, Burignon und Corseaux in Vevey an. Das Guesthouse am Place du Marche ist auch schnell gefunden und damit ein wunderbarer Wandertag zu Ende. Das bitte morgen nochmal, dann kann es ruhig mal wieder regnen. Vorhergesagt ist es.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmT3ZtcGNqem1NNUk/

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Montag, 05 Mai 2014 16:08)

    Jetzt ist es offiziell! Der Papa ist ein alter Mann! Er ist ein Vogelfütterer!

  • #2

    Der Kronprinz (Montag, 05 Mai 2014 17:24)

    Geil!!! Und den Pass schaffst du schon...


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