Bei den Schönen und Reichen

Vevey - Aigle (26 km)

   Die Sonne scheint direkt in mein Zimmer auf mein weißes Bettzeug, so dass ich fast geblendet bin, als ich meine Augen aufmache. Das Morgenlicht draußen ist richtig gleißend und die Berge jenseits des Sees spiegeln sich im Wasser. Auf dem großen Place du Marche parken kaum Autos, wodurch er noch größer wirkt. Viele Menschen sind dort noch nicht auf den Beinen, nur der Mann mit dem Presslufthammer von der Baustelle nebenan beginnt gerade mit seiner Arbeit.

  Mein Frühstück bestreite ich aus meinen spärlichen Lebensmittelvorräten, denn über acht Euro für drei Scheiben Toast, Marmelade und einen Kaffee bin ich nicht bereit zu zahlen. Was die Qualität des Frühstücks angeht merke ich, dass ich Italien näherkomme, ich hoffe nur, dass die Preise nicht so bleiben.

   Mit meinen Camembertbroten und einer Tasse Tee gehe ich raus auf die Dachterrasse meiner Unterkunft und ergattere den einzigen Stuhl, der schon von der Sonne beschienen wird. Ich kaue und schlucke in Ruhe, während am Tisch neben mir ein junges japanisches Pärchen seine Nasen in einem Reiseführer vertieft hat und den nächsten Urlaubstag plant.

   Ich weiß, was mich heute erwartet: Promenadengänge im Dunstkreis der High-Society im ersten Teil des Tages, etwas eintöniges Kilometerabreißen im Rhonetal im zweiten Teil. Dann noch warten auf meine Zimmerwirtin, die erst gegen 17.30 Uhr zu Hause sein wird. Trotzdem bin ich schon früh unterwegs, bei dem Wetter hält mich keiner länger im Haus.

   Die Strecke beginnt, wie sie gestern auch begonnen und geendet hat. Die Seepromenade hat mich wieder. Obwohl heute ein Werktag ist, sind viele Jogger, Hundebesitzer und Skater unterwegs. Also entweder tun sie das vor ihrer Arbeit oder sie haben es nicht mehr nötig zu arbeiten. In kleinen Yachthäfen werden die “Boote“ geputzt und in den üppigen Blumenrabatten suchen die Mitarbeiter der Grünflächenämter nach Zigarettenkippen. Wanderer sehe oder treffe ich hier keine und ich habe das Gefühl, als passe ich hier überhaupt nicht ins Bild. Ich bin ja nur froh, dass ich vorgestern noch meine unteren Hosenbeine gewaschen habe, sonst hätte hier wahrscheinlich jeder einen großen Bogen um mich gemacht.

   Noch in Vevey komme ich an der Statue von Charly Chaplin vorbei, der hier auch schon wandelte, genauso wie manch anderer Künstler der verschiedenen Gattungen. Direkt gegenüber von ihm steckt eine große, silberne Gabel im Genfer See. Im Rahmen einer Ausstellung zum Thema “Tischbesteck“ im nahegelegenen Ernährungsmuseum, dem Alimentarium,  im Jahr 2007 fand es ein Künstler ungeheuer witzig, diese Gabel hier zu installieren nach dem Motto “den Genfer See genießen“. Der Erfolg gibt ihm recht. Kaum einer achtet auf Charly Chaplin, alle bestaunen die Gabel.

   Die Promenade von Vevey geht praktisch in die von Montreux über. Und hier bekommt man den Mund überhaupt nicht mehr zu. Subtropisch anmutende Vegetation, ein Meer an Blumen, Kunstobjekte der verschiedensten Art, Luxushotels, Segelyachten, Casino - und eine Statue von Freddy Mercury direkt am Seeufer bei der großen Markthalle.

   Wo das Mondäne so langsam abklingt, steht auf einer kleinen Insel nahe am Seeufer das Château de Chillon. Ein “wunderbares Postkartenmotiv“ sagen die einen, ein “Märchenschloss“ die anderen. Wirklich schmuck sieht es aus. Ich könnte es besichtigen, aber nicht für einen Preis, der mir wieder die Tränen in die Augen treibt. Stattdessen lasse ich mich nicht weit vom Kassenhäuschen auf einer Bank zur Rast nieder und genieße die Fotoshootings, die hier veranstaltet werden. Immer wieder nett zu beobachten: unsere lieben Freunde aus Japan. Ihre Eigenschaft, sich grundsätzlich vor jedes Motiv wie eine Litfaßsäule aufzubauen, ohne jede Gemütsregung, hat mich schon immer fasziniert. Bei meiner Bank, von wo aus man einen sehr schönen Blick auf die Disney-Wasserburg hat, zieht ein Ehepaar mit erwachsener Tochter das volle Programm durch. Jeder der drei fotografiert die beiden jeweils anderen mit seiner Kamera, einmal Totale, einmal Halbprofil, und immer stehen sie da, wie eine in Marmor gehauene Säule. Ein deutsches Ehepaar mit Schoßhund kann das aber wenig später genauso, bei ihm kommt nur noch der Camcorder hinzu. Und das alles fünf Meter von mir entfernt. Ich hätte mich wegschmeißen können...

   Der letzte Ort für mich am Genfer See ist Villeneuve, dort, wo die Rhone in den See einmündet. Aber er hat nichts mehr von dem Flair der Schönen und Reichen, wie Lausanne, Vevey und Montreux. Ich gehe noch bis zum Schiffsanleger am Ufer entlang, dann ist das Erlebnis Genfer See für mich vorbei und ich zweige ab ins breite Rhonetal.

   Wie anders ist doch hier die Landschaft: zersiedelt, Industrieanlagen, monotone Landwirtschaft. Der Weg geht entweder über den geschotterten Damm eines kanalisierten Bergbaches oder über eine kilometerlange schmale Straße an einer Bahnlinie entlang. Nur die Berge, die links und rechts immer höher aufragen, vermögen meine Blicke auf sich zu ziehen und etwas von der Langeweile zu nehmen. Außerdem fehlt die frische Luft der See. Es ist auf einmal viel wärmer, fast schon drückend.

   Der direkteste Weg zu meinem heutigen Etappenziel Aigle würde nun auch weiterhin immer an der Bahn entlangführen, aber als wollte man etwas wiedergutmachen, wird der Pilger auf der Via Francigena zum Schluss nochmal bergauf in die Weinberge und in kleine Winzerdörfer geleitet. Das verlängert die Strecke zwar künstlich und war bestimmt auch nicht der Weg der Pilger im Mittelalter, aber es ist nochmal was fürs Auge und für die Seele. Weil ich heute noch Zeit habe, lasse ich das mit mir machen, aber mit den Weinbergen der Lavaux kann das hier bei weitem nicht mithalten.

   Um 15 Uhr stehe ich an meiner Unterkunft und ich weiß, hier kommst du jetzt erstmal nicht rein, Madame ist noch nicht zu Hause. Aber hier kann ich gut warten. Die Terrasse ist sonnenbeschienen, ich kann mich prima hinsetzen, ausruhen und mich sogar schon der “Büroarbeit“ widmen. Madames Katze streicht dabei um meine Füße herum, und als ich den Fehler mache, sie ausgiebig zu streicheln, springt sie direkt auf meinen Schoß und tackert sich an meinen Oberschenkeln fest.

   Eine Stunde früher als angekündigt kommt Madame mit ihrem Freund angefahren. Sie waren auf einer kleinen Wanderung und die war eben mal etwas eher zu Ende. Sofort stürzen sich beide auf mein Wheelie und sind ganz begeistert. Genau so etwas haben sie schon lange gesucht. Sie gehen gerne und lange wandern, nur vor einer Mehrtageswanderung haben sie sich immer gescheut, weil Madame es hasst, sich einen schweren Rucksack überzuwerfen. Der Freund schreibt sich den Namen des Herstellers auf, vielleicht wird es ja jetzt bald mal was mit einer längeren Tour.

   In ihrer Begeisterung holt Madame drei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und wir trinken sie mit Wonne. Ich erzähle auf Anfrage von meiner Reise, von dem, was schon war, und von dem, was noch kommen wird. Und dabei macht Madame eine wichtige Aussage. “Über den St. Bernhard-Pass kommen Sie aber noch nicht rüber. Da liegt noch viel zu viel Schnee. Bis Bourg-Saint-Pierre geht's, dann müssen Sie mit dem Bus durch den Tunnel.“ Was ich schon die ganze Zeit befürchtet hatte, wird jetzt wohl zur Gewissheit. Es wird nicht gehen. Verdammt! Wie gerne wäre ich, bei aller Mühen, da oben rübergegangen und hätte im Hospiz bei den Mönchen übernachtet. Na gut, sollte halt nicht sein. Ich werde mich zwar nochmal endgültig in Martigny oder bei den Mönchen oben im Hospiz selbst erkundigen, aber ich denke, ich werde mich damit abfinden müssen. Madame merkt, dass ich leicht angefressen bin und bemerkt trocken: “Bleiben Sie noch drei Wochen hier bei mir und erholen Sie sich. Das haben die Pilger im Mittelalter auch so gemacht. Und dann gehen Sie rüber.“

Ich lache gequält und frage, ob sie für einen gefrusteten Pilger noch eine zweite Flasche Bier hat.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmSFFpLWtfUEVRWFU/

 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Peter (Dienstag, 06 Mai 2014 08:31)

    Lieber Reinhard, gestern Abend noch habe ich Deinen Blogeintrag gelesen und teile Deine Befürchtung in Bezug
    auf die Pass-Überquerung. Selbst wenn die Schneemenge sich schnell verringern würde kämen Vereisungen und gefährliche Glätte hinzu.
    Ich könnte mir vorstellen das Du einen Plan B hast.
    Durch den Tunnel bist Du ja schneller In Rom. Du baust also ein Zeit-Pluskonto auf. Schaun wir mal.
    Ansonsten Danke für Deine täglichen Berichte und alles
    Gute für die kommende Zeit.
    Gruß aus Lohmar
    Peter

  • #2

    Lore (Dienstag, 06 Mai 2014 20:40)

    Hallo Reinhard,

    hab grad mal nachgegoogelt:
    Die Gabel ist 8 Meter hoch!!!
    Die Höhe interessierte mich doch.

    Noch eine Idee wegen der Passüberquerung: Du kannst doch jetzt mit dem Bus durch den Tunnel fahren und dann auf dem Rückweg von Rom eine Fahrstrecke wählen, die es ermöglicht, dass Du über den Pass wandern kannst und dann weiter fährst. Wie auch immer.
    Bin gespannt.

    Lieben Gruß
    Lore

  • #3

    Der Kronprinz (Mittwoch, 07 Mai 2014 09:58)

    Das liest sich ja toll!!! Blöd nur die Sache mit dem Pass. Aber die Idee das ganze auf dem Rückweg zu machen ist doch Super und eine echte Alternative, oder?

  • #4

    Kerstin (Mittwoch, 07 Mai 2014 15:21)

    Hallo, Reinhard,

    liebe Grüße aus Pontremoli schicken Dir in die Schweiz Kerstin und Hans-Jürgen.
    Schön, dass der Wimpel jetzt am Wheelie flattert.
    Die Königsetappe liegt hinter uns. Du schaffst das und Wheelie auch.
    Das Frühstück hier wird nicht üppiger aber bezahlbar.
    Hochachtung !
    Bis bald, die VF-Pilger Kerstin und Hans-Jürgen !


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