Straßensprint

Martigny - Orsières (18 km)

   Ich habe mich innerlich damit abgefunden, dass ich das Hospiz oben am St. Bernhard-Pass nicht erreichen werde. Immer war mir klar, dass das ein großes Fragezeichen meiner Reise sein wird. Nach dem - jedenfalls bei uns - ausgefallenen Winter keimte bei mir zwar nochmal Hoffnung auf, aber das war dann wohl mehr Augenwischerei. Jetzt ist der Kittel geflickt, wer weiß, wofür es gut ist, ich gehe zu Fuß, was ich zu Fuß gehen kann und damit hat es sich. Das ist nun der Plan: Morgen wandere ich, wie vorgesehen, nach Bourg-Saint-Pierre, übernachte dort, fahre am nächsten Morgen früh mit dem Bus durch den Tunnel bis Saint Oyen (da kommt die Straße wieder aus dem Berg) und wandere von da aus bis Aosta. Die gesamte Aktion bringt mir ein Plus von zwei Tagen, das ich dazu nutzen werde, aus späteren langen Etappen kürzere zu machen.

  Für die vier Augustinermönche oben im Hospiz tut es mir ja leid, dass sie in ihrer weißen Einsamkeit keinen Besuch und damit auch keine Abwechslung bekommen. Aber das dürfte für sie ja nicht das erste Mal sein. Ich hätte nur wirklich gerne erfahren, wie diese vier Menschen, abgesehen von der Einhaltung ihrer Ordensregeln, auf einer Höhe von 2.473 m, inmitten von meterhohen Schnee- und Eismassen, ihren Alltag verbringen, über Monate hinweg. Was müssen die für Heizkosten haben! Dass es nur noch vier Mönche sind, hat damit zu tun, dass viele ihrer Brüder in den Tälern die Seelsorge sicherstellen müssen. So banal das klingt, da der Priestermangel immer größer wird, müssen sie aushelfen, in einem weiten Umfeld. Nach welchen Kriterien da wohl ausgewählt wird, wer oben bleiben muss oder wer ins Tal, ins Grüne, zu den Menschen darf. Wer entscheidet das? Wie werden die Vier da oben versorgt? Mit Hubschraubern, Motorschlitten...? Monatelang aus Konserven leben kann es ja nicht sein. Übrigens, das mit den vier Mönchen im Hospiz und den anderen in den Talgemeinden weiß ich nicht aus meinem Wanderführer oder aus dem Internet. Die liebe Frau aus dem Pfarrbüro gestern in Martigny hat mir das alles erzählt. Einige der Mönche leben z.B. im Pfarrhaus in Martigny und besuchen von dort aus ihre Seelsorgebereiche. Genauso ist es in Orsieres, wo ich heute übernachte.

   Wie schön, nach einem geruhsamen Schlaf bereite ich mir heute Morgen in “meiner“ Wohnküche ein gemütliches Frühstück. Genauso, wie ich mir gestern Abend aus Restbeständen an Nudeln und einer Dose Rindfleisch ein köstliches Mahl bereitet habe, kann ich mich jetzt ohne Schuldgefühle am Instantkaffee vergreifen, den frühere Gäste hier irgendwann mal zurückließen. Mit meinen dick beschmierten Camembertbroten, deren intensiver Geruch hoffentlich nicht in den Gardinen hängenbleibt, werfe ich mich in die Couch, schalte das Radio ein und schaue auf meinem Tablet nochmal auf die Wettervorhersage. Die verspricht einen schönen Tag und eine halbe Stunde später bin ich “on the road again“.

   Und das ist mal wieder wörtlich zu nehmen. Die Worte meines Wanderführers sind eindeutig: “Von Martigny bis Bovernier anspruchsvoller, zum Teil alpin anmutender Steig, für trittsichere und schwindelfreie Wanderer jedoch gut zu gehen.“ Wie das ist für Wanderer, die einen Wheelie hinter sich herziehen, wird nicht gesagt. Nur noch “... manche Abschnitte sind mit Ketten, Rosten und Gittern gesichert.“ Damit steht fest: ICH gehe diesen Abschnitt NICHT. Mit dem folgenden Zusatz bin ich allerdings gar nicht einverstanden: “Wer sich das nicht zutraut, kann die Strecke mit der Bahn zurücklegen.“ - Gepfiffen! Natürlich gibt es eine Alternative. Die Straße!

   Nun muss man wissen, dass es sich bei dieser Straße um die Grenzverkehrsstrecke zwischen der Schweiz und Italien handelt, zum Tunnel des St. Bernhard-Pass hoch Richtung Aosta. Der Verkehr ist entsprechend, selbst in Nicht-Ferienzeiten. In der Hoffnung, dass es immer einen ausreichenden Seitenstreifen geben wird, den z.B. auch Fahrradfahrer nutzen, düse ich bestens gelaunt los.

   Das mit dem Seitenstreifen dauert ca. einen Kilometer. Wer den gefährlichen Wanderabschnitt bis Bovernier vermeiden will, muss aber zwangsläufig, um eine nachfolgende schwierige Passage zu umgehen, die Straße weiterhin entlangmarschieren bis Sembrancher, und das sind zusammen zehn Kilometer. D.h. neun Kilometer ohne Seitenstreifen - und das kostet mich schon etwas Nerven. Ich gehe zwar vorschriftsmäßig links, aber auf der Seite kommen mir auch die Autos und LKW bergab entgegengeschossen. Ich gehe sehr zügig, um das hinter mich zu bringen, aber gewisse Abläufe wiederholen sich für die nächsten knapp zwei Stunden durchgehend: Geräuschwolke von vorne, Hand auf den Hut, leichter Ausfallschritt nach links, LKW oder Auto hupt, rechte Schulter nach innen beidrehen, Druckwelle von vorne abfangen, Windschleppe vorbeiziehen lassen, leichter Ausfallschritt nach rechts... Auf jeden Fall bin ich auf diese Art und Weise viel schneller in Sembrancher als über die andere Alternative.

   Die Passstraße führt an Sembrancher vorbei und die Ruhe nach diesem, sagen wir es ruhig, Verkehrsinferno, ist dort himmlisch. Jetzt könnte ich eine Bank gebrauchen, um mal kurz abzuschalten, um das Rauschen der Autos aus dem Kopf zu kriegen. Die kommt aber erst nach dem Ort, als der richtige Aufstieg für heute bereits begonnen hat. Aber sie ist genau richtig. Sie ist breit, ohne Lehne und ich kann mich drauflegen. Also, Wheelie ausklinken, Rucksack und Kameratasche ab und flachlegen, herrlich! Ich schließe die Augen, die Sonne wärmt, ein leichter Wind geht, Vögel und Grillen wetteifern miteinander und nur noch ganz weit entfernt höre ich den Verkehr. Ich lasse mich ganz tief fallen und bin nach kurzer Zeit prompt in Morpheus' Schoß gelandet.

   Erst ein schriller Pfeifton schmeißt mich fast von der Bank. Es ist die Bahn, mit der ich, laut Wanderführer, hätte von Martigny nach Sembrancher fahren sollen. Man kann aber auch direkt nach Orsieres weiterfahren, dort ist nämlich die Endhaltestelle des “St.-Bernhard-Express'“. Eine Viertelstunde etwa muss ich geschlafen haben. Ich setze mich auf, schüttele einmal kräftig den Kopf und schnüre mir wieder die Schuhe. Das hat gutgetan, es kann weitergehen!

   Eine halbe Stunde lang geht es jetzt happig bergauf, ich muss schließlich merken, dass ich in den Schweizer Alpen bin. Allzuviel wird mir aber nicht abverlangt. Gerade, als meine Schweißproduktion richtig einsetzen will, bin ich auch schon oben. Und von nun an geht's bergab. Weit geht der Blick ins Tal hinunter, wo die Passstraße sich Richtung Orsières vorarbeitet, auf der anderen Seite erhebt sich eine mächtige Bergflanke, teils dicht bewaldet, teils aber auch mit Weiden überzogen, auf denen Kühe grasen. Bei einer weiteren Rast mit Butterbrot, Landjäger und kühlem Bergwasser beobachte ich sie genauer. Bei diesem Gefälle des Hanges muss doch für die Kühe das Weiden richtige Arbeit sein. Das geht doch eigentlich wirklich nur mit einem Paar längeren und einem Paar kürzeren Beinen. Wenn die mal ins Straucheln kommen, landen die unten auf der Passstraße. Ich darf da gar nicht so genau hingucken.

   Wieder recht früh, dank meines Straßensprints, stehe ich in Orsières vor der Tür des Pfarramts neben der großen Kirche und klingel. Offensichtlich die Haushälterin der hiesigen Mönchsgemeinschaft öffnet mir sanft lächelnd die Tür. Ich bin ja wieder angemeldet und noch sind keine anderen Pilger in dieser Gegend auf dem Weg. So nimmt sie sich Zeit für mich, fragt mich aus, holt mir ein Glas Saft zur Erfrischung und bringt mich dann rüber ins kleine Nachbarhaus, zeigt mir alles und verabschiedet sich. Den Schlüssel soll ich ihr morgen früh wieder rüberbringen.

   Wenn nicht gerade durchziehende Pilger hier schlafen, ist es wohl so etwas wie der Versammlungs- und Unterrichtsraum für Jugendliche und Kinder der Gemeinde. Es stehen aber auch Matratzen an der Wand gelehnt und Decken liegen bereit. Ich kann mich betten, wo ich will. In einer kleinen Ecke steht eine Miniküche, Töpfe, Pfanne, Teller, Besteck, alles da. Heute wird aber nicht gekocht, man kann auch alles übertreiben. Schließlich habe ich noch Brot und Käse. Aber auf der Spüle steht auch noch ein Wasserkocher, ganz hervorragend! Kaffee und Tee geht doch immer!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmMGY4R0U3YUp2UE0/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Freitag, 09 Mai 2014 06:53)

    Oje, die Straßensprinterei erinnert mich an unseren Schnellstraßenmarsch in Frankreich letztes Jahr im Sprühregen, als die arme Sira bei jedem vorbeifahrenden Auto bald umgeschmissen wurde vom Fahrtwind.

  • #2

    Der Kronprinz (Samstag, 10 Mai 2014 13:07)

    Dass dir der Camembert nicht langsam zu den Ohren raus kommt. Wie viel hast du eigentlich schon abgenommen?


Translation: