Wieder Unterbodenwäsche

Saint Maurice - Martigny (19 km)

   Eigentlich wäre heute Morgen überhaupt kein Wecker nötig gewesen. Pünktlich um 7.30 Uhr bricht draußen ein Höllenlärm los. Der Presslufthammer der Straßenbaufirma tritt in Aktion. Vor der Klosteranlage wird die Straße komplett erneuert. Vielleicht spekuliert auch die Kommune darauf, dass der Papst zum Jubiläum des Klosters kommt und will schonmal ein wenig was schön machen.

   Mein “Abholdienst“ steht wieder am Klausureingang bereit, um mich zum Frühstück in den Speiseraum zu begleiten. Auf den Tischen stehen noch die Überreste des Frühstücks der Mönche. Die schmutzigen Teller und Tassen und das Besteck sind zwar ordentlich auf einem Wagen abgestellt, aber Brotkörbe, Käseteller (nix Wurst!), Marmeladenschüsselchen und Butterteller stehen noch herum. Das erledigen die Chorherren nicht selbst, sondern haben dafür ihre dienstbaren Geister.

   Mein Mönch kümmert sich rührend um mich, holt mir ein frisches Brot, obwohl noch genügend Reste in den Körben liegen, besorgt mir aus der großen Maschine einen Kaffee, schiebt Marmelade, Käse und Butter in die Nähe meines Tellers und unterhält sich im Rahmen seiner Deutschkenntnisse mit mir sehr angeregt. Immer wieder fragt er mich, ob von allem genug da sei und drängt mich nahezu, ja auch was für unterwegs mitzunehmen. Erst als er sicher ist, dass ich satt und zufrieden bin, verabschiedet er sich von mir und bringt mich wieder nach vorne zur Rezeption.

   Der Regen draußen ärgert mich nicht. Darauf war ich vorbereitet. Sowieso muss ich mal sagen, dass ich mit der Genauigkeit der Wettervorhersage im Internet sehr zufrieden bin. Fast auf die Stunde genau tritt die Wetterlage ein, die ich schon drei Tage vorher für die betreffende Region abrufen konnte. So werde ich von schlechtem Wetter nicht überrascht und kann mich auf angekündigte Wetterbesserungen freuen. Außerdem hat mir Madame Mottier schon gesagt, dass ich kurz vor Saint Maurice vom Kanton Waadt in den Kanton Wallis wechseln werde, und im Wallis sei das Wetter immer besser. Also muss es sich ja bald wieder ändern. Was mich nur stört, ist die Tatsache, dass ich das Kloster verlassen musste, ohne meinen gestrigen Bericht in den Blog einstellen zu können. Die dicken Klosterwände haben wohl den Weg in das weltweite Netz verhindert. Mal sehen, ob ich das in Martigny nachholen kann.

   Das Wetter ist aber auch zu abscheulich. Dabei ist es noch nicht mal kalt, aber die dunklen Wolken, aus denen es kräftig pladdert, kleben an den Berghängen oder liegen fast auf den Straßen und Feldern. Dann wieder reißen sie für einen Moment auseinander, geben kurz den Blick frei auf die Bergspitzen, um dann wieder, wie mit einem Vorhang, alles zu verdecken. Wie bedrohlich muss solch eine Szenerie auf die Pilger des Mittelalters gewirkt haben.

   Heute komme ich nochmal zügig voran. Es wird vorläufig der letzte Tag sein, der kaum Höhenunterschiede aufweist. Immer am Rand des Rhônetals, direkt unterhalb der nahezu senkrecht abfallenden Bergflanken, gehe ich auf Martigny zu. Schon nach zwei Kilometern, bei der Chapelle des Martyrs a Verolliez, halte ich kurz inne. Schreckliches soll hier passiert sein. Einer Legende nach wurde im 3. Jahrhundert hier die “Thebäische Legion“ unter ihrem Anführer Mauritius hingerichtet. Diese stammte aus dem östlichen römischen Reich, dem heutigen Ägypten, und setzte sich aus über 6.000 Christen zusammen. Mauritius und alle seine Männer weigerten sich zum einen, den römischen Göttern zu opfern, und zum anderen, gegen christliche Glaubensbrüder zu kämpfen. So erlitten sie alle hier bei Verolliez den Märtyrertod in einem wahren Gemetzel. Begraben wurde Mauritius dort, wo heute die Basilika von Saint Maurice steht, praktisch unmittelbar neben meinem letzten Bett. Doch was liegt zwischen Legende und der geschichtlichen Wahrheit, zwischen Glauben und Wissen?

   Unmittelbar hinter der Märtyrerkapelle passiert mir erneut, was ich schon einmal erleben durfte. Der Weg verläuft über eine hoch mit Gras bewachsene Wiese und verpasst mir so eine ungewollte Unterbodenwäsche. Ich habe das Gefühl, diesmal ist die Wiese doppelt so nass wie beim letztenmal. Es fühlt sich an, als würde ich in einem kalten See spazierengehen und das Wasser läuft mir unter der Hose oben in die Schuhe. Meine Hose wird schnell wieder trocknen, aber die Füße werden wohl für heute im eigenen Saft bleiben. Au, au, hoffentlich gibt das keine Blasen...

   In dem jahrhundertealten Ort Evionnaz gibt es eine Raiffeisenbank. Überhaupt muss ich sagen, dass es nahezu in jedem etwas größeren Ort im Kanton Waadt und jetzt auch hier im Wallis eine Raiffeisenbank gibt. Und vor dieser Raiffeisenbank sitzt eine langhaarige Katze im Regen auf der Straße. Jeder weiß, glaube ich, wie erbärmlich nasse Katzen aussehen. Während ich auf sie zusteuere, verschwinden in Abständen von etwa zehn Metern hintereinander vier Personen durch eine sich automatisch öffnende Schiebetür. Die nasse Katze schaut sich das sehr genau an, erhebt sich auf einmal aus ihrer Sitzposition, läuft auf die geschlossene Tür zu. Diese schwingt auf, Katze läuft rein, Tür schwingt zu, Katze ist drin. Als ich vorbeikomme und durch die Glastür gucke, liegt sie geduckt unter einer Art Pult, an dem eine alte Dame gerade wahrscheinlich eine Überweisung ausfüllt. Hoffentlich entdeckt sie so schnell keiner und wirft sie wieder raus. Auf der anderen Seite weiß sie ja jetzt, wie es geht.

   Der Regen ist nach zwei Stunden erst mal wieder vorbei und doch fällt jede Menge Wasser runter. Nicht vom Himmel, aber von einer dieser senkrecht ins Rhonetal abfallenden Felswände. “Pissevache“ heißt der mächtige Wasserfall direkt neben der Straße, die hier auch der Pilgerweg berührt. Vache heißt übersetzt Kuh und den anderen Wortteil versteht man wohl auch ohne Übersetzung. Warum irgendwann mal jemand auf diese Bezeichnung gekommen ist, würde mich interessieren... obwohl... wenn ich ihn mir so ansehe... Schon im 16. Jahrhundert wird er in der Reiseliteratur erwähnt und hat Generationen von Künstlern inspiriert. Auch Goethe hat ihn schon besichtigt und von ihm geschrieben, von diesem “Pissevache“.

   Am frühen Nachmittag bin ich in Martigny und nehme direkt Kurs auf das Pfarramt bei der Kirche. Im Pfarrbüro weiß die Dame sofort Bescheid, wer ich bin. Glücklicherweise ist sie Deutsch-Schweizerin und ich kann mich problemlos mit ihr unterhalten. Madame Mottier hatte mit einer Mitarbeiterin von ihr gesprochen und mich angemeldet. Auch sie teilt mir mit einem Bedauern in der Stimme mit, dass eine Überquerung des St. Bernhard-Passes noch nicht möglich ist und ich ab Bourg-St. Pierre den Bus durch den Tunnel nehmen müsse. Ich nicke zwar resignierend, habe mich aber eigentlich schon damit abgefunden. “Ihr Zimmer ist aber nicht hier, sondern drei Kilometer weiter in La Croix. Es ist auch kein Zimmer, sondern die ehemalige Wohnung des dortigen Pastors, der jetzt hier wohnt. Sie ist noch vollständig eingerichtet und Sie werden sich dort wohlfühlen. Leider kann Sie erst um 18 Uhr jemand abholen und dorthin bringen. Schauen Sie sich doch noch etwas Martigny an! Ihre Sachen können Sie solange hierlassen.“

   In einer Wohnung muss man kochen können. Also gehe ich einkaufen, wahrscheinlich ein letztesmal in der Schweiz. Ein Ehepaar bringt mich dann in seinem Wagen zur ehemaligen Dienstwohnung des alten Pfarrers direkt neben der Kirche von La Croix. Eine Wohnung ganz für mich alleine, herrlich!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmUlp3N2ZBX0puM3M/

 

 

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Kommentare: 5
  • #1

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 08 Mai 2014 13:15)

    Yippieh! Und seit wann interessiert es dich, ob man in einer Wohnung kochen können müsste? Als ob du dir selbst was kochst.... Nichtsdestotrotz: Auf geht's nach Italien!

  • #2

    Renate (Donnerstag, 08 Mai 2014 13:56)

    Lieber Reinhard,
    herzlichen Glückwunsch zur Halbzeit.
    Ich genieße es, täglich deine Reiseberichte zu lesen und wenn mal einer fehlt, weil du kein Internet hattest, ist das schon merkwürdig. Aber der nächste Tag bringt ja dann 2 Stück :)
    Wünsche dir weiterhin alles Gute und immer nette Menschen auf dem Weg.
    Wir sind dieses Wochenende in der Eifel und schlafen nicht im sondern direkt am Kloster Himmerod.
    Liebe Grüße
    Renate

  • #3

    Tobi Werner (Donnerstag, 08 Mai 2014 17:09)

    Hallo Reinhard
    Erstmal Glückwunsch zum Tausender!!!
    Das mit dem St. Bernhard-Pass tut mir sehr leid für dich, aber ich hatte es dir ja gesagt... Es ist einfach noch zu früh! Grimsel, Furka und Susten im Berner Oberland sind ähnlich hoch und öffnen erst im Juni...
    Keine Ahnung, was das für ein komischer Videotext war, wo ich letzte Woche geguckt hab...
    Wir wünschen dir viel Spass in Italien und komm gut "rüber"!!!
    HuMaTo

  • #4

    Lore (Donnerstag, 08 Mai 2014 20:20)

    Hallo Reinhard,
    also, wenn Du so dicke Socken aus Wolle anhast wie ich bei unserer Regenwanderung an der Ostsee, als mir das Wasser in den Schuhen stand, dann fühlen sich Deine Füße warm und trocken an und kriegen keine Blasen, aber, wenn Du die Schuhe ausziehst, staunst Du nicht schlecht über die nicht empfundenen Wassermengen.
    Weiterhin alles Gute, bei Bedarf noch mehr Selbsterkenntnis und regelmäßigen Internetzugang!
    Liebe Grüße
    Lore

  • #5

    Der Kronprinz (Samstag, 10 Mai 2014 12:55)

    Glückwunsch zum tausender!!!


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