In Unterhose am Dorfbrunnen

Orsières - Bourg-Saint-Pierre (14 km)

   Heute ist mein letzter ganzer Tag in der Schweiz. Ganz unterschiedlich habe ich dieses Land erlebt. Der Schweizer Jura mit seinen zu erklimmenden Höhen, das Mittelland zum Ausruhen, dafür aber mit Regen und Kälte, die Genießertage am Genfer See wieder mit Traumwetter, teure Unterkünfte und solche, die überhaupt nichts kosten, überhaupt die Preise, die Preise, die Preise...

   Auf meiner Matratze im Kommunionkinder-Unterrichtsraum habe ich tief und fest geschlafen, auch wenn durch das große Fenster ohne Gardinen das Licht der Straßenlaterne hineinschien. Insgesamt acht Matratzen liegen hier bereit. Ob jemals so viele Pilger hier übernachten werden? Bis jetzt habe ich auf der Via Francigena seit Lausanne noch keinen einzigen gesehen. Doch das kann sich hinter dem St. Bernhard-Pass ändern. Bei den Pilgern, die im Aostatal oder etwas später ihren Weg beginnen, steht nicht die große Barriere als Hindernis vor ihnen, sie können unbeschwert ziehen, solange es ihre Zeit zulässt.

   Ich koche meinen Kaffee, beiße außer ins Brot auch noch in zwei Landjäger, packe meine Sachen, räume wieder alles auf, schließe die Tür hinter mir ab und bringe den Schlüssel zurück zur nett lächelnden Haushälterin.

   Ich weiß ja nun, dass ich manchmal unverbesserlich und stur bin, aber bei der körperlichen Beanspruchung über Wochen hinweg lehne ich es ab, mir noch zusätzliche Bürden aufzuerlegen. Solch eine Bürde wäre zum Beispiel die markierte Streckenführung der Via Francigena im heutigen ersten Teil des Tages. Tief müsste ich hinter Orsieres hinunter zum Bergfluß Dranse d'Entremont, der oben auf dem St. Bernhard entspringt, ihn überqueren, den gegenüberliegenden Berghang steil in Serpentinen teilweise erklimmen und wieder runter zum Fluss absteigen, ihn wieder überqueren, nur um im Ort Liddes an der gleichen Stelle rauszukommen, an der ich ankomme, wenn ich direkt auf der Seite geblieben wäre. Wo steckt der Haken? Ich muss wieder die Passstraße gehen. Na, das mach ich aber mit Vergnügen!

   Es ist auch heute nur halb so schlimm. Bei weitem ist nicht so viel Verkehr wie gestern, die Autos fahren lange nicht so schnell, denn es geht für sie auch um einiges steiler bergauf bzw. bergab. Einen Seitenstreifen kann ich manchmal erahnen und ab und zu fällt er sogar extrem aus, dann nämlich, wenn bald alle 100 m eine Parkbucht erscheint, die heißgelaufenen Motoren eine Pause gönnt oder als Fotografierstandort für das wunderschöne Bergpanorama ringsum herhalten muss. Ich komme also recht gut und ohne große Nervenanspannung voran, obwohl die Steigung der Straße und die herunterknallende Sonne mir den Schweiß in Strömen den Körper hinunterfließen lassen. Mit Sicherheit aber bin ich mindestens eine Stunde früher und weniger ausgepowert in Liddes als über den Originalweg. Doch was heißt hier “Originalweg“? Kein Pilger des Mittelalters wäre den Weg auf der anderen Flussseite gegangen, daher glaube ich eher, dass der wirkliche “Originalweg“ dort ungefähr verlief, wo ich marschiere. Ich verstehe natürlich auf der anderen Seite, dass bei der Markierung eines Weges auf ein Mindestmaß an Asphalt und ein Höchstmaß an Sicherheit wert gelegt werden muss. Und da hatte ich, ehrlich gesagt, mal wieder nicht so hohe Werte.

   In Liddes ist eine Rast angesagt. Mitten im Dorf, an einem kleinen Brunnen, klinke ich den Wheelie ab und halte mir den Kopf erstmal spontan unter den kalten Wasserstrahl. Genauso spontan ziehe ich ihn auch wieder zurück, denn das Wasser ist nicht nur kalt, sondern saukalt. Als das Knistern im Kopf nachlässt, fühle ich mich aber gut erfrischt. Gegenüber vom Brunnen ist ein “Alimentation“, ein kleiner Tante-Emma-Laden, in dem man hier noch einkauft. ICH WILL JETZT EIN EIS! Und wo ich schon mal im Laden bin, kommen auch noch Brot, Landjäger und Käse dazu. Draußen lege ich das Eis auf den Brunnenrand und verstaue die Lebensmittel in meinem Wheelie. Lange dauert das nicht, aber zu lange für mein Eis. Jedenfalls flatscht mir nach dem ersten herzhaften Biss die Hälfte davon auf die Hose und suppt diese so richtig durch. Herrliche Sauerei! Ich verspeise hastig den Rest, damit die zweite Hälfte nicht auch noch auf meiner Hose landet, und überlege dann, was zu tun ist. Warum sitze ich am Brunnen? Also Hose aus und mit der betroffenen Stelle ins Wasser. Die Unterhose ist ja sportlich schwarz und nicht ein Modell Marke Schießer-weiß-gerippt, der vorbeiziehende Zuschauerandrang hält sich sowieso in Grenzen, also, was soll's? Kräftig ausgewrungen, ziehe ich die Hose auch direkt wieder an, trocknen kann sie am Leib.

   Während ich so raste, fällt mir ein, dass ich noch die Unterkunft für morgen in Aosta klären muss. Ich nehme das Handy zur Hand und wähle eine im Wanderführer vorgeschlagene Nummer. Eine alte Dame ist auf der anderen Seite dran und versteht nicht im geringsten, was ich von ihr will. Ich renne mit dem Handy wieder in den Laden und bitte die nette Verkäuferin dort mit Händen und Füßen, mir zu helfen. Sie übernimmt das Handy und zwei Minuten später habe ich meine Unterkunft in Aosta - und noch ein Eis.

   Von Liddes an verzichte ich dann auf die Passstraße und nehme wieder die Via Francigena. Zwar immer noch bergauf, aber ohne große Mühe gehe ich nun weiter durch ein Hochtal, immer mit einem fantastischen Vorausblick auf die schneebedeckten Gipfel. Am Ortsanfang von Bourg-Saint-Pierre sehe ich das bescheidene Hotel “Bivouac de Napoleon“. Der Name erinnert an den Zug des großen Feldherrn, der im Mai 1800 mit exakt 46.292 Soldaten den Pass überquert hatte. Ja verdammt, ich denke, die machen hier den Pass erst Anfang bis Mitte Juni auf?! Und der marschiert da einfach so rüber? Nee, ohne Quatsch, so einfach wird das nicht gewesen sein. Aber sie haben es geschafft, zu Fuß, mit Pferden und Karren. In einer Herberge im Ort hatte Napoleon übernachtet, eine Bronzetafel erinnert daran. Und wo haben seine 46.292 Soldaten genächtigt?

   Bourg-Saint-Pierre war schon immer ein wichtiger Etappenort, an der Passstraße und am alten Pilgerweg nach Rom. Diese Route wird mindestens seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. begangen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Menschen schon seit viel längerer Zeit diesen Übergang gewählt haben. Da alle diese Reisenden Unterkunft und Verpflegung brauchten, hatte Bourg-Saint-Pierre früher deutlich mehr Einwohner als heute, wo der schnelle Verkehr auf der Passstraße am Ort vorbeifährt. Allerdings gibt es immer noch eine stattliche Anzahl an Beherbergungsbetrieben. Außerdem ist noch ein Zeuge aus römischer Zeit beim Glockenturm der Kirche zu sehen: ein großer Meilenstein. Unter Kaiser Konstantin wurde er errichtet und markiert, noch deutlich lesbar, die 24. Meile, gerechnet von Martigny aus.

   Direkt neben der Kirche steht meine Unterkunft “Maison Saint-Pierre“. nur wenige Meter von dem Via-Francigena-Hinweis “Pass St. Bernhard - 4 Std.“ entfernt. Weit wäre es nicht mehr gewesen...

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmcVF3ZE9mZEZ1bDg/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Samstag, 10 Mai 2014 13:22)

    Wenn Napoleon den Pass schaffst, schaffst du das doch bestimmt auch, oder?

  • #2

    tollloiret (Freitag, 26 September 2014 11:51)

    hehhe


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