Eis satt!

Saint Oyen - Aosta (23 km)

   Ich bin in Italien! Ich bin schon in italienischer Eiscreme versunken und habe eine Pizza gegessen, so groß wie ein Wagenrad. Und alles zu vernünftigen Preisen, so kann es weitergehen!

   Viel zu früh verlasse ich das Maison Saint Pierre, um ja nicht zu spät an der Bushaltestelle zu sein. Wenn ich den Bus nämlich verpasse, sitze ich hier fest, der nächste fährt erst am Abend. Mitten im Dorf begegnet mir ein Bekannter von gestern. Er hat auch im Maison übernachtet und ist Tierarzt. Ehrenamtlich arbeitet er bei der “Fondation Barry de Grand Saint Bernard“, einer Stiftung, die sich um die Bernhardinerhunde des Hospiz auf dem Pass kümmert. Wie ich gestern schon von ihm erfahren habe, gehören zum Hospiz noch 33 Hunde. Diese leben aber grundsätzlich nicht mehr oben auf dem Pass, sondern fristen ihr Dasein in Zwingern in Martigny. Im dortigen Bernhardinermuseum gibt es das ganze Jahr über das eine oder andere Exemplar dieser gutmütigen Tiere sozusagen als lebendiges Anschauungsobjekt, die anderen leben aber wie gesagt im Zwinger oder werden für andere Aufgaben verwendet. Eine dieser Aufgaben ist, dass sie zu Therapiezwecken eingesetzt werden, besonders bei Kindern. Und Frederick, der Tierarzt und Deutschschweizer, begleitet diese Therapiearbeit und betreut dabei speziell die Hunde, zum Beispiel in einem Lager mit Kindern, wenn diese aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zu Hause in ihrer Familie leben können und das hier in Bourg-Saint-Pierre im Maison Saint Pierre stattfindet. Gestern ist so ein Lager beendet worden, aber Frederick bereitet schon das nächste vor. Im Sommer übrigens lebt ungefähr die Hälfte der Hunde oben beim Hospiz, als Streichelobjekt vorbeiziehender Touristen oder als Begleithunde bei geführten Wanderungen. Vier Hunde der letzten Therapiemaßnahme hat Frederick gestern noch nach Martigny zurückgebracht, mit zwei anderen für die folgende Maßnahme ist er gestern Abend aber wiedergekommen. Jetzt ist Frederick auf dem Heimweg vom Gassigang, auf dem er seine eigenen beiden Hunde, deren Rasse mir fremd ist, gleich mit ausführt. So komme ich doch noch dazu, diese wunderbaren Tiere, original vom St. Bernhard-Hospiz, eingehend zu streicheln und mir zum Dank von ihnen die Hand ablecken zu lassen.

   Der Bus, der genau wie der Zug von Martigny nach Orsières, mit “St. Bernhard-Express“ beschriftet ist, kommt zwar zehn Minuten vor der Zeit bei der Bushaltestelle an, fährt aber, wie angekündigt, erst um 9.15 Uhr los. Außer mir sitzt nur noch ein junges Pärchen in dem rot-weißen Luxusliner und ist ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Warum will denn sonst keiner nach Italien, mal billig einkaufen, zum Beispiel. Zunächst geht es noch auf offener Straße weiter den Berg hoch. Die Altschneefelder entlang der Straße nehmen zwar zu, aber noch kann lange nicht von einer Unbefahrbarkeit der Straße gesprochen werden. Auch Autos sind noch in gewisser Zahl hier unterwegs, parken zum Teil auf den kleinen Parkplätzen am Straßenrand und Spaziergänger und Wanderer bewundern die grandiose Bergwelt. Irgendwann fahren wir dann doch in den Tunnelbereich ein, passieren die Grenz- und Mautstation problemlos und rollen durch den Tunnel. Keine fünf Minuten dauert die Fahrt durch die Röhre und doch müssen sich nun über uns etwa 500 m Fels, Eis und Schnee türmen. Und oben drauf steht das Hospiz mit seinen vier Mönchen. Schon ein komisches Gefühl.

   Als der Tunnel uns wieder ausspuckt, habe ich aus meinem Seitenfenster einen grandiosen Blick ins Aostatal. Die Sonne scheint hier genauso, wie auf der anderen Seite, und der Himmel ist genauso blau. In weiten Serpentinen schwingt der Bus den Berghang hinunter und nach nicht viel mehr als einer halben Stunde Fahrtzeit bin ich am ersten Haltepunkt in Italien, in St. Oyan, und steige aus.

   Es dauert fünf Minuten, dann finde ich auch die Markierung der Via Francigena wieder. Ab Lausanne war es die “70“ auf den Schildern, manchmal mit dem kleinen, knuddeligen Pilgermännchen zusammen, die den Weg Richtung Rom bezeichneten. Jetzt ist es die “103“ oder ein gelbes “F“ mit einem gelben Pfeil oder ein gelber Pfeil alleine oder eben das Pilgermännchen. Ich hoffe, wir werden vertraute Freunde werden.

   Die Tendenz ist klar: Von nun an geht's bergab. Kleine Ortschaften liegen am Weg, alle sind einige hundert Jahre alt, haben unzählige mittelalterliche Händler und Pilger und neuzeitliche Touristen durch ihre Mauern ziehen sehen. Ich komme durch Etroubles, ziehe an Echevennoz vorbei und komme schließlich zu einem ganz besonderen Weg. Er führt kilometerlang parallel am offenen Bewässerungskanal, dem Ru Neuf, entlang. Dieser schöne “Wasserleitungsweg“ soll im Jahr 1327 angelegt worden sein, wahrscheinlich um auf ihm die künstlich angelegte Wasserrinne zu kontrollieren, die mit minimalem Gefälle am Berghang entlangläuft und mich ein wenig an die römische Wasserleitung in der Eifel erinnert. Wege an Bewässerungskanälen entlang haben, wie ich erfahre, je nach Region einen anderen Namen. In Südtirol werden sie Waalwege, auf Madeira Levadas und hier im Aostatal Ruswege genannt. Ich erlebe den Ru Neuf fast zwei Stunden lang unterschiedlich. Mal fließt er in seinem alten ursprünglichen Bett, mal in einer künstlichen Rinne ganz offen dahin, mal ist er zum Schutz vor Verschmutzung mit einem Gitter abgedeckt, mal wird er ganz verdeckt oder in Rohren geführt, mal verläuft er über Wiesen, mal durch einen schattigen Wald. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich an dieser so sacht dahinfließenden Wasserrinne so mancher Pilger, früher und heutzutage, schon die Füße gekühlt und sich erfrischt hat.

   Fast unvermittelt stehe ich oberhalb von Gignod und habe einen herrlichen Blick ins Aostatal hinab und im Hintergrund leuchtet der weiße Gipfel des Gran Paradiso. Eine halbe Stunde später raste ich bei einer Bank neben der Kirche Sant'Ilario in Gignod und träume von einem Rieseneis. Ich werde heute noch in Aosta so lange durch die Stadt rennen, bis ich genau ein solches in der Hand halte. Und heute Abend werde ich eine Pizza essen, das steht auch fest. Der Ausblick auf solche Köstlichkeiten lässt mich die Pause verkürzen und meine Schritte schneller setzen.

   Bei Gignod habe ich gerade die 1000m-Höhenlinie unterschritten und muss noch runter auf unter 600 m. Das heißt, der Abstieg durch viele kleine Vororte von Aosta bis in die Stadt hinein geht ziemlich in die Knie. Der Wheelie schiebt von hinten und der Asphalt tut das Seine: Meine Füße fangen langsam, aber unerbittlich an zu brennen.

   Schließlich bin ich doch in der Altstadt der Hauptstadt der kleinsten italienischen Region gleichen Namens angekommen. Es ist Samstag und es herrscht ein buntes Gemisch von Touristen und Einheimischen. 25 v.Chr. gründeten die Römer ihr Augusta Praetoria, das heutige Aosta. Aus der damaligen Zeit sind heute noch zahlreiche Bauten erhalten, wie die Überreste des Teatro Romano, die Porta Praetoria und der Arco d'Augusto. Alles schaue ich mir bei meinem Gang durch die Altstadt im Vorübergehen an, schlängel mich dabei an den vielen Menschen vorbei - und suche die Eisdiele.

   Ich finde die Touristen-Information, auch wichtig. Zuerst lasse ich meinen Pilgerpass stempeln. Viele Nichtwissende mögen darüber lächeln, aber der gestempelte Pilgerpass ist in vielen Fällen die “Eintrittskarte“ für eine preiswerte Übernachtung. Dann bitte ich um die telefonische Reservierung einer Unterkunft für morgen, was mit größter Selbstverständlichkeit und mit Erfolg erledigt wird, und zum Schluss frage ich nach der Lage meiner heutigen Unterkunft auf dem Stadtplan. Die Antwort darauf haut mich dann doch etwas aus den Schuhen. Zwei Kilometer muss ich genau in die entgegengesetzte Richtung in einen Vorort wieder zurück und für morgen kann ich diese zwei Kilometer noch draufrechnen.

   Wie zum Trost finde ich zwanzig Meter von der Touri-Info entfernt meine Eisdiele, an der ich vorhin wohl vorbeigetrottet bin. Ich kaufe mir solch eine gigantische Portion, dass ich erst kurz vor Erreichen der Unterkunft mit dem Lecken fertig bin. Und ich bin sehr positiv überrascht. Für den Preis in diesem sehr gepflegten und gemütlichen 2-Sterne-Hotel habe ich in der Schweiz kein Matratzenlager bekommen. Und eine Unterkunft für Montag macht mir die Chefin auch noch klar.

 

Zur Karte: https://docs.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmcFBpSzJZVVlHV3M/

 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Lore (Samstag, 10 Mai 2014 23:19)

    Die Wasserleitungen auf Madeira sind die Levadas.
    Ich weiß, ich bin ein Klugscheißerchen.
    Liebe Grüße und viiiieel Eis!
    Lore

  • #2

    Sebastian (Sonntag, 11 Mai 2014 16:47)

    Wenn auch mit einer Abkürzung - du hast es nach Italien geschafft! Von jetzt an "nur noch bergab"...

  • #3

    Der Kronprinz (Montag, 12 Mai 2014 08:02)

    Wow, Italien!!!! Na dann guten Appetit!!!


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