Auf Römerspuren

Verrès - Pont-Saint-Martin (17 km)

   Vor den durchfahrenden Zügen in der Nacht und dem Kinderlärm am frühen Morgen können mich meine Ohrenstopfen erfolgreich schützen, vor einem Massenandrang an zwei Toiletten und drei Waschbecken nicht. Ich zeige Langmut, lasse die ganze Bagage erstmal durch und widme mich erst dann der Körperpflege, als sie alle beim Frühstück sitzen. Im Waschraum kreuzen sich die Düfte von etlichen Deos, hier haben die Mädels und Jungs richtig gut aufgetragen.

   Mit dem Frühstück sind sie alle schon fertig, als ich in den Tagesraum komme. Lange kann man sich bei einem Fluffi-Hörnchen und zwei dünnen, trockenen Zwieback aus der Tüte ja nicht aufhalten. Nur wie die Kinder den doch wohl bald auftauchenden Hunger AUS-halten sollen, ist mir ein Rätsel. Ich werde mich bald am Wegesrand zu meinem zweiten Frühstück niederlassen und meine Vorräte empfindlich dezimieren. Den Kindern geht es jedenfalls gut, sie freuen sich auf den Tag und die Lautstärke erreicht die Decibelzahl einer kreischenden Straßenbahn. Ich freue mich auf meinen letzten Tag in der Region Aosta und bin weg.

   Ich kann tatsächlich sagen, dass ich mich auch nach weit über 1.000 Kilometer jeden Morgen immer noch gerne auf den Weg mache. Mein Körper macht hervorragend alles mit, was ich von ihm verlange, und meine Psyche auch. Ich ertappe mich zwar immer öfter dabei, dass ich auch mal mit mir selbst laut spreche, aber mich hört ja keiner. Vereinsamt fühle ich mich überhaupt nicht, denn immerhin befinde ich mich noch mittendrin in der Zivilisation. Ganz im Gegenteil! Manchmal könnte für mich mein Wanderumfeld noch ruhiger, noch ursprünglicher, noch einsamer sein. Vielleicht hat das aber auch was mit dem Aostatal zu tun, in dem sich viel Zivilisation zwischen den Berghängen zusammendrängt (menschliche Besiedlung, Verkehrswege, Gewerbe- und Industriegebiete) und es immer präsent ist. Mal sehen, ob das später in den Appeninnen oder in der Toskana auch so ist.

   Der Dora Baltea ist heute mein stiller Wegweiser. Ganz nahe bleibe ich heute an ihm dran und ziehe mit ihm durchs Tal. Von den verkehrsreichen Straßen halte ich mich heute fern und trotte auf kleinen Ortsverbindungsstraßen dahin. Eine eigentlich geplante längere Tagesetappe habe ich mir geteilt, nach der ausgefallenen Passüberquerung kann ich mir das leisten. Ich muss nicht nur mit meinen finanziellen Ressourcen haushalten, sondern auch mit meinen Kräften. Leistungsdruck ist Gift für Seele und Sohle. Also lege ich meinen Schlenderschritt ein, genieße die Sonne und lächel in den Tag.

   Manchmal wurde ich unterwegs schon gefragt: “Machen Sie auch mal ein paar Tage Pause?“ Ich versuche dann, den Leuten begreiflich zu machen, dass das Gehen selbst für mich die große Pause ist. Die Pause vom Alltäglichen, vor dem Denken und vor dem Grübeln über Probleme, die einen immer wieder einholen. Das schönste an meinem Weg ist doch, dass ich jeden Tag aufstehen und einfach wieder losgehen darf. Die Freiheit, immer weiter zu gehen, das ist meine Pause. Und so freue ich mich schon auf morgen und auf das immer gleiche Ritual: Aufstehen und losgehen.

   Mittlerweile steht das Gras auf den Wiesen im Tal bauchnabelhoch. Mir gefällt, dass die Wiesen nicht nur grün sind, sondern auf weiten Flächen auch bunt. Hier wachsen noch Wiesenblumen, denen nicht durch Überdüngung der Garaus gemacht worden ist. Die Mähsaison hat gerade begonnen und immer wieder sehe ich kleine Traktoren, die auf den Wiesen ihre Bahnen ziehen und das Gras mähen. Ein Bauer grüßt von seinem Traktor hinunter, gestikuliert seine Begeisterung über meinen Wheelie zu mir herüber und hätte fast eine von diesen überdimensionierten Wasserspritzpistolen mit umgemäht. Vielleicht wäre das ja meine versteckte Rache für die ungewollte Dusche von vorgestern gewesen.

   Kurz hinter dem kleinen Ort Echallod biege ich in einen Feldweg ein, der für zwei Kilometer direkt neben der Autobahn herführt. Die Geräuschkulisse ist mal wieder lästig, dafür der Blick nach vorn zur imposanten Festung Bard eindrucksvoll. Wie ein Pfropfen steckt ein steil aufragender Hügel inmitten der Talenge und oben auf seiner Spitze erhebt sich trutzig eine mehrstufige Wehranlage, an der sich selbst Napoleon fast die Zähne ausgebissen hätte. Mehr als 12 Wochen belagerte er 1800 die Festung, dann zerstörte er sie allerdings vollständig. Daraufhin erfolgte ein Neubau, der heute wieder uneinnehmbar wirkt. Da mit einem Napoleon heutzutage nicht mehr zu rechnen ist, hat die Region Aostatal die Festung 1990 erworben und neben wechselnden Ausstellungen ein Alpinmuseum dort untergebracht. Besucher müssen nicht mühsam emporsteigen, sondern können mit gläsernen Aufzügen in drei Etappen hochfahren. Da der Aufzug keinen Cent kostet, lasse ich mir das natürlich nicht entgehen.

   Die Aussicht von oben in das trogförmige Aostatal ist fantastisch und es ist gut nachzuvollziehen, wie sich vor tausenden von Jahren ein eiszeitlicher Gletscher dort durchgearbeitet und diese Talform nach seiner Abschmelzung erst geschaffen hat.

   Vom höchsten Teil der Festungsanlage muss ich jetzt nicht etwa mit den Aufzügen auch wieder runterfahren, sondern kann mich auf der anderen Seite auf einer schmalen Serpentinenstraße wieder hinuntertreiben lassen und so meinen Weg durch das Aostatal weiter fortsetzen. Die nächste Attraktion folgt sogleich. Gerade mal zwei Kilometer hinter Bard, kurz vor dem mittelalterlichen Örtchen Donnas, stößt der Via-Francigena-Pilger direkt neben der vielbefahrenen Straße auf ein etwas 200 m langes Wegstück der Strada Romana, mit Torbogen und der seitlichen, senkrecht aus dem Fels geschlagenen Wand, das in der Tat auf die Römerzeit zurückgeht. Dieser “Torbogen von Donnas“ zählt sicher zu den geschichtlich besonderen Wegabschnitten der Via Francigena. Deutlich sieht man die in den Naturstein gegrabenen Wagenspuren, die belegen, wie lange und stark frequentiert diese Straße von den Römern als Handels- und Militärweg durch das Aostatal über den St. Bernhard-Pass Richtung Gallien genutzt wurde. Der Meilenstein links an der Wand gibt die Entfernung nach Aosta an (XXXVI Meilen, rund 50 Kilometer). Die einstige Straße wurde zum Schutz vor Hochwasser des Dora Baltea etwas höher als die Talsohle angelegt. Mich wundert, dass dieser geschichtlich so eindrucksvolle Ort nicht im geringsten geschützt ist. Jeder, der will, könnte sich mit Hammer und Meißel an der alten römischen Straße, am Torbogen oder am Meilenstein zu schaffen machen und damit Kulturgut zerstören.

   Nach einem anschließenden Gang durch die lange, enge Gasse der Via P. Tomasso von Donnas, verlasse ich den Ort wieder durch ein kleines ehemaliges Stadttor und gehe von nun an auf der Straße entlang bis zu meinem Tagesziel Pont-Saint-Martin.

   Wo die bisher schnurgerade Straße einen Knick nach rechts macht überspannt, im Zentrum der kleinen Stadt, eine historische Steinbogenbrücke von 28 m Höhe und einer Länge von 32 m den aus den Bergen kommenden Wildbach Lys. Bis zum Jahr 1831 zog über sie noch der gesamte Verkehr des Aostatals. Den Überlieferungen zufolge stammt sie aus der Römerzeit und ist damit heute eines der größten noch erhaltenen Bogenbrücken-Bauwerke Italiens.

   Mein Wanderführer sagt mir, dass meine Unterkunft in Pont-Saint-Martin “am Weg“ liege, mein Handy-Navi nimmt die Adresse Via Schigliatta aber nicht an, also muss ich fragen. Und wieder ist das Glück (?) auf meiner Seite. Der erste, den ich anspreche, ist ein älterer Herr - und der spricht fließend Deutsch. Das müsse weiter raus sein, meint er, und da er sowieso in die Richtung wolle, um dort irgendwo essen zu gehen, werde er mich jetzt dorthin begleiten. Er geht in die nächste Bar, fragt nach und kommt zufrieden nickend wieder raus. “Ich bring Sie hin,“ sagt er, “zu erklären, wäre zu kompliziert.“ Eine geschlagene Viertelstunde sind wir noch unterwegs und wir haben Zeit, uns zu unterhalten. Er ist in Baden-Baden geboren, ist aber schon lange wieder zurück in Italien. Seine Deutschkenntnisse pflegt er, indem er auch deutsches Fernsehen anschaut und Bücher mit deutschen Texten liest. Seine Freundin lebe in Turin, er hier. Sie will nicht auf Dauer nach Pont-Saint-Martin, er nicht auf Dauer nach Turin. So ist sie immer eine Woche bei ihm, eine Woche sehen sie sich nicht, eine Woche ist er bei ihr. “Dieses Partnerschaftsmodell ist gar nicht so schlecht, sag ich Ihnen“, meint er und lächelt mich an.

   Im Handumdrehen vergeht die Zeit und plötzlich sehe ich das Straßenschild “Via Schigliatta“ vor mir. “Sie haben es für heute geschafft“, sagt mein freundlicher Begleiter, schüttelt mir die Hand, dreht sich um und geht wieder zurück. Manchmal gibt es Begegnungen, da wird man nachdenklich.

   Meine Unterkunft ist ein Teil eines Dorfgemeinschaftshauses der Kommune, neu gebaut am Ortsausgang. Als wenn sie geahnt hätte, dass ich genau jetzt ankomme, steht am offenen Fenster im ersten Stock eine Frau und winkt mir fröhlich lachend zu. Sie ruft lauthals etwas zu mir herunter, was so klingt wie “Sind Sie der Pilger, der vorgestern von Chambave aus reserviert hat?“ Ich kann das jetzt nicht erklären, dass ich das nicht persönlich war, nicke aber trotzdem, ebenfalls fröhlich, mit dem Kopf. Sekunden später steht sie auf der Straße und führt mich in die Pilgerherberge, denn als solche ist sie offiziell gedacht. Sie erklärt mir alles, stempelt meinen Pilgerpass, kassiert und ist auch wieder weg. Und ich bin mal wieder in einer Unterkunft ganz alleine. Da war gestern Abend mehr Leben in der Bude...

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmNVFZNk04alh6VWc/

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Mittwoch, 14 Mai 2014 17:26)

    Geiles Foto!!!


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