Pepe klaut!

Pont-Saint-Martin - Borgofranco (15 km)

   Es ist schon recht eigenartig, immer mal wieder in Unterkünften zu übernachten, die an diejenigen auf dem Jakobsweg in Spanien erinnern, und kein anderer Mensch ist da. So war es gestern Abend schon und heute Morgen ist es nicht anders. Alleine geistere ich durch das Pilgerherbergen-Stockwerk, setze mich in dem großen Aufenthaltsraum mit Sitzplätzen für mindestens 40 Personen entweder an den einen Tisch oder an einen anderen, gehe dann wieder mal in mein Zimmer, das eins von zehn ist, und bin dabei komischerweise ganz leise, als könnte ich jemanden wecken oder stören. Warum singe ich hier nicht lauthals oder flöte oder spreche laut mit mir? Vielleicht wird man doch mit der Zeit etwas komisch, wenn man zu lange nur mit sich selbst beschäftigt ist.

   Ich freue mich mittlerweile, wenn ich weiß, dass ich nicht viele Kilometer vor mir habe. Nicht etwa, weil ich nicht mehr in der Lage bin, 25 bis 30 Kilometer am Tag zu wandern, sondern weil ich die Langsamkeit für mich entdeckt habe. Ich genieße es in den letzten Tagen, in viel ruhigerem Tempo unterwegs zu sein, ganz oft stehenzubleiben, durchzuatmen, zu riechen, hinzuhören, länger hinzusehen, länger Pause zu machen, einfach viele Momente länger auf mich wirken zu lassen. Das Wetter ist fantastisch: sonnig, mit angenehmem Wind, kein drohender Regen treibt mich an. Daher freue ich mich, dass ich gerade für diesen Wegabschnitt selten mal lange Etappen eingeplant habe. Ahnt man so etwas vorher schon? Weiß man, dass man am Anfang voranstürmen, seine Kräfte austesten will, um in einer nächsten Streckenphase mehr Gelassenheit auszukosten und eine schöne Zeit einfach nur genießen will?

   Ich genieße auch den Rhythmus, der meinen Tag bestimmt. Jeder Tag ist gleich, nur die Landschaft wechselt. Sieben oder halb acht Uhr aufstehen, waschen, packen, Frühstück. Acht oder halb neun Uhr loswandern, Rast nach Bedürfnis, Lust und Gelegenheit, nachmittags in der Unterkunft ankommen, Zimmer oder Bett belegen, duschen, ausruhen, eventuell Stadt oder Dorf ansehen und dabei Lebensmittel einkaufen, Brote schmieren oder essen gehen, Blog schreiben, gegen 23 Uhr schlafen. Am nächsten Tag dasselbe wieder von vorn.

   Manchmal frage ich mich, ob man beim Wandern in eine Art Sog geraten kann. Man läuft und läuft und verpasst dabei den Punkt, an dem man vielleicht aufhören sollte, weil es nicht mehr gut für einen ist. Das ist im Leben doch oft so. Man verrennt sich in etwas und merkt ewig nicht, dass man auf dem Holzweg ist. Und dann geht man trotzdem weiter, weil man sich den Fehler entweder nicht eingestehen will oder weil einem der Mut oder die Kraft fehlen, etwas zu ändern. Je länger ich unterwegs bin, desto mehr habe ich das Gefühl, bei der Wanderung wird mir bewusst gemacht, worauf es im Leben letztlich ankommt. Die Aussage, die über allem steht, lautet: Weitermachen! Nur nicht resignieren! Und daraus ergibt sich die nächste Aussage: Solange man weitermacht, geht immer irgendwas.

   Also, klar, ich mache weiter! Heute nicht an der verkehrsreichen Straße entlang, sondern schön auf Nebenwegen, durch Weinberge, kleine Orte. Die Weinberge sehen jetzt hier in der Region Piemont, in der ich mich seit kurz hinter Pont-Saint-Martin bewege, so ganz anders aus. Sie sind in der “Dachanbauweise“ angelegt. Schwere Holzbalken ruhen quer auf kegelförmigen Stein-oder Betonpfosten, und an diesen Balken entlang rankt sich der Wein. Was der Vorteil von dieser Anbauweise sein soll, erschließt sich mir nicht, muss man doch beständig “über Kopf“ arbeiten, aber ich bin ja auch kein piemonteser Winzer. Dafür kann ich jetzt aber sagen, dass ich zwar schon öfter an Weinstöcken entlang, aber noch nie UNTER Weinstöcken her gewandert bin.

   Wie es mir auch schon auf dem Jakobsweg in Frankreich und Spanien aufgefallen ist, scheinen in den kleinen Dörfern kaum noch Menschen zu wohnen, jedenfalls bekomme ich selten mal welche zu Gesicht. Dass dort eventuell doch noch Menschen leben, erkenne ich an den Fahnen vom Fußballverein Juventus Turin, die hier aus den Fenstern hängen oder an Zäunen angebunden sind. Rollladen und Jalousien sind in den meisten Fällen heruntergezogen, Sonnenlicht im Zimmer könnte schaden. Kleine Eidechsen huschen beständig über die Straßen und Gassen, verschwinden in den kleinsten Mauerritzen und manchmal auch unter den Haustüren hindurch. Alle 50 m steht ein fließender Brunnen, aber ich habe noch nie einen Menschen dort Wasser holen sehen.

   Torre Daniele, Cesnola, Settimo Vittone mit ihren Kirchen San Pietro, Chiesa di S. Agata und San Lorenzo lasse ich hinter mir, bekomme oberhalb der Weinlagen zwischen engen Mauerreihen und abfallenden Felsformationen mit meinem Wheelie einige Schwierigkeiten, erreiche aber trotzdem wohlbehalten um die Mittagszeit Montestrutto. Zeit für eine Pause! Wie gerufen kommt da das Gelände einer Sportkletteranlage mit kleinem Restaurant, das auf einem speziellen Schild darauf aufmerksam macht, dass Via-Francigena-Pilger gern gesehene Gäste sind. Einige der letzten hohen Felshänge vor der großen Poebene nutzen hier Kletterer, um wie Spiderman an senkrechten Wänden hochzugehen, mit der entsprechenden Ausrüstung, versteht sich. Kurse werden angeboten, für Erwachsene und für Kinder. Mir würde es jetzt schon reichen, wenn man mir hier etwas Preiswertes zum Essen anbieten könnte. Außerdem habe ich heute Morgen keinen Kaffee gehabt, das muss jetzt dringend nachgeholt werden. Wie in Spanien seinerzeit der Boccadillo, ist es jetzt der Panino, der meinen Hunger stillt, nur an dem Kaffee müssen die Italiener noch arbeiten. Eine Art Kaffeesirup bedeckt den Boden der kleinen Tasse, dazu wird ein Minikännchen mit heißem Wasser gereicht, aber beides reicht nicht aus, damit ich das “eine Tasse Kaffee“ nennen möchte. Deswegen bestelle ich auch gleich zwei. Aber immerhin, für dreißig Zentimeter gut belegtem Panino und “zwei Tassen Kaffee“ bezahle ich soviel, wie in der Schweiz für ein kleines Bier. Beim Kauen und Schlürfen beobachte ich die Kletterer in der Felswand, lasse mir die Sonne dabei auf den Pelz scheinen und bin mal wieder mit dem Tag zufrieden.

   Eine Stunde später bin ich, an San Germano vorbei, an meinem Tagesziel Borgofranco. Diesmal ist das Auffinden meiner Unterkunft kein Problem. Sofort fällt mir das Straßenschild “Via Cavour“ ins Auge und dann sind es nur noch 100 Meter bis zu meinem “B&B Verde Musica“. Ein Glücksgriff, wie sich schnell herausstellt. Gastgeberin Anna Maria ist eine liebenswürdige Frau und spricht Englisch, das schöne Zimmer, der große Garten mit schönen Gartenmöbeln drängen sich zum gepflegten Entspannen förmlich auf, Pepe, der Riesenschnauzer, ist ein drolliges Kerlchen. Wanderschuhe und Einlegesohlen werden draußen in Sonne und Wind einer Frischluftdusche unterzogen und meine “Leibwäsche“ von mir mal ordentlich durchgewaschen und an die Leine gehängt. Anna Maria klärt für mich sage und schreibe drei weitere Unterkünfte, und während sie das tut, findet Pepe, der Riesenschnauzer Gefallen an einer meiner Einlegesohlen und verschleppt sie irgendwohin in den Garten. Zum Glück sieht er die Sohle nicht als leckeren Knochen an, obwohl ja vielleicht genug Geschmack dran ist. Dass wir die Sohle überhaupt wiederfinden, ist das nächste Glück.

   Am Abend fragt mich Anna Maria, wo ich denn mein Abendessen einnehmen möchte, sie könne mir die ein oder andere Empfehlung für ein Restaurant oder eine Pizzeria in Borgofranco geben. Ich antworte, dass ich heute mal wieder an mein eigenes Brot dran muss, sie aber bitte, mir vielleicht etwas Wurst oder Käse zu verkaufen. Zehn Minuten später steht ein Tablett mit einem Teller mit italienischer Salami und drei verschiedenen Käsesorten sowie einem Schälchen mit Tomaten und einer halben Flasche Rotwein vor mir. Mit großer Vorfreude und noch größerem Hunger stelle ich das Tablett nach draußen auf den Gartentisch und flitze nur noch mal eben schnell in mein Zimmer, um meine Kamera zu holen. Das muss ich fotografieren! Pepe wird sich doch jetzt nicht gerade an der Wurst... Ich rase wieder hinaus in den Garten - und sehe so gerade noch, wie sich Pepe mit spitzen Zähnen zwei meiner Salamischeiben vom Teller klaut. Als er merkt, dass ich angerannt komme, erschrickt er sich fürchterlich und legt sich flach auf den Boden, die beiden Scheiben zwischen seinen Pfoten. Sein Blick sagt mir: “Du hast mir ja auch kein Hundefutter mitgebracht! Immer muss man sich selbst um sein Fressen kümmern!“

   Ich kann mich wieder vor Lachen nicht halten, und als ich dann endlich mit meinem Essen anfangen kann, hat Pepe die beiden Scheiben Salami längst verdrückt. Und ich meine, ein kleines Lächeln um seine Schnauze herum zu erkennen. Guter Hund!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmdllMZTQyRTYzZkE/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Donnerstag, 15 Mai 2014 09:20)

    Hahaha!!! Der Pepe... Aber den Italienern mangelnde Kaffeekunst verzuwerfen... Also wirklich! Sicher dass der Kaffeesirup mit Milch kein Espresso Latte war?

  • #2

    Die Pilgertochter (Freitag, 16 Mai 2014 06:52)

    Hui... Der Dani weiß Bescheid... Der alte Kaffeetrinker! Aber jetzt im Ernst: Papa, ich wünsch mir für dich, dass deine innere Stimme sich meldet, wenn das Wandern nicht mehr gut für dich ist. Und noch wichtiger: dass du sie dann auch hörst.


Translation: