Gletscherlandschaft

Borgofranco - Burolo (17 km)

   Meine Nacht heute war etwas unruhig. Draußen fegte, bei klarem Himmel und schönstem Vollmond, ein kräftiger Wind und zerrte an den Fensterläden, die daraufhin gegen die Hauswand klapperten. Warum ich dieser Ruhestörung nicht mit meinen bewährten Ohrenstopfen begegnet bin, weiß ich selbst nicht. Schon gestern Abend, als es auch so windig war, sagte mir Anna Maria, dass das wohl mit dem Aostatal zusammenhinge, wo in gewissen Abständen immer solche Winde wie durch eine Düse hindurchfegten. Das dauere immer drei Tage, dann sei es vorbei.

   Als ich ins Wohnzimmer zum Frühstück komme, lacht das Herz. Endlich ist mal etwas mehr auf dem Tisch als in Plastik eingepackter Zwieback. Ich lass mir wieder Zeit, genieße das Frühstück, während Pepe zwei Meter vor mir auf dem Boden liegt und mich nicht aus den Augen lässt. Vielleicht fällt für ihn ja noch was ab. Da täuschst du dich, mein lieber Pepe, du hast deine Portion von mir gestern gehabt.

   Anna Marias jüngere Tochter ist schon zur Schule, die ältere liegt noch im Bett. Sie studiert am Konservatorium in Turin Musik und muss erst später dorthin. Nach ihrer Vorliebe ist übrigens das B&B benannt, “Verde Musica“. Der Mann meiner sympathischen Gastgeberin setzt sich, bevor sein Arbeitstag beginnt, auch nochmal kurz zu mir an den Tisch und fragt nach den Etappen der nächsten Tage. Dann zückt er eine kleine Broschüre aus seinem Bücherregal und fragt mich, ob ich denn überhaupt wüsste, in welch geologisch interessanter Gegend ich mich im Moment bewege. Ich glaube zwar zu wissen, worauf er hinaus will, lasse ihn aber gerne erzählen.

   Mir ist ja nicht neu, dass sich durch das heutige Aostatal in grauer Vorzeit vom Mont-Blanc-Gebiet ein riesiger Gletscher heruntergezogen hat. Von der Festung Bard aus konnte ich vorgestern noch das durch ihn ausgeschliffene Trogtal sehr anschaulich sehen. Wie deutlich aber der Gletscher hier in der Umgebung von Ivrea seine Spuren hinterlassen hat, war mir nicht bekannt. In Wanderrichtung auf meiner linken Seite wird mich heute z.B. der 25 km lange, schnurgerade Bergrücken La Serra begleiten, den der Gletscher seinerzeit abgehobelt hat. Zwischen Borgofranco, Ivrea und Burolo ist Grundmoränenmaterial abgelagert worden, das den Wanderer heute mit Weinbergen, verstreut zwischen den Hügeln liegenden Seen und kleinen Kirchen und Kapellen auf den Höhen erfreut. Auf Luftbildern in der Broschüre sehe ich aber am eindrucksvollsten, wie der Gletscher seine mitgeführten Geröllmengen einige Kilometer später wie ein breites, geöffnetes Hufeisen als Endmoräne abgelagert hat. Während ich also von Borgofranco an über Ivrea hinaus teils durch ebenes oder auch leicht hügeliges Gelände gehen werde, wird sich morgen nochmal eine letzte etwas höhere Hügellandschaft anschließen, die nichts anderes ist, als vom Gletscher hierhin gedrücktes Gesteinsmaterial. Ganz klar ist durch Gesteinsproben festgestellt worden, dass sich hier exakt die gleichen Gesteinsarten befinden wie auf dem Mont Blanc. Erst wenn ich morgen diese Endmoräne überwunden habe, wird sich vor mir die schier endlose Poebene auftun.

   Der Hausherr freut sich, dass er mir offensichtlich etwas Interessantes vermitteln konnte und verabschiedet sich mit den besten Wünschen für den weiteren Weg von mir. Anna Maria möchte beim Abschied noch ein Foto von mir mit meinem Wheelie machen, das mache sich bei Facebook immer ganz gut. Außerdem sei ich nun mal der erste Pilger für sie in diesem Jahr und überhaupt der erste, der wirklich von zu Hause kommt und noch bis Rom durchgehen will. Bei der Aufnahme Pepe neben mich zu positionieren, scheitert aber kläglich.

   Hinter Borgofranco sehe ich vor mir keine Berge mehr. Nur wenn ich mich umdrehe, erheben sie sich noch mächtig und weiß auf ihren Spitzen, werden aber von nun an immer kleiner werden. Wenn man es sich recht überlegt, habe ich bisher nur Berge um mich herum gehabt: mit Westerwald, Taunus, Odenwald, Kraichgau und Schwarzwald einige der deutschen Mittelgebirge, den Schweizer Jura, das Schweizer Mittelland und die Walliser Alpen, zuletzt das Aostatal. Ich glaube, es würde sich direkt mal lohnen, die Höhenmeter, die ich im Verlauf der letzten acht Wochen geschafft habe, zusammenzurechnen. Aber das wäre nur eine Zahl.

   Nach Montalto Dora verlasse ich den Rand des ebenen Dora Baltea-Tales und ziehe meinen Wheelie die niedrigen Hügel der Grundmoränenlandschaft mit ihren kleinen, romantisch daliegenden Seen, den gepflegten Weinbergen und schattigen Mischwäldern empor, nur um wenig später wieder von ihnen herabzurollen. Die Sonne scheint prächtig, ich bin mal wieder geruhsam unterwegs - und zack! - stechen mich die ersten Mücken in den Oberschenkel. Ich vergaß zu erwähnen, dass ich heute das erstemal mit kurzer Hose unterwegs bin, aber wenn nicht in Italien im Mai, wann dann? Doch schattige Wälder mit naheliegenden kleinen Seen sind eigentlich zu dieser Zeit prädestiniert dafür, endlich mal Bekanntschaft mit diesen kleinen Blutsaugern zu machen. Außerdem werden sie in der Poebene zwischen den Reisfeldern meine ständigen Begleiter sein.

   Um die Mittagszeit bin ich in Ivrea. Als Eporedia wurde die heutige Stadt 100 v.Chr. von den Römern gegründet, unter den Etruskern hieß sie Yporegia. Eine Burg und eine große Kirche auf einem Hügel, von dem Treppenstufen und enge Gassen in die Altstadt hinunterführen, große Plätze mit schattigen Arkaden, kleine Parks, aber auch die Wohnviertel mit ihren breiten Straßen hinaus aus der Stadt, all das sind Merkmale, die ich so in Aosta schon hatte und auf meinem Weg in den nächsten Wochen auch noch öfter haben werde. Für eine Rast ist es mir hier zu lebhaft und ich ziehe weiter.

   Nur drei Kilometer danach, am Lago di Campagna, ist dafür jedoch der richtige Platz. Wie gemalt liegt er zwischen den kleinen Hügeln, umgeben von Wald, mit den Bergen noch im Hintergrund. Heute sind nur drei Angler am See, im Sommer aber, wenn hier gebadet wird, wird einiges los sein. Am Rande einer großen Liegewiese stehen im Schatten von Bäumen einige Bänke, genau der richtige Ort für ein kleines Picknick.

   Nur noch eine Stunde ist es bis Burolo. Auf kleinen Straßen und durch Pappelwälder erreiche ich mein heutiges Ziel. Die Unterkunft scheint mir so etwas wie ein ehemaliges Kloster zu sein, heute ist sie wohl eher ein Ziel von Kinder- oder Familienfreizeiten. Aber auch dafür scheinen die besten Zeiten vorbei zu sein, alles macht einen etwas unaufgeräumten, aber trotzdem ausreichend sauberen Eindruck. Vor allem hat es für mich einen großen Vorteil: Die Übernachtung ist umsonst.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmblMzS1VRYWtGVDg/

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Freitag, 16 Mai 2014 09:45)

    Du hast die Alpen überwunden! Wahnsinn!!!


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