Erster Tag im Reis

Cavaglia - San Germano Vercellese (20 km)

   Das Rote Kreuz von Italien feiert in diesen Tagen wohl sein 150jähriges Jubiläum. Am heutigen Samstag findet dazu im Rahmen der mehrtägigen Feierlichkeiten ein Konzert des örtlichen Orchesters statt. Das würde mich jetzt nicht sonderlich berühren, aber die letzten Proben dazu haben gestern Abend im Saal neben der Pilgerherberge stattgefunden und das hat mich sehr wohl berührt. So einiges aus dem Programm klappte noch nicht so ganz und so wurde geprobt, geprobt und geprobt. Als ich um 23.17 Uhr das Licht ausmachte, war noch lange nicht Ende. Selbst meine Ohrenstopfen kamen gegen das Schlagzeug zunächst nicht an und es dauerte eine Zeit lang, bis ich endlich eingeschlafen war. Trotzdem wünsche ich dem Orchester von Cavaglia heute viel Erfolg bei seinem großen Auftritt.

   Hinter der Herberge bin ich nach wenigen hundert Metern aus der Stadt raus. Immer noch ist die Landschaft zu meinem Erstaunen ganz leicht hügelig. Viele Bauern sind mit ihren Traktoren auf den Feldern und werfen das Heu auseinander, vielleicht heute Morgen zum letztenmal, dann kann es zusammengeschlagen und gepresst werden. Auf einigen Wiesen liegen schon die frisch gepressten Rundballen und warten darauf, abgefahren zu werden. Es riecht nach Heu, der Himmel ist blau, das Licht ist von dieser typisch italienischen Helligkeit - es ist wie im Urlaub. Der Kuckuck begleitet mich jetzt schon seit Tagen und ruft mir hinterher, als wolle er mir sagen, dass jetzt die schönen Tage erst beginnen. Ich lass mich gerne darauf ein, obwohl es bisher keinen Tag gab, den ich nicht in irgendeiner Hinsicht als schön empfand.

   Was inzwischen rekordverdächtige Ausmaße annimmt und selbst die Verhältnisse entlang des Jakobsweges in Spanien in den Schatten stellt, sind die Hunde. Kaum ein Haus im Dorf, erst recht kaum ein Bauernhof, wo mich kein Hund ankläfft. Und meistens ist es nicht nur EIN Hund, sondern es sind gleich mehrere hinter dem Zaun, vom bulligen Schäferhund bis zum Pinscher ist alles dabei. In den unterschiedlichsten Stimmlagen brüllen sie mir ihre Verachtung und ihren Zorn hinterher und ich finde es wirklich sehr anständig, dass es Zäune gibt. Zwei Hundebegegnungen gefallen mir allerdings sehr. Hinter einem Tor tollen vier Mischlingswelpen umeinander herum und ich mag kaum glauben, dass sie schon recht bald die Pilger genauso verbellen, wie ihre ausgewachsenen Artgenossen. Vier Häuser weiter steht ein Riesenkabänes von schwarzem Neufundländer seelenruhig auf einem Tisch und bekommt von seinem Herrchen mit einer Art Hochdruckföhn das Fell getrocknet. Vielleicht war heute Baden angesagt, schließlich ist Samstag.

   Liegt es am schönen Wetter oder daran, dass Wochenende ist, jedenfalls grüßen mich heute fast alle Menschen nett. Die Autofahrer aus ihren Autos, die Bauern von ihren Traktoren herunter, der alte Mann am Fenster oder die junge Mutter, die ihr Baby im Kinderwagen spazierenfährt. Man soll ja gar nicht glauben, wieviel ein netter Gruß und ein Lächeln zum Gelingen eines Tages beitragen können. Ich habe sowieso das Empfinden, dass die Menschen in Italien damit wesentlich weniger Probleme haben, als die in Deutschland oder in der Schweiz, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

   Hinter einem großen Maisfeld steht ein großes Monster von Spritzdüse auf einem abgeernteten und mittlerweile wieder umgepflügten Acker und feuert in einem mindestens dreißig Meter weiten Bogen sein braunes Wasser durch die Gegend. Aber wieso BRAUNES Wasser und dann noch auf ein abgeerntetes Feld? Als ich näher komme und mir ein leichter Wind von dort entgegenweht, ist die Sache klar: Das ist überhaupt kein Wasser, DAS IST GÜLLE. Das habe ich in dieser Form auch noch nicht gesehen und ich bin wirklich froh, dass die Anlage vor ein paar Tagen, die mir eine Dusche verpasste, nur Wasser verschossen hat.

   Nach einem kleinen Waldstück ist es soweit: das erste Reisfeld. Noch ist es nicht größer als ein Fußballplatz, aber immerhin. Wasser glänzt in dünner Schicht auf seiner Oberfläche, an den Rändern ist es grünlich schlammig, durchzogen von Reifenspuren. Fahren da wirklich Traktoren drin rum? Versacken die nicht rettungslos? Nicht weit vom ersten Feld liegt das zweite. Vollkommen ausgetrocknet, von Rissen durchzogen. Dann das dritte, viel höher mit Wasser bedeckt als das erste, so hoch, dass der Wind sogar leichte Wellen verursacht. Ich warte auf den ersten Generalangriff der Mücken, aber sie tauchen nicht auf, noch nicht.

   Dann ist es erstmal wieder vorbei mit den Reisfeldern, Weizen und Mais bestimmen das Bild. Mittendrin die riesigen Höfe, die cascinas, und wieder Hunde, Hunde, Hunde. Kurz vor Santhià überquere ich die Autobahn A4. Richtung Osten führt sie nach Mailand, entgegengesetzt nach Turin, mit einem Abzweig ins Aostatal und zum Großen St. Bernhard-Pass. Wie lange ist das schon wieder her? So empfinde ich es jedenfalls. Es passiert so viel unterwegs, so viele Eindrücke wirken auf mich ein, dass ich abends manchmal überlegen muss, wo ich morgens aufgebrochen bin.

   Eine halbe Stunde nach den letzten Weizen- und Maisfeldern gehe ich in Santhià durch die Fußgängerzone. Welch ein anderes Bild aufeinmal wieder. Menschen eilen oder schlendern hier entlang, sitzen unter Sonnenmarkisen bei ihren Fingerhüten mit Espresso oder stehen einfach in Gruppen zusammen und halten ein mehr oder weniger lautstarkes Quätschchen. Vor einer kleinen Bar lasse ich mich zu einer Rast nieder, hole mir ein Hörnchen und gleich zwei “Kaffee“ von drinnen raus und ernte dafür den irritierten Blick der Signora hinter der Theke, die mich doch alleine hat ankommen sehen. Keiner sitzt sonst draußen in der Sonne, dafür aber palavern sechs Männer drinnen lautstark wahrscheinlich über die Probleme dieser Welt oder die Mannschaftsaufstellung von Juventus Turin oder Inter Mailand für den heutigen Spieltag.

   Hinter Santhià fängt das größte europäische Reisanbaugebiet erst richtig an. Ungehindert schweift mein Blick kilometerweit über die flachen Felder, Kanäle und Kanälchen versorgen sie nach einem ausgeklügelten System mit Wasser. Fischreiher ziehen über diese Felder hinweg und ich frage mich, ob es auf diesen zum Teil hoch mit Wasser überzogenen Feldern überhaupt Fische gibt. Oder tun sie sich an den Fröschen gütlich, die sich an und in den kleinen Kanälen aufhalten und neben mir immer wieder mit einem Plopp! ins Wasser hüpfen? Die Fischreiher werden es wissen.

   Zu früherer Zeit drohte den armen Fröschen noch ganz anderes Ungemach. Nach der Überlieferung hatten die Pilger damals die Anweisung, die Frösche, die rechts und links ihres Weges durch die weiten Reisfelder zahlreich ins Wasser hüpften, einzusammeln und mitzunehmen. Abends wurden diese dann im Kloster oder in der Herberge abgegeben und zu einem traditionellen Gericht der Region zubereitet: Rane fritte - Frittierte Frösche. Der Pilger heute wird dazu zwar nicht mehr verdonnert, aber frittierte Froschschenkel gehören immer noch zu den Spezialitäten der Gegend. Ich werde darauf verzichten.

   Mein Ziel ist heute San Germano Vercellese. Keine 2.000 Menschen leben in diesem Ort, außer einer bemerkenswerten Kirche hat er nichts Besonderes aufzuweisen. Auf der Straße, auf der ich durch den Ort ziehe, rührt sich kaum ein Mensch, nur auf der Piazza Giuseppe Garibaldi sitzen vor der “Locanda del Leon d´Oro“ einige Männer vor der Tür unter dem Baldachin, unterhalten sich (wie immer) laut, spielen Karten und trinken Rotwein. Das ist meine Unterkunft!

   Als ich den Gastraum betrete, fällt mein Blick zuerst auf die große Eistheke mit acht verlockend aussehenden Eissorten. Eigentlich will ich sofort zuschlagen, bekomme mich aber so gerade nochmal in den Griff. Erst Körperpflege, dann Eis! Der herbeigerufene Sohn der Wirtin, mit langem Pferdeschwanz, Bart, Augenbrauen- und Lippenpiercing bringt mich auf mein Zimmer und versäumt nicht, mich (auf Englisch) zu fragen, ob ich heute Abend unten zu essen gedenke. Ich überlege nicht lange und sage zu. Es war ein schöner erster Tag in der Poebene und der Pilger hat ein Abendessen verdient. Das Eis gönne ich mir dann zum Nachtisch.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmNDE3cXoyMGh0SUE/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Wolfgang Ortmann (Sonntag, 18 Mai 2014 21:46)

    Lieber Herr Wagner,

    hoffentlich haben Ihnen das Abendessen und das Eis geschmeckt.

    Die Wahlwerbung der SPD hat mich auf Ihre Seite gelockt. Ich muss sagen - sehr interessant. In den nächsten Tagen werde ich Ihre alten Berichte lesen und und natürlich auf täglich Neue hoffen.

    Ihnen weiterhin alles Gute und viele Grüße aus dem inzwischen sehr sonnigen Windeck

  • #2

    Der kronprinz (Montag, 19 Mai 2014 21:11)

    Gehst du durch die poebene eigentlich den gleichen weg wie damals?


Translation: