Anfang schlecht - Ende gut

San Germano Vercellese - Vercelli (22 km)

   Im Spiegel gafft mich heute Morgen eine einäugige Schildkröte an. Erst nach ein paar Grimassen merke ich, dass ich die Schildkröte bin. “Wer bist du denn?“, knurrt die Schildkröte. “Mein Name ist Wagner, glaube ich...“ Vielleicht sollte ich noch ein wenig schlafen und hoffen, dass sich der Boden nicht mehr bewegt, wenn ich aufwache. Wie konnte es nur wieder so weit kommen?

   Mein Zimmer im “Locanda del Lion d'Oro“ hielt für mich gestern keinen Tisch bereit, an dem ich meinen Blog des Tages schreiben konnte. Außerdem stand mir der Sinn mal wieder nach einer Pizza und dem einen oder anderen Glas Rotwein. Da meine Unterkunft gleichzeitig auch eine Pizzeria war, drängte sich ja nun der Gedanke auf, mich nett in den Gastraum zu setzen und Blogschreiben, Pizza und Rotwein miteinander zu verbinden. Und während ich so speiste und trank, füllte sich die Pizzeria mit immer mehr Menschen, in einer Ecke des Raumes baute eine kleine Band ihre Anlage und Instrumente auf und ehe ich mich versah, saß ich ab 20 Uhr mittendrin in einer Dorffete mit Tanz. Mich störte das beim Blogschreiben überhaupt nicht und ich beobachtete mit wachsendem Vergnügen die zunehmend sich steigernde Stimmung im Raum. Der Rotwein schmeckte mir ausgezeichnet und die feiernde Gesellschaft sah mir meine gute Laune wohl auch an.

   Dann kommt bei solchen Gelegenheiten der Moment, wo man sich fragt, ob man es geschehenlassen soll oder nicht. Bei mir ist das jedenfalls so. Als aufeinmal ein Glas Rotwein neben mir stand, das ich gar nicht bestellt hatte, entschied ich mich spontan, es geschehen zu lassen. Die Herrschaften vom Nachbartisch sahen mich erwartungsvoll an, und als sich unsere Blicke trafen, hoben sie ihre Weingläser und prosteten mir zu. D.h., sie hatten mir diesen Rotwein spendiert. Als ich zurückprostete, brach an dem Tisch Jubel aus und ein Mann, den ich bei meiner Ankunft vor dem Haus getroffen und mit ihm ein paar Worte gewechselt hatte, hielt lauthals eine kurze Rede an die versammelte Gesellschaft. Aus all den Sätzen konnte ich nur die Wörter “Pelegrino tedesco“, “Colonia“ und “Roma“ raushören. Daraufhin klatschte der ganze Saal und von da an brauchte ich mich um meine Getränkebestellung nicht mehr zu kümmern. Von jedem Tisch kam nun nach und nach ein Glas Rotwein und ich hatte das Gefühl, so langsam den Boden unter den Füßen zu verlieren. Immer wieder kamen Männer oder Frauen an meinen Tisch, wechselten ein paar Worte mit mir, manchmal sogar auf Englisch oder Deutsch, klopften mir auf die Schultern und hoben den Daumen.

   Meinen Blogbeitrag hatte ich inzwischen für beendet erklärt und nach meinem Nachtisch-Eis musste ich die zweite Stufe der Geselligkeit durchlaufen. Wiederholt wurde ich zum Tanzen aufgefordert. Ich glaube zwar, dass ich mich grundsätzlich beim Tanzen nicht dumm anstelle, aber wenn man weiß, dass etwa 50 Augenpaare auf einem haften, ist das noch etwas anderes. Ich bekam die Drehungen nicht mehr ganz flüssig hin, denn Kopf und Füße waren keineswegs mehr harmonisch aufeinander abgestimmt. In einem halbwegs lichten Moment, ich glaube, es muss gegen Mitternacht gewesen sein, zog ich die Reißleine, erklomm - und das ist jetzt wirklich kein Quatsch! - auf allen Vieren die überaus steile Treppe zu den Zimmern, stieß im unbeleuchteten Flur noch unsanft gegen eine Kommode, fand widersinnigerweise sofort das Schlüsselloch für den Zimmerschlüssel, wartete einen Moment bis mein Bett vorbeikam und sprang dann schnell hinein. Es war ein schöner Abend!

   Wenn es nur den Morgen danach nicht gäbe...! Ich verzehre mit noch kreisendem Helm beim Frühstück mein Croissant und zwei Tassen Kaffee, schaffe es anschließend tatsächlich, meine Siebensachen komplett zusammenzupacken und schleiche mich gegen 9 Uhr aus der Tür. Von nun an führe ich für etwa zwei Stunden meinen Kater spazieren und fühle mich wie ein alter Aufkleber an einem rostigen Laternenpfahl. Erst dann hat die Sonne es geschafft, mir den Restalkohol so langsam aus den Poren zu drücken und der Nebel vor den Augen beginnt sich zu lichten.

   Für den Weg heute wünsche ich mir nur, dass er gut markiert ist und dass ich mich nicht in diesem Labyrinth aus Wegen verlaufe. Wenn ich einmal den falschen Abzweig nehme, kann es sein, dass ich erst eine halbe Stunde später den Fehler bemerke, wenn ich vor einem Kanal stehe und ihn nicht überqueren kann. Dann heißt es, den ganzen Weg wieder zurück. Es soll auch schon mal Tage gegeben haben, an denen der richtige Weg unter Wasser stand. Bei der gegenwärtigen Großwetterlage ist das aber nicht zu befürchten.

   Heute ist der Weg durch die Reisfelder für mich noch sehr interessant und keinesfalls langweilig. Die verschiedenen Bewässerungssysteme, das zügig durch die Kanäle rauschende Wasser, die unterschiedlichen Stauanlagen, die mannigfaltige Vogelwelt, der auf einigen Feldern langsam hervorsprießende Reis - NOCH finde ich Gefallen an alldem. In drei Tagen kann ich aber vielleicht keinen Reis mehr sehen, geschweige denn essen.

   Der Geruch zwischen den Reisfeldern ist speziell. Es riecht nicht ganz nach Fischereihafen, eher so ein wenig nach Wattwanderung. Die Frösche begleiten mich mit ihrem Knurren und Quaken die ganze Zeit über und ich verstehe überhaupt nicht, warum ich hier zwar jede Menge Fischreiher, aber keine Störche sehe. Für sie wäre doch hier der Tisch bezüglich Fröschen reichhaltig gedeckt. Mit den Mücken scheine ich noch ein Stillhalteabkommen zu haben. Es gibt sie zwar, aber in Maßen, und bisher hat es noch kein Blutsauger geschafft, seinen Rüssel in meine zarte Haut zu bohren. Na ja, heute liegt es vielleicht auch noch an meinem Restalkohol, den ich ausschwitze und den sie schnöde verschmähen.

   Wie eine kleine Oase liegt das Örtchen Montonero in der großen Reiswüste. Eine Bank und einen Brunnen soll es laut meinem Wanderführer hier vor der kleinen Kirche geben, und das käme mir jetzt gerade recht. Zu meiner großen Verwunderung bellt im Dorf kein Hund, als ich bei den ersten Häusern ankomme. Das hat Montonero aber auch gar nicht nötig. Auf der Dorfstraße patroulliert nämlich eine Schar von sechs stattlichen Gänsen, die mich von Beginn an fest im Blick hat. Als ich immer näher komme, reihen sie sich nebeneinander auf und wie auf ein geheimes Kommando setzen sie auf einmal mit Geschnatter und Gezische zum Angriff an. Ich halte dagegen, verfalle ebenfalls in einen Laufschritt, stoße seltsame Laute aus und denke mir, Angriff ist die beste Verteidigung. Das scheint das Gänsegeschwader dann doch zu beeindrucken, sie drehen um und rennen unter schärfstem Protestgeschrei durch ein Hoftor und sind verschwunden. Die Rast bei der Kirche ist friedlich und erholsam, kein Mensch, kein Auto und keine Gans lassen sich blicken.

   Kaum eine Stunde später habe ich auch schon die ersten Häuser von Vercelli erreicht, die sich selbst gerne als “Reishauptstadt Europas“ bezeichnet. Schon 1000 v.Chr. gab es hier eine keltische Siedlung, unter den Römern hieß die Stadt Vercellae. 1228 wurde hier die erste Universität des Piemonts gegründet. Die ersten Kilometer durch die Straßen der Vororte sind, wie überall, weniger schön. Dann kann einem diese Stadt aber ohne weiteres gefallen. Die Basilica Sant'Andrea mit ihren doppelten Kirchtürmen und dem Kreuzgang, der Dom Sant'Eusebio mit seiner grünlichen Kuppel, die Piazza Cavour, die lange Fußgängerzone Corso Liberta mit ihren Straßencafes, alles sehr nett anzuschauen. Auf den Straßen ist trotz Sonntag erstaunlich wenig los. Andererseits ist aber auch Siesta-Zeit und es ist recht warm. Vielleicht kommen die Leute erst heute Abend aus ihren Häusern und werden richtig munter.

   Mein Handy-Navy bringt mich zielsicher zum Convento di Billieme, meiner Unterkunft, einem alten Gebäude am südlichen Ortsrand von Vercelli. Auf mein Klingeln hin öffnet mir eine ältere Frau, von der nicht zu erwarten ist, dass sie Englisch oder Deutsch spricht, und sie gibt mir mit Händen und Füßen zu verstehen, dass ich ihr folgen möge. Durch ein Gewirr von Treppen und Fluren leitet sie mich zu einem Raum, in dem Don Roberto sitzt. Herzlich begrüßt er mich, stempelt meinen Pilgerpass, zeigt mir Zimmer, Toiletten und Duschraum, kocht mir einen Kaffee und lädt mich für heute Abend zu sich in die Küche zum Abendessen ein.

   Bei Lasagne und Rotwein erfahre ich von ihm, dass er nunmehr seit sage und schreibe 18 Jahren als einziger Mönch hier in diesem doch relativ großen Kloster lebt und etwa seit fünf Jahren immer auch mal Pilger der Via Francigena zur Übernachtung hierher kommen, Tendenz steigend. Er bewirtet sie, wenn diese es wollen, mit Abendessen und Frühstück, und der kleine Obolus, den er dafür verlangt, ist wirklich nicht der Rede wert. “Durch den Kontakt mit den Pilgern empfange ich mehr als ich gebe“, sagt er mir und verabredet sich mit mir für morgen früh um 8 Uhr zum Frühstück.

 

 

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Kommentare: 7
  • #1

    Sebastian (Sonntag, 18 Mai 2014 22:12)

    "...wartete einen Moment bis mein Bett vorbeikam und sprang dann schnell hinein..."
    Wie geil :-)

  • #2

    Kathrin (Sonntag, 18 Mai 2014 22:57)

    Ja, das ist auch meine Lieblingsstelle. Jeden Abend lese ich Deine (ich sag einfach mal DU) Berichte und bin schlicht und ergreifend begeistert. Ich bin zur Zeit noch als "Heimsch...läfer" auf dem Jakobsweg unterwegs, um dann auf die VF abzubiegen. Zur Zeit bin ich in Perl/Schengen angekommen. Pfingsten geht's weiter und bis zum Sommer/Herbst möchte ich gern in Lausanne sein. 2015 plane ich dann meinen Urlaub besser und mach ne größere Strecke. So nun muss ich aber schlafen, morgen wartet mein Job auf mich. Guten Weg

  • #3

    Selma (Montag, 19 Mai 2014 09:33)

    Ich habe mich köstlich amüsiert über diesen Bericht. Ich freue mich schon richtig auf nächstes Jahr. Vielleicht findet ja dann auch eine Dorffete statt, wenn ich in San Germano bin. Nur mit der Trinkfestigkeit wirds bei mir etwas hapern. Weiterhin: Alles Gute!

  • #4

    Die Pilgertochter (Montag, 19 Mai 2014 13:42)

    Liebe Selma, mein Vater ist ja auch nicht trinkfest! Nach unserem letzten (Prosecco-)Gelage auf unserer München-Venedig-Tour jammerte er den gesamten nächsten Tag, man habe ihn verhauen....
    Und zu den Gänsen: Papa, Papa, Papa, du bist mein neuer Rambo! Wildschweine, wildgewordene Hunde, tanzwütige Frauen, wütende Gänse... dich kann ja nix bezwingen! Aber dieses Wochenende hätte ich dich doch zu gerne beobachtet...

  • #5

    Wolfgang Ortmann (Montag, 19 Mai 2014 22:08)

    Hab's mal mit meinem Bett versucht. Hat nicht geklappt, es wollte nicht kommen. Vielleicht lag es am falschen Rotwein.

    Lieber Herr Wagner, weiterhin alles Gute für Sie. Ich freue mich schon auf den nächsten Bericht.

  • #6

    Lore (Dienstag, 20 Mai 2014 17:35)

    Annika, Du hast die von Papa (und dem Wheelie) aufgehaltene Kuh vergessen!

    Und:
    nicht nur Betten kommen bisweilen vorbei, sondern sogar ganze Häuser!

    Siehe hier:

    18 Flaschen Whisky

    Ich hatte 18 Flaschen Whisky in meinem Keller.
    Meine Frau befahl mir, den Inhalt jeder einzelnen ins Spülbecken zu gießen, sonst könnte ich was erleben ...

    Ich sagte ja und fing mit der unangenehmen Arbeit an.

    Ich zog den Korken aus der ersten Flasche und goß den Inhalt ins Becken, mit Ausnahme von einem Glas, das ich trank.

    Dann extrahierte ich den Korken von der zweiten Flasche und tat dasselbe, mit Ausnahme von einem Glas, das ich trank.

    Dann zog ich den Korken der dritten Flasche und goß den Whisky ins Becken, das ich trank.

    Ich zog den Korken der vierten ins Becken und goß die Flasche ins Glas, das ich trank.

    Ich zog die Flasche vom nächsten Korken und trank ein Becken draus und warf den Rest ins Glas.

    Ich zog das Becken aus dem nächsten Glas und goß den Korken in die Flasche.

    Dann korkte ich das Becken mit dem Glas, flaschte den Trank und trinkte den Guß.

    Als ich alles ausgeleert hatte, hielt ich das Haus mit der einen Hand fest, zählte die Gläser, Korken, Flaschen und Becken mit der anderen und stellte fest, daß es 39 waren. Und als das Haus wieder vorbeikam, zählte ich sie noch mal und hatte dann endlich die Häuser in der Flasche, die ich trank.

    Ich stehe gar nicht unter dem Abfluß von Einkohol, wie manche Denker leuten! Ich bin nicht halb so bedenkt, als ihr trunken könntet! Aber ich habe so ein fühlsames Geselt ... oh!!!"

  • #7

    Der Kronprinz (Mittwoch, 21 Mai 2014 17:24)

    Das hört sich sehr nach einem legendären Abend an.


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