Schlecht auf dem Damm

Vercelli - Robbio (19 km)

   In der Nacht friere ich etwas. Alte Klostergemäuer bewirken nach Innen eine ganz nette Kühle und da reicht die eine dünne Decke, mit der ich mich zugedeckt habe, nicht aus. Nach einer Stunde leichtem Frösteln überwinde ich mich endlich, die zweite Decke aus dem Schrank zu holen. Genau so gut könnte ich mir aber auch eine Bleidecke besorgen, sie erdrückt mich fast. Dann lieber frieren! Die Bleidecke fliegt aus dem Bett, ich gehe in die permanente Embryonalhaltung über und wechsel zwischen Schlafen und Frieren.

   Don Roberto kann nicht mit mir frühstücken. Dringende Geschäfte halten ihn davon ab und er wird schon um kurz nach 8 Uhr mit dem Auto abgeholt. Er verweist mich an Angela, die eigentliche Chefin des Hauses, drückt mir zum Abschied kräftig die Hand und eilt von dannen. Schon gestern hatte ich gemerkt, dass Angela eine besondere Marke ist. Ich glaube kaum, dass sie eine offizielle Haushälterin ist, sondern eher ein im Haus aufgenommener Sozialfall mit der Aufgabe, sich ein wenig nützlich zu machen. Mit ihrer ganzen Person ist sie so etwas wie ein Gesamtkunstwerk. Primär fallen einem sofort die Brille mit den Glasbausteingläsern auf, dann die zahnlose Innenausstattung ihres Mundes, schließlich die fetttriefenden Haare und letztendlich ihre nicht eben körperbetonte Kleidung. Letzteres ist aber vielleicht auch besser so. Nur dass das, was sie trägt, eher zu einer Karnevalsparty als in ein Kloster gehört, ist offensichtlich. Ihre ganze Aura wird ständig von einer Nikotinwolke umweht, und wenn sie mal nicht durch die Klosterflure schlufft, sitzt sie auf einem kleinen Balkon und pafft. Eigentlich wäre ja genug zu tun. Von der Eingangstür an über alle Flure, bis hinein in alle Räume, in die ich Einblick haben konnte, türmt sich nämlich... wie soll ich es sagen... ja, Gerümpel! Wenn die Klostergemeinschaft Angela/Roberto nur die Hälfte von dem allen noch gebrauchen könnte, wäre sie mit dem Aussortieren und Wegwerfen der zweiten Hälfte lange beschäftgt. Die Sauberkeit lässt überall ein wenig zu wünschen übrig, aber vielleicht nimmt es Roberto da auch nicht so genau. Mich stört das alles nicht, seine Herzlichkeit und Gastfreundschaft waren mir viel wichtiger. Als sich das große Klostertor auf Angelas Knopfdruck hin vor mir öffnet, steht sie, wieder mit einer Zigarette in der Hand, auf ihrem kleinen Balkon und donnert mir ein “Arrivederci!“ hinterher.

   Bis ich wieder auf der Via Francigena bin, dauert es über eine halbe Stunde. Ich erinnere mich an ein großes Schild im Zentrum, das ich gestern gesehen habe und das darauf verweist, dass es von Vercelli bis Rom auf der Via Francigena noch 809 Kilomter sind. Na bitte, am heutigen Etappenende in Robbio steht nun schon die 7 ganz vorne.

   Nach der großen Brücke über den Fluss Sesia machen mich Riesenlettern (“VIA FRANCIGENA“) und ein dicker weißer Pfeil auf einer Backsteinhauswand darauf aufmerksam, dass ich nun wieder die Hauptstraße verlassen und mich zwischen die Reisfelder begeben darf. Auch wenn dieser Hinweis recht extrem ausfällt, so kann man doch sagen, dass die Auszeichnung des Weges wirklich hervorragend ist. Besonders seit in Piemont die VF-Schilder in Verkehrshinweisschilder-Größe dazugekommen sind, kann man sich eigentlich nicht mehr verlaufen. Dazu führen die in Gelb oder Weiß aufgesprühten Pilgermännchen und rotweißen Aufkleber den Pilger sicher durch Städte, Dörfer und das hiesige Puzzle der Reisfelder. Noch vor wenigen Jahren sah das wohl anders aus. Beschwerden über mangelhafte Markierungen finde ich immer noch in Pilgerbucheinträgen von vor fünf bis sechs Jahren. Für die Pilger damals war das alles noch ein etwas größeres Abenteuer, so langsam kommerzionalisiert sich auch die Via Francigena. Bis sie allerdings die Ausmaße des Camino Frances in Spanien erreicht, dauert es (hoffentlich) noch einige Zeit.

   Heute sieht es nach langer Zeit mal wieder so aus, als könnte sich im Laufe des Tages der Himmel zuziehen und etwas Regen runterkommen. Ohne Wind werden die Temperaturen etwas drückend und die Mücken angriffslustiger. Doch noch müssen sie jeden Versuch, mich anzubohren, mit ihrem Leben bezahlen. Kurz vor Palestro überschreite ich die Grenze von Piemont hinein in die Region Lombardei. Hier beginnt eine besonders fruchtbare Ebene, die auch Lomellina genannt wird. Begrenzt im Westen durch den Sesia, im Süden den Po und im Norden und Osten durch den Ticino, sind hier die weiten Reis- und Kornfelder besonders typisch. Nur..., ich sehe seit fast drei Tagen hier nichts anderes als Reis- und Kornfelder. Vielleicht sind die in der Lomellina eben noch besser. Die einstige Sumpflandschaft wurde von Mönchen ab dem Jahr 1000 trockengelegt. Ich möchte mal wissen, wieviele Mönche dafür notwendig waren und wie lange die dafür gebraucht haben. Muss doch eine saumäßige Arbeit gewesen sein, und das alles ohne Autan!

   Auf dem hohen Hochwasserschutzdamm des Sesia geht es jetzt kilometerlang dahin. Eigentlich mag ich das, so dahinziehen mit weiten Blicken wie von einem laaaaaaangen Balkon. Aber dieser Damm geht mir bald schon auf den Geist. Mit grobem Schotter ist der Weg ausgelegt und ich stolpere, rutsche und rolle auf ihm dahin und auch meinen Wheelie meine ich hinter mir stöhnen zu hören. Außerdem wird der Damm immer wieder auch von Traktoren genutzt, von denen die Bauern zwar immer freundlich heruntergrüßen, aber trotzdem nie mit der Geschwindigkeit runtergehen. Jedesmal werde ich mit Staub paniert und schaffe es nur mit Mühe, so lange den Atem anzuhalten, bis die Staubfahne sich einigermaßen verzogen hat. Nur die unzähligen Mohnblumen am Wegesrand und die tief wild hin und her fliegenden Schwalben machen mir mit ihrer Jagd auf die Mücken viel Freude.

   Auf dem Damm realisiere ich aber auch zum erstenmal, dass hier die Markierungen der Via Francigena in beide Richtungen weisen. Einmal zeigen sie den Pilgern den Weg nach Rom, einmal nach Santiago de Compostela. Ja, von Rom aus gibt es auch eine Via Francigena über Vercelli und Turin, über die Alpen hinweg nach Frankreich hinein bis Le Puy-en-Velay oder bis Arles. Von dort aus verlaufen dann die Via Podiensis bzw. Via Tolosana bis zu den Pyrenäen und von dort letztendlich nach Santiago de Compostela. Wer nicht diesen großen Bogen über Vercelli und Turin gehen möchte, wählt die Via da Costa über Genua und Ventimigglia und erreicht dann auch so Arles. Ein Zukunftsprojekt - wer weiß?

   Bei Palestro, an der neuen Fußgängerbrücke über den breiten Bewässerungskanal Crocettone, treffe ich endlich den Rastplatz an, auf den ich schon seit einiger Zeit warte. Einige kleine Steinbänke gibt es dort, eine Hinweistafel zu Palestro und, geschützt in einer Plastikmappe in einem kleinen Holzkasten, eine Pilgermappe. Es ist interessant, wer sich so in den letzten 14 Tagen hier alles verewigt hat: Schweizer, Franzosen, Holländer, Italiener natürlich, aber noch kein Deutscher. Alle sind sie irgendwo in Frankreich gestartet, in Aosta, Ivrea oder jetzt in Vercelli, aber auch in Rom. Noch heute muss jemand aus Richtung Rom hier gewesen sein. Und warum ist er mir dann nicht begegnet? Die wenigsten, die sich hier eingetragen haben, wollen bis Rom durchgehen. Fast alle nennen Zwischenziele wie Pavia, Piacenza, Lucca oder Siena.

   Ich bin wirklich mal gespannt, wann ich meinem ersten Pilger hier in Italien begegne, unterwegs oder in einer Unterkunft. Kerstin und Hans-Jürgen, die Pilgerfreunde, die auf mich im Internet gekommen sind und mich auf meinem Weg in Bretten besucht haben, sind seit ca. 14 Tagen auch wieder auf der Strecke und werden bald Siena erreichen. In ihrem Blog, den ich regelmäßig lese und der mir viele nützliche Informationen gibt, berichten sie von einigen Pilgerbekanntschaften in den letzten Tagen. Mal sehen, wann es bei mir so weit ist...

   Nach Palestro ist es auch nicht mehr weit bis Robbio. Es ist eine der ganz alten Städte am Pilgerweg nach Rom. Schon im 12. Jahrhundert gab es hier ein Hospiz, in dem Pilger aufgenommen und ver- oder gepflegt wurden. Mein “Hospiz“ ist hier die Herberge im Hinterhof der Stadtverwaltung. D.h., Herberge kann man dazu nicht sagen. Es sind zwei Zimmer mit Bad, die man über eine schmale Treppe erreicht. Die Tür ist nicht abgeschlossen, zwei einfache Betten mit Kopfkissen und Decken stehen in jedem Zimmer, eine Kochplatte, ein paar Teller und Tassen stehen bereit, eine verschlossene Geldkassette mit Schlitz für die Spende, fertig. Alles ist sauber, niemand kommt, um zu kontrollieren, alles läuft auf Vertrauensbasis. Nur ein weiterer Pilger kommt nicht. So kann ich wieder laut mit mir selbst reden, beim Duschen singen und schnarchen, dass die Wände wackeln!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmU216cktDT0daajA/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Waltraud Horn (Montag, 19 Mai 2014 23:15)

    So, lieber Pilger, jetzt habe ich Dich eingeholt, Deinen Anfang hatte ich verpasst und habe endlich alles nachgelesen. Toll, daß deine Füße das aushalten.
    Mach weiter so, Gott paßt ja wohl auf Dich auf.
    Schnarche richtig laut, Du störst ja niemanden.
    Etwas neidisch grüßt Dich
    Waltraud

  • #2

    Die Pilgertochter (Dienstag, 20 Mai 2014 08:49)

    Ich wünsch dir langsam mal ein paar Pilgergesellen!

  • #3

    Der Kronprinz (Mittwoch, 21 Mai 2014 17:33)

    Danke für die Kreation eines neuen Wortes: "Kommerzionalisierung"!


Translation: