Blöder Esel!

Mortara - Gropello-Cairoli (28 km)

   Der Wecker geht heute früher als in den letzten Tagen. Leonardo und Enrico wollen heute noch mit ihren Rädern bis Piacenza, auf der Straße sind das ungefähr 90 Kilometer. Da sie um 7 Uhr frühstücken wollen, stehe ich entsprechend mit auf. Ich erfahre noch das ein oder andere von ihnen. Leonardo zum Beispiel, hat vor drei Jahren aufgehört zu arbeiten. Er war Banker, arbeitete nacheinander in Florenz, Rom und dann für einige Jahre in New York. Seitdem er nicht mehr im Dienst ist, hat er wieder eine viel intensivere Beziehung zu seinem zwei Jahre älteren Bruder aufbauen können. Beruflicher Stress und räumliche Distanz hatten das jahrzehntelang unmöglich gemacht. In den letzten drei Jahren haben beide mit ihren Rädern u.a. die USA von Ost nach West durchquert, waren auf dem Jakobsweg von der heimatlichen Toskana bis nach Santiago unterwegs oder sind jetzt auf der Via Francigena und haben dabei wieder sehr intensiv zueinander gefunden. Als ich dann doch vor ihnen losziehe, winken sie mir noch lange nach.

   Den ersten halben Kilometer muss ich wieder entlang einer breiten Straße zurücklegen. Ein Autofahrer hupt zweimal kurz und hebt grüßend die Hand. Der Tag fängt gut an. Doch dann wird es schon bald etwas kritisch. Der Weg gabelt sich und ich kann beim besten Willen die Markierung nicht finden. Also links oder rechts? In dem fast sandartigen Belag des rechten Weges kann ich die Spuren von schweren Profilsohlen erkennen. Anscheinend ist gestern oder heute hier schon ein Wanderer hergegangen. Also rechts!

   Die Strecke gefällt mir heute besser als gestern. Ich weiß noch nicht mal, woran das liegt. Die Reisfelder sind noch immer Reisfelder, der Mais ist noch immer Mais, Kanäle gibt es immer noch kleine und große, die kleinen Pappelwälder sehen heute auch nicht wesentlich anders aus. Na gut, gestern war es, solange ich unterwegs war, durchgehend bedeckt, heute scheint die Sonne... Ich hab's! Heute gehe ich praktisch die ganze Zeit auf angenehmen Wegen, nicht auf solchen Schotterpisten wie gestern, die anstrengen und ermüden. Phasenweise wird es bald zu angenehm, nämlich dort, wo der feste, glatte Untergrund schon fast in weichen Sand übergeht. Aber hier sieht man wenigstens Spuren, wenn man sich des Weges nicht so sicher ist.

   Heute erfahre ich auch, warum es hier so viele Fischreiher gibt. Als ich an einem kleinen Kanal entlanggehe und nach den wieder mal lauthals quakenden Fröschen Ausschau halte, erschrecke ich mich richtig. Ein kleiner Schwarm von regelrechten Monsterfischen patroulliert den Wasserlauf hinunter, der dickste vorneweg, die anderen “im Windschatten“ hinterher. Wenn es solche Exemplare in den Kanälen gibt, dann bestimmt auch kleinere, die den Reihern eine gute Abwechslung zu den Fröschen bieten.

   Heute steigen die Temperaturen kräftig an. Ich glaube, so warm hatte ich es bisher noch nicht. Ab mittags kann man regelrecht von Tauwetter für Wale sprechen. Nicht, dass ich mich jetzt als Wal bezeichnen möchte, aber ich schwitze schon ganz schön. So einige Gramm werden heute bei mir wieder dran glauben müssen. Außerdem würde ich sowieso mal gerne wissen, wieviel an Gewicht ich bisher auf dem Weg habe liegenlassen. An meinem Gürtel kann ich das nicht festmachen, der hat nämlich keine Löcher, und eine Waage habe ich bisher noch nicht angetroffen. Aber es werden schon wieder einige Kilo sein.

   Nach halber Strecke erreiche ich Tromello. Tremel hieß der Ort früher und wurde bereits im 10. Jahrhundert von Bischof Sigeric durchquert. Sigeric war zu dieser Zeit, genauer gesagt, sogar Erzbischof, und zwar im englischen Canterbury. Er pilgerte nach Rom, um dort sein Pallium aus den Händen des Papstes entgegenzunehmen. Das Pallium - ein 10 bis 15 cm schmales “Kleidungsstück“, das über dem Messgewand getragen wird und sechs eingestickte Kreuze aufweist - wird seit dem 7. Jahrhundert durch den Papst an einzelne Erzbischöfe verliehen. Auf seinem Rückweg von Rom hielt er seine insgesamt 79 Stationen bzw. Etappen seiner Pilgerreise akribisch schriftlich fest (Das Original-Manuskript befindet sich heute in der Nationalbibliothek in London). Deshalb weiß man, dass er hier in Tromello am 42. Tag seiner Rückreise nach Canterbury ankam. Sigeric muss alles in allem ein ordentliches Tempo an den Tag gelegt haben, ob er allerdings seinen Rucksack dabei selbst getragen oder gar einen Wheelie hinter sich hergezogen hat, ist nicht exakt überliefert.

   Direkt bei den ersten Häusern von Tromello kommt ein älterer Mann mit seinem Fahrrad auf mich zu. Drei Meter vor mir hält er an, strahlt über das ganze Gesicht und fragt mich, ob ich Pilger auf der Via Francigena sei. Obwohl das ja offensichtlich ist, bejahe ich und direkt deutet er auf sein Fahrrad. Es ist komplett in den italienischen Nationalfarben Grün-Weiß-Rot gestrichen - und sofort fällt mir der Blog von Kerstin und Hans-Jürgen ein. Noch vor einigen Tagen habe ich darin gelesen, dass Carlo mit seinem Nationalfarben-Fahrrad und dem Via-Francigena-Aufkleber darauf am Ortseingang Pilger anspricht und in sein “offizielles Pilgerbüro“ abschleppt, einen Stempel und eine Pilgerurkunde verspricht und Wasser aus dem Kühlschrank anbietet. Da Kerstin und Hans-Jürgen aber keine Bauernfängerei andeuten, lasse ich mich darauf ein, zumal ich hier in Tromello sowieso eine Rast einlegen will. Carlo führt mich bis ins Zentrum des Ortes hinein und direkt bei der Kirche San Rocco, wo sich schon im Mittelalter die Pilgerherberge befand, öffnet er eine kleine Hofeinfahrt und bittet mich herein. Hinter einer nächsten Tür kommen wir in sein “offizielles Pilgerbüro“, was rein optisch nichts anderes ist, als eine kleine Bar. Sofort verpasst er mir seinen recht dekorativen Stempel in meinen Pilgerpass, überreicht mir die “Urkunde“ nach “historischem“ Vorbild und holt mir eine herrlich kalte Wasserflasche aus dem Kühlschrank. Dann bittet er mich, in einem alten Zahnarztstuhl Platz zu nehmen, mich gut auszuruhen und freut sich offensichtlich riesig, dass ich das alles sehr nett finde. Mit Stolz zeigt er mir die an der Wand hängenden Fotos von vielen Pilgern, die schon bei ihm zu Gast waren, erzählt mir zu vielen kleine Geschichten, von denen ich so gut wie nichts verstehe. Irgendwann fällt mir der Aschenbecher mit einer Zwei-Euro-Münze auf der Bartheke auf und ich vermute, dass er doch eine “Offerta“, eine Spende, von mir erwartet. Als ich tatsächlich einen Euro dazulegen will, und sei es nur für das kalte Wasser, das er mir mittlerweile in meine Flasche gefüllt hat, wehrt er energisch ab. “Pelegrino, no!“ Nur ein Foto möchte er noch machen. Ich auch. So, wie Carlo mich ins Dorf hineingeleitet hat, so geleitet er mich auch wieder hinaus.

   An Garlasco vorbei komme ich zur großen Wallfahrtskirche Santuario Madonna della Bozzola, ein recht monumentales Bauwerk in einem recht kleinen Ort. Warum sie eigentlich fast eine Nummer zu groß ausgefallen ist, erzählt wieder eine Legende. Am ersten Sonntag im September 1465 war das taubstumme Mädchen Maria aus Garlasco mit seinen Tieren auf der Weide. Es zog ein Gewitter auf und das Mädchen suchte Zuflucht in einer Kapelle. Plötzlich erschien neben der Kapelle ein blendend helles Licht und das Mädchen hörte die Worte: “Maria, sage den Einwohnern von Garlasco, dass hier eine Wallfahrtskirche gebaut werden soll, welche die ganze Lomellina beschützen wird. Es werden viele Wunder geschehen und sie werden von den Menschen gesehen werden können“. Maria ging nach Garlasco zurück, und als die Menschen sie tatsächlich sprechen hörten, glaubten sie an ihre Vision. Aufgrund ihrer wunderbaren Heilung wurde sie von nun an Maria Benedetta genannt. Eine kleine Kirche wurde zunächst gebaut, die später, wegen immer größerer Wallfahrtsströme, in den folgenden Jahrhunderten ständig vergrößert wurde. Von außen monumental, von innen prunkvoll - auf der davorliegenden parkähnlichen Grünanlage stinkt es aber nach Kaninchenkot zum Davonlaufen. Das mache ich dann auch.

   Kurz nach der Wallfahrtskirche kommt es mal wieder zu einer Begegnung der besonderen Art. Ich traue meinen Augen nicht, als ich mitten auf meinem Weg, zwischen einem kleinen Kanal und einem kleinen Pappelwald, einen Esel stehen sehe. Als er auf mich aufmerksam wird, lässt er sein typisches Iiihaaaa-Signal ertönen und kommt auf mich zugetrabt. Bevor er mich eventuell umrennt, brülle ich ihn erstmal an. Ich weiß jetzt nicht, ob ihn das erschreckt hat oder ob er beleidigt ist - vielleicht hat er sich ja auch über den Ankömmling gefreut und wollte nur gestreichelt werden - jedenfalls stellt er sich nun quer auf den Weg. Ich will rechts dran vorbei, er geht auch nach rechts. Noch weiter nach rechts kann ich nicht, da ist der Kanal. Ich will links an ihm vorbei - und dieses Jesusmobil geht doch tatsächlich rückwärts ebenfalls nach links und verstellt mir weiterhin den Weg. Weiter nach links kann ich mit meinem Wheelie nicht, da ist ein Graben. Daraufhin mache ich ihm ein Friedensangebot und beginne seine Flanke zu kraulen. Er dreht mir darob den Hintern zu und ich befürchte, dass er gleich nach hinten auskeilt. Ich steuere sicherheitshalber meinen Wheelie rückwärts, er kommt hinterher. Jetzt fängt dieses Langohr so langsam an, mich zu nerven. Als ich gerade meinen schon bei einigen Tierbegegnungen bewährten Brüller loslassen will, ertönt zu meiner totalen Verblüffung ein weiteres kerniges “Iiiihaaaa“. Ich schaue hektisch in die Richtung, aus der es erschallte, und erblicke im Pappelwald ein weiteres Exemplar, allerdings ein offensichtlich älteres. Hier hat wohl gerade die Mama ihren spätpubertären Zögling zur Ordnung gerufen, denn dieser lässt sofort von mir ab und verschwindet zur Mama ins Unterholz. Ich bin gespannt, welche Tierbegegnungen mich noch erwarten und ob sie weiterhin so glimpflich ausgehen wie bisher.

   Die nächste Begegnung ist ganz anderer Natur. Als ich kurz vor meinem Tagesziel Gropello-Cairoli eine Hauptstraße überqueren muss, sitzt da doch tatsächlich auf einem Plastikstuhl eine.... sagen wir mal... eine sehr aufgetakelte junge “Dame“, raucht ihre Zigarette und schaukelt mit dem übergeschlagenen Bein. Wenn das keine Vertreterin des ältesten Gewerbes ist, dann weiß ich es nicht. Für einen Pilgerweg war das ja im Mittelalter überhaupt nichts Ungewöhnliches. Da ging es oft in den Pilgerherbergen oder speziellen Häusern ganz schön locker zu. Ich glaube, damals galt das für einen Pilger noch nichtmal als Sünde. (Heute überhaupt?) Trotzdem mache ich, nach einem kurzen Gruß, ganz schnell, dass ich weiterkomme. Ich glaube allerdings auch nicht, dass sie auf mich unbedingt gewartet hat.

   In Gropello-Cairoli liegt die Pilgerunterkunft direkt über einer Bar neben der Kirche San Giorgio Martire. Als ich mich nähere, sehe ich mit aufsteigender Befürchtung, dass der kleine Platz zwischen Kirche und Bar mit bunten Bändern geschmückt ist und viele Menschen dort herumlaufen. Ein Dorffest? Mit Tanz? An einem Mittwoch? Oh nein, bitte nicht! Ich bin ja von dem letzten noch nicht ganz wieder nüchtern. Doch dann stellt sich was ganz anderes heraus: Heute treffen sich hier, im Schatten der Kirche und beim gesellschaftlichen Mittelpunkt des Ortes, die Kinder, die am nächsten Sonntag hier ihre Heilige Kommunion feiern, nebst Eltern und Anverwandten zu einem kleinen Fest. Der Pfarrer ist mittendrin dabei, die Kleinen toben durch die Gegend und die Großen erfreuen sich daran. Die Dorfjugend ist ebenfalls dabei und ich habe wirklich den Eindruck, als würde hier eine große, intakte Ortsgemeinschaft zusammensein.

   Nach einer Dusche setze ich mich an einen etwas abseits stehenden Tisch, trinke meinen Kaffee... und noch einen... und noch einen... und beobachte mit wachsendem Vergnügen dieses Treiben. Ich denke, ich erlebe hier ein Stück Italien in seiner schönsten Ausprägung.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmaUR5azhGak5TNUk/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 22 Mai 2014 06:54)

    Ich würd mal sagen: "Welcome to paradise!" Du verstehst?

  • #2

    Der Kronprinz (Freitag, 23 Mai 2014 16:59)

    Haha! Zwei Esel duellieren sich...


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