Wieder auf dem E1

Grapello-Cairoli - Pavia (18 km)

   Als ich morgens um kurz nach 7 Uhr zum Frühstück Richtung Bar gehe, sitzen bestimmt schon zehn Männer draußen um einen großen Tisch versammelt und diskutieren die Probleme dieser Welt oder ihres Ortes. Nur zwei von ihnen haben einen Espresso vor sich stehen, einen Verzehrzwang gibt es nicht. Wer etwas haben möchte, holt es sich von drinnen an der Theke oder lässt es eben. Es sind keinesfalls nur die Älteren, die hier zusammensitzen, sondern alle Altersgruppen von 30 bis 70 sind vertreten. Man spricht ruhig und gelassen miteinander, die lauten Töne gibt es eher abends. Ich werde freundlich begrüßt und setze mich mit meinem Kaffee und zwei Croissants an einen Nachbartisch. Es ist bereits recht warm, die Tauben gurren im Glockenturm und ich genieße diese entspannte Atmosphäre.

   Ich genieße sie sogar länger, als ich es eigentlich wollte, und erst um 8 Uhr treibt mich ein fröhliches Morgenlied der Kirchenglocken aus meinem Plastikstuhl. Es ist tatsächlich ein richtiges Lied und ich kann mir gut vorstellen, dass die Kinder in der Schule, die gerade mit dem Unterricht beginnen, in ihren Klassenzimmern kräftig mitsingen.

   Sobald ich Gropello-Cairoli verlasse, bin ich im Naturpark Ticino, und nachdem ich die Autobahn nach Genua überquert habe, sehe ich den Ticino auch schon bald vor mir. Der Fluss entspringt in der Schweiz am Nufenenpass, ist der größte Nebenfluss des Po und mündet nicht weit von meinem heutigen Ziel Pavia in ihn. Schon einmal hatte ich mit dem Ticino zu tun.

   Auf der letzten großen Etappe des E1 vom St. Gotthardpass bis nach Genua hatte er mich 1980 für einige Tage durchs Tessin, dem er ja auch den Namen gegeben hat, und durch die Poebene begleitet. Damals war für vier Wochen mein Lehrerkollege und guter Freund Hajo dabei, der vor einigen Jahren bereits gestorben ist. Und genau hier müssen wir auch gewesen sein. Direkt am Fluss sehe ich nämlich auf einmal die E1-Markierung. Für kurze Zeit geht der E1 mit der Via Francigena parallel, bevor er in Richtung der Ligurischen Berge und nach Genua abzweigt.

   Die ganze Zeit muss ich an Hajo denken, an die gemeinsame Zeit in der Schule, die Musik, die wir zusammen gemacht haben, an heftige pädagogische Diskussionen, die Ausflüge mit den Kollegen in einsame Hütten im winterlichen Sauerland, besonders aber an die Wochen hier auf dem E1, wo er direkt von Anfang an mit bösen Blasen zu kämpfen hatte, aber es trotzdem schaffte und mit mir stolz in Genua ankam und die Füße im Mittelmeer badete. Seinen letzten Kampf hat er schrecklicherweise später verloren. Hajo, ich denk an dich!

   Auf dem Hochwasserschutzdamm des Ticino geht es erstmal dahin. Rechts von mir dehnen sich wiedermal die weiten Felder, von denen ich ab und zu Fasane aufsteigen sehe, links schlängelt sich in weiten Bögen der Ticino und seine weißen Schotter- und Sandbänke leuchten hinter den Bäumen des Auenwaldes hervor. Auf diesen Bänken liegen vereinzelt große Baumstämme, die der Fluss wohl zur Zeit der Schneeschmelze mit tosendem Wasser hierher transportiert hat. Jetzt fließt er, auf eine relativ schmale Rinne begrenzt, gemächlich dahin. Man hört ihn nichtmal.

   Mein Wanderführer beschreibt die Osteria Maltrainsena als einen schönen Platz zur Rast. Tatsächlich bin ich begeistert, als ich dort ankomme. Sie vermittelt den Eindruck einer Strandbar mit Biergartenatmosphäre. Auf einer großen Terrasse stehen weiße und rote Plastiktische und -stühle sowie ein großer Grill, schattenspendende Pavillons und bunte Sonnenschirme, direkt am Rand der Uferböschung Rattan- und Korbsessel mit dicken Polstern, Liegestühle und eine Hängematte und zwischendurch immer wieder verschiedene Blumenarrangements. Aus einem kleinen Lautsprecher erklingt italienischer Kuschelrock, ein großer Wuschelhund liegt im Gras und schläft - Urlaubsgefühle kommen auf. Ich setze mich mit einem eiskalten Johannisbeersaft und einem heißen Kaffee unter einen Sonnenschirm, lege meine Füße frei, schaue hinaus auf den Ticino und bin mal wieder sehr zufrieden. Die Seele baumelt vor sich hin, so sehr, dass ich mein Kinn auf meine Brust ablege. Als der Kopf ruckartig nach hinten rollt und ich dadurch wieder hochschrecke, ist mein Johannisbeersaft warm und der Kaffee kalt. Ich trinke beides trotzdem und gehe anschließend ausgeruht weiter.

   Ein schöner, schmaler Pfad durch den schattigen Auenwald nimmt mich nun auf. Dichtes Efeu umrankt jeden Baum, Brombeeren wachsen mannshoch, Vögel veranstalten ein von mir selten so eindrucksvoll vernommenes Konzert und ich bin mir sicher, dass ich für einen kurzen Moment eine kleine grüne Schlange blitzschnell über den Pfad habe huschen sehen.

   Als ich kurz vor Pavia aus dem Auenwald wieder herauskomme, bemerke ich erstmal so richtig, wie heiß und drückend es mittlerweile geworden ist. Es ziehen auch dunkle Wolken heran und lassen eine geballte Ladung Wasser von oben befürchten. Meine Schritte werden jetzt schneller und bald sehe ich auch auf der anderen Seite des Ticino die ersten Häuser von Pavia auftauchen. Auf meiner Seite begleitet mich nun für ungefähr einen Kilometer ein sog. Vita-Parcour, bei uns war sowas auch als Trimm-dich-Pfad bekannt. Was früher mal genutzt wurde, gammelt jetzt vor sich hin, in Deutschland genauso, wie hier, kurz vor Pavia. Hier amüsiert mich jetzt allerdings, dass bei den einzelnen Stationen nicht nur selbsterklärende Bilder verdeutlichen, was zu tun ist, sondern auch ein Text in Italienisch, Englisch und Deutsch. Welcher Engländer oder Deutsche strapaziert sich denn hier in Pavia auf einem Trimm-dich-Pfad??? Außerdem wäre es doch sinnvoller, dem deutschen Touristen lieber an kulturell interessanten Punkten informierende Texte in Deutsch bereitzustellen, die trifft man aber nur höchst selten an. Jedenfalls weiß ich jetzt, dass ich auf einem flach auf dem Boden liegenden Stamm mit ausgestreckten Armen balancieren soll und vermeiden muss runterzufallen. Mit dem Wheelie kommt das für mich jetzt aber sowieso nicht infrage.

   Über die Ponte Coperta komme ich nach Pavia (Betonung auf dem i!). Im II.Weltkrieg ist diese große überdachte Straßenbrücke zerstört und danach wieder aufgebaut worden. Schon in der Antike hat hier entweder eine Furt oder eine Fähre für einen Übergang über den Ticino gesorgt. Eigentlich könnte ich mir den Gang über die Brücke jetzt schenken, denn meine Herberge bei der Kirche Santa Maria in Betlem liegt auf der “schäl Sick“. Da sie für mich aber erst um 15 Uhr öffnet und es jetzt erst kurz nach 13 Uhr ist, habe ich Zeit genug, um durch die Stadt zu stromern. Wenn ich erstmal in der Herberge bin, habe ich selten den Nerv, mich dann nochmal in Gang zu setzen.

   Ich schluffe also durch die Gassen, ziehe wie immer erstaunte Blicke auf mich, werfe einen Blick auf den gewaltigen Backsteindom mit seiner hohen Kuppel, kaufe mir an der Piazza della Vittoria drei Schaufeln Eis (Stracciatella, Amarena, Nuss) und schluffe leckend weiter durch die Gassen bis zur Basilika di San Michele Maggiore, einem Meisterwerk romanischer Kirchenbaukunst. In dieser Kirche aus hellem Sandstein wurden viele italienische Könige gekrönt, u.a. 1155 Friedrich Barbarossa. Obwohl sie in meinem Wanderführer für diese Uhrzeit als geschlossen angekündigt ist, ist ein großes Seitenportal der Basilika doch geöffnet und ich komme hinein. Zwei Mesnerinnen begrüßen mich freundlich und haben auch gleich einen Stempel für mich parat. Als sie anhand des Stempelpasses sehen, wie lange ich schon unterwegs bin, fällt ihnen etwas die Kinnlade runter und sie versprechen, ganz genau auf meinen Wheelie aufzupassen. So kann ich mir ganz beruhigt Zeit nehmen und diese besondere Kirche auf mich wirken lassen.

  Draußen ist anschließend die Luft wie Blei und der Himmel tiefgrau. Ich muss jetzt ganz schnell sehen, dass ich wieder auf die andere Seite des Ticino zur Herberge komme. Zeitlich passt alles genau, es ist nicht mehr lange hin bis 15 Uhr. Zehn Minuten bin ich zu früh dran, als ich die Kirche Santa Maria in Betlem mit der danebenliegenden Herberge erreiche - da kommt der erste Knall und ein gewaltiges Gewitter bricht los. Glücklicherweise ist über dem Toreingang zur Herberge ein gerade ausreichend großes Plastikdach und ich kann darunter Schutz finden. Don Lombardo, der Priester von Santa Maria in Betlem, kommt wie vereinbart auf die Minute pünktlich mit seinem Auto angefahren, traut sich aber wegen der herunterstürzenden Wassermassen nicht aus seinem Auto heraus. Ich bin mit meinem großen Schirm behilflich und so kommen wir beide halbwegs trocken ins Haus.

Für die Unterkunft knöpft er mir 20 Euro ab. Schon interessant, wie unterschiedlich das doch in den Herbergen gehandhabt wird. Von 0 bis 20 Euro ist alles dabei. Diese Herberge ist allerdings komplett neu renoviert, vielleicht muss noch nachfinanziert werden.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmdkxlYjZVaVJ1Qk0/

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Freitag, 23 Mai 2014 17:08)

    Freut mich, dass du das alles so genießt...

  • #2

    Die Pilgertochter (Montag, 26 Mai 2014 08:47)

    Also, ich bin ja eher für den internationalen Trimm-dich-Pfad als für die Kultur- und Geschichts-Nachhilfe...


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