Transitum Padi

Santa Cristina - Calendasco (28 km, davon 4 km mit Boot)

   Diese herrlichen Unterkünfte in den Herbergen der örtlichen Kirchen haben ja immer wieder den Vorteil, dass sie morgens den Wecker direkt mitliefern. Ab 6 Uhr bekommt man die Glocken der benachbarten Kirchtürme halbstündlich um die Ohren gehauen. Wenn ich beim erstenmal ausreichend wach werde, stehe ich halt auf, sonst eben eine halbe Stunde später. Mich hetzt ja keiner.

   Die einzige, die mich eventuell antreibt, ist die Sonne. Wenn sie wiedermal in ihrer ganzen Herrlichkeit am blauen Himmel steht, möchte ich eher raus. Zum einen, weil es dann in den frühen Morgenstunden einfach besonders schön und stimmungsvoll ist, und zum anderen, weil ich möglichst früh mein Tagwerk geschafft haben möchte, um nicht in die stehende Hitze des Nachmittags zu kommen. So ist es auch heute. Um 6.30 Uhr stehe ich auf, begrüße die freundliche Sonne, packe zügig alles zusammen, müffel mir meinen letzten Rest trockenes Weißbrot mit einem Kanten Salami rein und spüle alles mit lauwarmem Wasser hinunter. Dann bin ich aus der Tür.

   Es ist noch sehr ruhig im Dorf, sogar auf der Hauptdurchgangsstraße, die den Ort der Länge nach durchschneidet, ist so gut wie kein Verkehr. Samstag halt! Selbst die Hunde, an denen ich bei einzelnen Höfen vorbeigehe und die in der Sonne liegen und dösen, heben kaum ihre Köpfe. Auf einmal steigt mir der herrliche Duft einer Backstube in die Nase. Ich bin schon drauf und dran, anzuhalten und mir etwas zu holen, da werde ich abgelenkt. Eine kleine, sehr alte Frau kommt aus der Bäckerei, setzt ihre Unterhaltung, die sie mit der Verkäuferin drinnen geführt hat, jetzt draußen in einer Lautstärke fort, die man ihr überhaupt nicht mehr zutraut, lacht und gestikuliert dabei, dass es eine Freude ist, und hört auch nicht auf damit, nachdem sich die Ladentür schon lange geschlossen und sie sich mit einem Weißbrot in der Hand auf den Heimweg gemacht hat. Fasziniert schaue ich ihr nach und folge ihr mit Abstand, dabei wollte ich mir doch eigentlich etwas aus dem Laden holen. Immer wieder dreht sie sich um, lacht und gestikuliert weiter. Der Witz, den sie sich im Laden erzählt haben, muss wirklich gut gewesen sein.

   Ich habe großen Respekt vor alten Menschen, aber ich möchte diese Frau doch mal kurz beschreiben. Noch nie habe ich derart krumme Beine gesehen. Sie setzen unter dem knielangen, dunkelblauen Rock ganz außen an und stoßen an den gewaltigen Arbeitsschuhen, schnürbandlos und nur von unendlichem Vertrauen gehalten, in einem Winkel von ungefähr fünfundvierzig Grad wieder zusammen. Sie hat kaum noch Haare auf dem Kopf, die wenigen sind recht kurz gehalten und ringeln sich hinter den beiden großen Ohren zu allerliebsten Löckchen. Bei ihrem Lachen wird deutlich, dass sie sich von den meisten Zähnen schon vor Jahrzehnten verabschiedet haben muss. Ihr Gesicht ist eine eindrucksvolle Mischung aus Friede, Freude, Eierkuchen, so etwas wie ein niemals untergehender Mond der guten Laune.

   Als sie nicht mehr lacht, dreht sie sich aber ab und zu nach mir um und winkt mir zu. Mit schnellen Schritten, denen ich kaum zu folgen vermag, tippelt sie vor mir her und an einem großen Holztor dreht sie sich plötzlich zu mir um und bedeutet mir breit grinsend und mit undefinierbaren italienischen Lauten, anzuhalten und hier auf sie zu warten. Ich glaube jedenfalls, dass das so gemeint ist und bleibe zögerlich stehen. Sekunden später steht die alte Frau, mit einer Schnapsflasche unter dem Arm und zwei vom Alter stumpfen Schnapsgläsern in der Hand, strahlend vor mir. Die Flasche sieht so aus, als habe sie schon Napoleon gedient, als er auf Moskau marschierte. Aber zumindest der Inhalt ist klar. Ohne weiter zu fragen, gießt sie uns beiden einen ein, stößt mit mir an und schüttet sich das Zeug in den Hals. Als ich, vollkommen von dieser Situation überrascht, etwas zögere, nickt sie mir aufmunternd zu und kichert wie die Hexe aus Hänsel und Gretel. Ich kann nun wirklich nicht anders und tue es ihr nach. Im nächsten Moment drohen meine Augen aus den Höhlen zu quellen und die letzten Haare stellen sich auf. Ich bekomme einen Hustenanfall und Tränen schießen mir aus den Augen. Wenn ich nicht gesehen hätte, dass wir beide aus derselben Flasche getrunken haben, würde ich das jetzt alles nicht glauben. Diese Frau verzieht nach dem Schnaps keine Miene und ich drohe zu implodieren. Als sie mir laut lachend nachgießen will, ergreife ich die Flucht. Bei aller Liebe, aber keinen 80%igen Alkohol morgens um 8 Uhr!

   Minuten später merke ich, wie mir nur der eine Schluck von diesem Höllenzeug einen Nebelschleier vor die Augen zaubert. Wie gerufen kommt da der Wiesenpfad, wo das Gras mal wieder taufrisch und kniehoch steht und mir die richtige Erfrischung bringt. Ein richtiges Problem allerdings  bringt mir wenig später ein Pfad, den ich so gar nicht auf der Rechnung hatte. Schon mein Wanderführer kündigt mir vor Chignolo Po ungünstig angebrachte oder ganz fehlende Markierungen an und prompt finde ich mich wenig später im Brombeerdschungel wieder. Schon vor mir, denke ich, haben sich Pilger an diesem Pfad versucht, oder ist es nur ein Wildwechsel? Die Brombeerranken hängen quer über den Pfad und reichen mir bis zum Hals. Mit spitzen Fingern versuche ich, sie mir aus dem Weg zu schaffen, aber dies gelingt natürlich nur zum Teil. Der andere Teil zerkratzt mir Beine und Arme und Zweige von im Dschungel ebenfalls vorhandenem Weißdorn ziehen mir auch mal durchs Gesicht. Ich fluche wie ein Rohrspatz, wohlwissend, dass das ja nun auch nicht hilft. Der Wheelie bleibt auch schonmal auf dem engen Pfad in den Ranken stecken und dem Regenschutz bekommen die Dornen bestimmt nicht gut. Der Schweiß fließt, ich ächze und mein Wheelie stöhnt. Als ich fast glaube, es überstanden zu haben, wechselt sich ein Brennnesselfeld mit den Brombeeren ab. Ungefähr 20 m weit muss ich durch die auch noch durch, aber das ist mir jetzt egal. Nach dem Motto “Mit Brüllen schafft man sich ein Ventil“ stürme ich voran und die Brennnesseln peitschen mir um die Beine. Dann habe ich es endlich geschafft, aber meine Beine und Arme sehen schon etwas zerschunden aus. 50 m weiter stoße ich auf einen Schotterweg und die rotweiße Via-Francigena-Markierung leuchtet mir von einem Baum entgegen. Dieser Weg wäre wohl etwas einfacher gewesen, aber einfach kann jeder.

   Bereits gestern Abend hatte Don Antonio von Santa Cristina bei Danilo Parisi angerufen und mich für 13.30 Uhr bei ihm angemeldet. Danilo ist auf der Via Francigena eine Institution. Seit Jahren schon bringt er als Fährmann Pilger von der einen Seite des Po auf die andere. Und zwar nicht irgendwo, sondern am “Transitum Padi“ (“padium“ war der lateinische Ausdruck für den Po), der Fährstelle am uralten Po-Übergang, wo schon Bischof Sigeric aus Canterbury sich hat übersetzen lassen. Danilo kommt mit seinem Boot immer vom vier Kilometer entfernten kleinen Ort Soprarivo, lädt die Pilger ein und setzt sie fast an seiner eigenen Haustür wieder an Land. Ich hoffe doch sehr, dass er nicht ausgerechnet heute krank ist.

   Da der Brombeerdschungel meine Zeitplanung etwas durcheinander gebracht hat, muss ich nun einen Zahn zulegen, damit ich pünktlich an der Fährstelle bin, denn ich bezweifele, ob Danilo auf mich warten würde. Dann käme ich zwar trotzdem über den Po, aber nicht über die historische Route, sondern auf einem Umweg von 10 Kilometern über die Straßenbrücke bei Piacenza, das eigentlich erst morgen mein Tagesziel ist. Auf dem Damm des Po-Nebenflusses Lambro nähere ich mich bei inzwischen immer größer gewordener Hitze dem größten Fluss Italiens. Den Apennin sehe ich im Hintergrund schon lange vor mir, den Po erst, als ich bei einer Dammkurve von diesem auf einem Pfad hinuntersteige und ihn direkt bei der Fährstelle mit seinem braunen Wasser durch die Bäume schimmern sehe. Zäh wie Öl fließt er dahin und sein braunes Wasser transportiert Zweige und Blütenschaum. Die Anlegestelle für Danilo Parisis Boot liegt prall in der Sonne, wie alles andere an diesem Ort auch. Eine Bank unter einem schattigen Dach würde jetzt guttun, gibt es aber nicht. Hatten früher die Pilger ja auch nicht, also nicht maulen! Meine einzige Chance, um bis zu Danilos Erscheinen nicht gargekocht zu werden, ist der kleine Schatten, den eine Backsteinstele wirft, die hier zur Erinnerung an diesen historischen Ort vor einigen Jahren errichtet wurde. So gerade passe ich in diesen Schatten hinein, aber es hilft.

   Ich sitze eine Viertelstunde, da höre ich das Tuckern eines Bootmotors. Danilo kommt! Ich raffe meine Sachen zusammen und mit ungebundenen Schuhen gehe ich zum Landungssteg hinunter. Danilo winkt mir schon entgegen, als er mich mit dem Wheelie auf dem Steg stehen sieht. Er macht fest, hilft mir, meinen ständigen Begleiter an Bord zu hieven und legt auch schon wieder ab. Mit rasender Geschwindigkeit fahren wir den Po hinab und ich lehne mich dabei gemütlich in meinen gepolsterten Sitz.

   Vier Kilometer lang ist die Fahrt und Danilo benötigt dafür keine 10 Minuten. Als ich von Bord gehe und ihm das Fährgeld geben möchte, bittet er mich, ihn noch zu seinem Haus zu begleiten, um mich dort in sein Pilgerbuch einzutragen. Drei Minuten später sitzen wir beide bei einem Glas Rotwein in seinem Garten, er drückt mir seinen berühmt großen Stempel in meinen Pass und ich trage mich in sein Pilgerbuch ein. Er erklärt mir noch, wie ich am besten nach Calendasco komme und wo dort meine Unterkunft ist. Beides hätte ich bestimmt auch so gefunden, aber er möchte “seine Pilger“ eben bestens versorgt wissen. Er begleitet mich noch hoch auf den Po-Damm und ich gehe Calendasco entgegen.

   Die Unterkunft “Le Tre Corone“ liegt nahe der Kirche und wird von einem italienisch-englischen Geschwisterpaar nebst seinen jeweiligen Partnern geführt. Es ist keine klassische Pilgerherberge, bietet aber allen Pilgern eine sehr nette und preisgünstige Bleibe. Heute Abend sogar mit Rockmusik vom Feinsten.

   Als ich ankomme, baut die Band gerade ihre Anlage auf, als ich mich nach einem kurzen Schläfchen für einen Kaffee in den Garten setze, ist Soundcheck, und während ich diese Zeilen ungefähr 10 m von der Bühne entfernt schreibe, läuft das Konzert. Auch mal wieder eine neue Erfahrung.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmM2Jqc250TmJ0TVE/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Montag, 26 Mai 2014 17:30)

    Die zweite alte Dame in Folge, die dir zu Füßen liegt...? Was sagt dir das?

  • #2

    Die Pilgertochter (Dienstag, 27 Mai 2014 13:21)

    Vatter, Vatter, Vatter... du trinkst mir entschieden zuviel...


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