Zu weit geht zu weit!

Calendasco - Piacenza (15 km)

   Zum Frühstück gibt es heute Kekse. Mehr ist heute Morgen eben nicht drin. Der Abend war anstrengend für das englisch-italienische Geschwisterpaar und in der Nacht wurde es spät. Euphorie wirft sie auch nicht aus dem Bett, denn die ganz große Nummer war die Veranstaltung abends nicht. Es war ihr erster Versuch, in Calendasco ein Rockkonzert zu veranstalten und was in Manchester, der Heimat des Vaters, klappt, muss hier in der italienischen Provinz nicht unbedingt die Menschen aus den Wohnzimmersesseln ziehen. Die Zuschauerzahl war sehr überschaubar und rekrutierte sich wohl hauptsächlich aus Freunden und Bekannten der Veranstalter und der Band. Selbst von den jungen Leuten des Ortes waren nicht viele zu sehen, das Durchschnittsalter lag bei etwa 40. Mit der Lautstärke, die bis 24 Uhr aus den Boxen drang, haben sie sich bei der Nachbarschaft bestimmt auch keine Freunde gemacht und die Mienen der beiden sprachen gestern zu vorgerückter Stunde Bände. In der Nacht war dann unüberhörbar mit einigen Freunden Frustsaufen angesagt und ich bezweifle, ob nochmal in Calendasco ein Rockkonzert auf dem Programm stehen wird.

   Heute gibt es einen ganz kurzen Wandertag, nur 12 Kilometer bis Piacenza. Weiter macht keinen Sinn, da nach dieser recht großen Stadt entlang der Via Francigena erstmal eine lange Zeit nichts kommt, wo ich in der Nacht unterschlüpfen könnte. Außerdem muss ich spätestens um 12 Uhr bei meiner Unterkunft sein, weil die nämlich sonst bis 17 Uhr erstmal schließt. Und so lange muss ich selbst in Piacenza nicht rumrennen.

   Der Streckenverlauf heute würde den normalen deutschen Mittelgebirgswanderer wohl eher an den Rand des Wahnsinns treiben. Es geht nur am Rand von Landstraßen dahin, die auch noch ganz schön befahren sind. Kurven gehe ich nicht viele, sondern immer schön stur geradeaus. Anhaltspunkte sind die hohen Kirchtürme der Dörfer, und wenn ich einen von ihnen glücklich erreicht habe, sehe ich den nächsten ein paar Kilometer voraus wieder vor mir. Dazwischen liegen Felder oder Gewerbegebiete und so langsam fange ich an, mich auf den Apennin zu freuen. Hinter Piacenza brauche ich noch drei Tage, dann hat das Flachland ein Ende.

   Das einzig Bemerkenswerte heute unterwegs: Ich komme an einigen Schulen vorbei, wo mir am heutigen Sonntag kein Kindergeschrei entgegenklingt, aber jede Menge Autos davor parken. Männer und Frauen jeden Alters gehen mit Zetteln rein und kommen mit Zetteln wieder raus. In Grüppchen stehen sie vor Tür oder Tor und diskutieren, einmal steht der Pastor dabei, einmal ein Polizist in Uniform. Das Rätsel ist bald gelöst: Heute ist Wahltag, Europawahl. Bei mir in den heimatlichen Gefilden läuft diese auch gerade, aber wohl eher im Vordergrund stehen dort die Kommunalwahlen. Mich stört es sehr, dass ich, solange ich wählen darf, diesmal das erstemal nicht dabei bin. Briefwahl war zu dem Zeitpunkt, als ich zu Hause losgegangen bin, noch nicht möglich. Nun könnte man ja sagen, auf meine Stimme kommt es nicht an, aber vielleicht ja doch, besonders bei uns in Windeck. Also hoffe ich auf eine hohe Wahlbeteiligung und dass viele Windecker ihr Kreuz an der richtigen Stelle gemacht haben. Ich bin äußerst gespannt auf das Wahlergebnis. Schon jetzt meinen Glückwunsch an die Gewinner!

   Die letzten fünf Kilometer ist die Straße noch gerader als vorher und der Verkehr rauscht nur so an mir vorbei. Das Angenehme daran ist eigentlich nur, dass der Fahrtwind der Autos, der mir entgegenschlägt, bei der Hitze etwas für Abkühlung sorgt. Erst, als ich mich der Altstadt von Piacenza nähere, wird es ruhiger. Weite Teile sind verkehrsberuhigt oder nur dem Fußgänger vorbehalten. Das ist in Piacenza nicht anders als in den meisten Innenstädten entlang der Via Francigena. Noch mehr als sonst fällt mir hier aber die hohe Zahl an Kirchen auf. Ich habe das Gefühl, fast alle 100 m steht eine von diesen jahrhundertealten Backsteinkirchen, wo in den meisten im Moment gerade Gottesdienst abgehalten wird.

   Nach zweieinhalb Stunden Gehzeit stehe ich auf dem zentralen Platz von Piacenza, der Piazza del Cavalli mit dem wuchtigen Palazzo Gotico und den beiden Reiterstandbildern zweier Farnese-Herzöge. Touristen sitzen in den Straßencafes in der Sonne, Einheimische in den kleinen Bars im Schatten. Straßenmusikanten mit Gitarre und Akkordeon sitzen an verschiedenen Straßenecken und spielen auf und umherlaufende Blumenverkäufer versuchen, meist vergeblich, ihre bunten Sträuße an den Mann oder an die Frau zu bringen. Ich suche und finde die Touristeninformation.

   Mein Wanderführer sagt mir zwar, dass die heutige Herberge abseits vom Weg liegt, aber was das genau bedeutet, sagt er mir nicht. Die nette junge Dame bei der Information schafft Abhilfe: Nicht abseits vom Weg liegt die Herberge, sondern WEIT ABSEITS! Zwei Kilometer kann ich noch aus dem Zentrum hinausmarschieren und diese zwei Kilometer kommen morgen dann auf das Tagespensum zusätzlich drauf. Bravo! Zeit, noch länger durch die Altstadt zu streifen, habe ich jetzt auch nicht mehr, sonst macht man mir bei der Unterkunft die Tür vor der Nase zu. Ich bekomme einen Stadtplan mit und mach mich auf die Strümpfe.

   Zwei Kilometer sind lang genug, um mir dabei zu überlegen, wie ich das morgen mache. Letzter Stand der Planung war, dass ich 34 angegebene Kilometer bis Fiorenzuola d'Arda gehe. Meist werden daraus auch zwei Kilometer mehr. Jetzt kommen die zwei Kilometer von heute auch noch dazu. Ich nähere mich gefährlich der 40-Kilometer-Marke. Unterwegs soll es drei Furten geben, wo ich eventuell durch kniehohes Wasser muss. Das alles durchgehend der Sonne ausgesetzt. Bei aller Freude am Wandern, dazu habe ich keine Lust! Außerdem ist die Gefahr, sich bei solchen Mammutstrecken eine Blase einzufangen, von der man tagelang was hat, ziemlich hoch. Also werde ich versuchen, die Strecke zu teilen. Mal sehen!

   Der Weg bis zum “Ostello Don Zermani“ zieht sich, aber ich komme an. Die Frau an der Rezeption ist ein Goldstück. Herzlich nimmt sie mich in ihrem Haus auf und zeigt mir alles, was ich wissen muss. Denn gleich hat sie Feierabend und ich bin erstmal bis 17 Uhr alleine im Haus. Dann widmen wir beide uns gemeinschaftlich der Planung meiner nächsten beiden Tagesetappen. Obwohl sie nur “a little, little bit“ Englisch versteht, schaut sie mich liebevoll an, d.h. das eine Auge tut das, während das andere durch die Gegend irrt, und scheint dann verstanden zu haben. Schneller als gedacht ist in Valcanasso, auf halber Strecke der zu langen Etappe, eine Unterkunft gefunden und telefonisch reserviert und die bereits für morgen reservierte um einen Tag verschoben.

   Jetzt genieße ich meinen halben Tag Pause. Nochmal in die Innenstadt zurück  ist mir jetzt auch zu blöd. Was es noch zu sehen gibt, schaue ich mir morgen früh an, wenn ich sowieso wieder durchs Zentrum muss. Stattdessen lege ich einen Wasch- und Putztag ein. Alle Kleidungsstücke, die ich während oder nach den täglichen Touren anhabe, werden heute mal einer gründlichen Wäsche unterzogen, auf der Dachterrasse trocknet bestimmt alles schnell. Die Schuhe müssten mal wieder eingefettet werden und auch meinen Wheelie werde ich mal ein wenig wienern. Intensive Körperpflege ist ebenfalls nicht schlecht und ein wenig lesen und planen kann immer nur von Nutzen sein.

   Und wenn nichts mehr zu tun ist, kann man immer noch ein Nickerchen machen.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmRXV4ODl4TFV4ZzQ/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Sebastian (Sonntag, 25 Mai 2014 21:43)

    Da ist der Reservetag gleich wieder investiert... Das wäre aber auch wirklich etwas lang geworden!

  • #2

    Die Pilgertochter (Dienstag, 27 Mai 2014 13:28)

    40 Kilometer! Das wäre ja ein Mammut-Marsch geworden!


Translation: