Gegen die Uhr

Piacenza - Valconasso (24 km)

   Heute laufe ich wieder gegen die Uhr. Um spätestens 12 Uhr muss ich an meinem Tagesziel Valconasso sein. Dann macht die Casa Diocesana La Belotta nämlich ihre Pforten schon zu. Wer bis dahin nicht angekommen ist, hat Pech gehabt. Es handelt sich wohl um ein Ferienheim, das hauptsächlich von Ehrenamtlern betreut wird. Da Valconasso nicht unmittelbar an der Via Francigena liegt, wird es nicht so häufig von Pilgern in Anspruch genommen. Morgens werden Büroarbeiten getätigt, neue Buchungen entgegengenommen und die Zimmer hergerichtet und dann ist Feierabend. Aber 18 Kilometer müssten bis dahin zu schaffen sein. Also denn, es ist 7.15 Uhr, die Zeit läuft!

   Erstmal steht mir ja jetzt wieder der Weg bis ins Zentrum bevor. Der Himmel ist bedeckt und die Luft schon ganz schön drückend. Bereits gestern Abend begann bei mir der Kopfschmerz zu nagen, und besser geworden ist das über Nacht nicht. Ich glaube, es muss mal wieder ein reinigendes Gewitter durchziehen, das wird auch meinem Kopf guttun. Im Moment muss ich mich auf den Verkehr konzentrieren. Ich darf alle paar Meter eine Seitenstraße überqueren, aus der immer wieder Autos kommen oder einbiegen wollen, Fahrradfahrer, mit denen ich mir den Bürgersteig teile, zischen an mir vorbei, Fußgänger, die mir entgegenkommen, sind meist eher auf ihre Handys konzentriert. Ältere Schüler, die zu dieser Zeit besonders zahlreich auf dem Weg zur Schule sind, gehen zu Dritt nebeneinander und befinden sich im Schlenderschritt. Ein Überholen ist nicht so einfach.

   Als ich am Palazzo Gotico bin, ist es schon kurz vor 8 Uhr. In den Bars stehen oder sitzen die Menschen bei ihren Espressos, die meisten mit einer Zeitung in der Hand. Gestern waren Europawahlen, da will man informiert sein. Auch ich würde jetzt gerne etwas zu den Kommunalwahlen bei mir zu Hause lesen, aber das Wichtigste weiß ich bereits. Dank Internet kenne ich die Ergebnisse von Windeck und bin darüber sehr erfreut. Erhofft hatte ich mir dieses Ergebnis, sicher kann man sich aber nicht immer sein.

   Bald hinter dem Palazzo Gotico und dem Dom beginne ich, den Altstadtbereich von Piacenza hinter mir zu lassen. Wieder fallen mir die vielen Kirchen und großen Gebäude aus dem 12.-14. Jahrhundert auf, von denen einige, laut Hinweistafeln, ehemalige Hospize und Herbergen aus der Hauptpilgerzeit sind. Piacenza lag am Kreuzungspunkt verschiedener Pilgerwege. Von hier aus zogen die Pilger nicht nur nach Rom oder Santiago de Compostela, sondern auch ins Heilige Land nach Jerusalem. Entsprechend viele Spitäler und Herbergen boten den Reisenden Schutz für die Nacht, viele Kirchen die Möglichkeit, für eine gesunde Heimkehr zu beten. Pilgerwege waren aber immer auch Handelswege und umgekehrt. Einer davon war die alte Römerstraße “Via Aemilia“. Über 250 km verband sie Piacenza mit Rimini an der Adria und hat der heutigen Region Emilia Romagna, in der ich mich seit der Po-Überquerung befinde, ihren Namen gegeben.

   Auf der “modernen Form“ genau dieses uralten Handelsweges bewege ich mich nun aus Piacenza heraus. Heute ist es die Ausfallstraße SS9, heißt innerhalb des Stadtgebietes immer noch Via Emilia Romana, später Emilia Parmense. Genauso laut und auf kilometerlanger schnurgerader Straße wie sie mich empfangen hat, lässt mich die Stadt auch wieder hinausziehen und so langsam freue ich mich doch auf die kurvenreicheren Strecken in den Bergen des Apennin. Als ich die Hauptstraße endlich verlassen kann und auf einer kleinen und ruhigen Straße Ivaccari entgegenlaufe, sehe ich, wie nahe der Apennin schon gekommen ist und er scheint mir versprechen zu wollen, dass die Langeweile bald vorbei ist.

   Zweieinviertel Stunden bin ich jetzt auf Asphalt stramm gegangen, die Oberschenkelmuskulatur ruft nach einer Pause. In einer kleinen Grünanlage bei Ivaccari stehen einige Bänke, ich brauche mir nur eine auszusuchen. Ich will mir gerade, wie so oft, meine Schuhe ausziehen, da durchzuckt es mich. Ich habe bei meiner Zeitplanung nicht die zusätzlichen zwei Kilometer von meiner Unterkunft zurück ins Zentrum von Piacenza berücksichtigt. Die Schuhe bleiben an! Fünf Minuten später gehe ich weiter. Es ist gleich 9.45 Uhr.

   Ich schaue mir die Karte in meinem Wanderführer an und überlege mir, wann ich wo sein muss, um noch pünktlich in Valconasso anzukommen. Noch müsste es reichen, Verzögerungen sollte es aber nicht mehr geben. Ungefähr einen Kilometer geht es nun auf einem Feldweg, anschließend auf einem schmalen Waldpfad am Nure-Flussufer entlang, dann hat mich der Asphalt wieder. Die Straße nach San Giorgio Piacentino hinein ist schmal, dafür aber viel befahren. Ich quetsche mich am Randstreifen entlang, entgegenkommende Autofahrer halten bei Gegenverkehr, um es nicht noch enger für mich zu machen, grüßen trotzdem freundlich. Am Ortsanfang von San Giorgio muss ich aufpassen, den Abzweig nach Valconasso nicht zu verpassen. Die Via Francigena geht dem Straßenverlauf folgend geradeaus, ich muss links abbiegen. Es ist kurz nach 11 Uhr, knapp eine Stunde habe ich noch.

   Gestern war es ja so ähnlich. Nur, in Piecenza WOLLTE ich um 12 Uhr an der Unterkunft sein, damit ich nicht bis um 17 Uhr vor verschlossener Tür stand. In Valconasso MUSS ich um 12 Uhr da sein, sonst darf ich nochmal 18 km weiter. Meine Schritte werden raumgreifender. Die Straße ist schmal, Verkehr so gut wie keiner. Ganz weit hinten sehe ich die ersten Häuser. Bei meinem nochmal gesteigerten Tempo fange ich heute das erstemal an zu schwitzen. Nach dem bedeckten Morgen kämpft sich jetzt doch noch die Sonne hervor und heizt mir zusätzlich ein. Noch zwei lange Kurven, da vorne ist der Ortsanfang. Es ist 11.35 Uhr.

   Mit dem Ortsanfang habe ich aber noch nicht meine Unterkunft erreicht. Ich schaue in meinem Wanderführer nach der Adresse: “Via Valcanasso 10“. Das hört sich jetzt blöd an. Innerhalb einer Ortschaft tragen Straßen nicht den gleichen Namen. Straßen, bei denen das so ist, führen in einen Ort hinein. Mir schwant Ungemach. Ich halte schnell an einer Bar und frage nach. Ja, die Bedienung weiß, wo die Casa Diocesana La Bellotta ist. Ungefähr eineinhalb Kilometer da vorne links ab Richtung Pontenura. Mir fällt mein Lächeln aus dem Gesicht. Es ist 11.45 Uhr.

   Den Rest kann man jetzt nur noch als “gestreckten Galopp“ bezeichnen. Kurz vor dem Laufschritt-Modus jage ich die Straße hinunter. Hinter einem weiten Feld sehe ich ein großes Gebäude. Wenn es das wirklich ist, könnte ich es schaffen. Als ich näherkomme, erkenne ich neben dem großen Gebäude Tennisplätze, dahinter einen kleinen Sportplatz. Das große Gebäude ist eine Turnhalle. Mich befällt etwas die Panik. Es ist 11.58 Uhr.

   Dann kommt die Erleichterung. Hinter der Turnhalle kommt noch ein großes Gebäude, an der Eingangstür glänzt mir die Hausnummer 10 entgegen, dann auch das erhoffte Namensschild. 24 Kilometer habe ich in viereinhalb Stunden reiner Gehzeit “runtergerissen“. Nicht schlecht für einen alten Mann! Als ich die Klinke drücke - ist die Tür verschlossen. Neiiiiin!!! Dann ertönt von drinnen der erlösende Ausruf “Uno momento!!!“ Na, Gott sei Dank! Wenn es sein muss, warte ich auch mehrere Momente. Aber Sekunden später wird der Schlüssel im Schloss gedreht, ein älterer Herr lächelt mich freundlich an und bittet mich herein. Ich hätte ihn umarmen können! Mein Bett für heute Nacht ist gesichert.

   Der Rest ist Erholung.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmRkNleGtWaW5PX3c/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Dienstag, 27 Mai 2014 10:31)

    Poh, was für ein Ritt!!! Respekt, alter Mann!

  • #2

    Die Pilgertochter (Dienstag, 27 Mai 2014 15:15)

    Wie ätzend! Auf so einen Galopp hätte ich ja gar keine Lust! Aber du hast es ja geschafft. Respekt, alter Mann!


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