"Da sind sie ja wieder!"

Sivizzano - Cassio (14 km)

   Als sich gestern Abend Erica zu einem Besuch bei ihrer Freundin im Dorf verabredete, warnte sie mich noch vor der Kirchenglocke. Sie schlage nur zweimal am Tag, abends um 20 und morgens um 6 Uhr, dann aber so richtig. Eine halbe Stunde später fiel ich beim Blogschreiben im Klosterhof fast von der Bank. Also die Glocke kann wirklich was, dachte ich mir so und vergaß sie dann aber wieder. Nun war ich ja in dem Herbergen-Gewölbekeller wieder alleine, es war herrlich ruhig und zum Benutzen meiner Ohrenstöpsel gab es keinen Grund. Um 5.50 Uhr schaue ich morgens früh auf meine Uhr und stelle mit Zufriedenheit fest, dass mein Wecker erst in über einer Stunde loslegen wird und drehe mich nochmal genussvoll um. Gerade bin ich wieder eingeschlafen, da bricht die Hölle über mir los. Man muss wissen, dass der Kirchturm unmittelbar an die Wand der Herberge grenzt. Daher höre ich nicht nur die Glocke in einer unfassbaren Lautstärke, sondern der ganze Boden zittert. Mein Herz schlägt solche Purzelbäume, dass an ein Weiterschlafen gar nicht zu denken ist. Also kann ich auch aufstehen.

   Beim Gang zur Toilette über den Klosterhof der nächste Tiefschlag: Es regnet. Ich lass mir Zeit, frühstücke in aller Ruhe - es regnet immer noch. Ich packe meine Sachen, fege den ganzen Gewölbekeller mal aus, ziehe meine Schuhe an, halte meine Nase aus der Tür - es regnet, eher mehr als weniger. Jetzt reicht's! Die Etappe heute weist zwar viele Höhenmeter auf, dafür ist sie nicht so lang. Also versuche ich es mal mit dem Mittel, das mein Töchterchen ab und zu anwendet: Protestschlafen. Schuhe aus und drauf auf die Matratze! Binnen Sekunden schlafe ich wieder.

  Eine Stunde später wecken mich die Kameruner, die in der Pilgerküche anfangen zu arbeiten. Für mich ist klar: Egal, ob es jetzt noch regnet oder nicht, ich gehe los. Und siehe da: Es regnet zwar noch zwei Tropfen in sechs Reihen, aber es wird deutlich heller. Ich bin sicher, gleich hört es auf. Beim Losmarschieren fallen mir noch Worte von Ericas Mann ein, die er gestern Nachmittag losgelassen hat. Er habe die Wettervorhersage gehört, das Wetter soll ab nächste Woche schöner werden. ??? Wie jetzt??? Das Wetter ist doch ganz hervorragend. “Schöner“ heiße bei ihm 35-40°C im Schatten, keine Wolken am Himmel. Davon könne ja wohl im Moment noch keine Rede sein. Ich werd' verrückt, also dann muss das Wetter nicht unbedingt “schöner“ werden, mir reicht das schon. 

   Selbst jetzt, bei der stetigen leichten Steigung die kleine Straße hinauf, wird mir ausreichend warm. Ich denke lieber gar nicht daran, wie das gleich werden wird, wenn es so richtig bergauf geht. Eine Frau, die gerade aus einem der weit verstreuten Häuser herauskommt, scheint aber bezüglich der Temperaturen der gleichen Meinung zu sein wie Ericas Mann. Sie kommt mir entgegen, schüttelt sich und sagt zu mir irgendetwas mit “frigido“. Wahrscheinlich kann sie überhaupt nicht verstehen, dass ich im T-Shirt unterwegs bin.

   Nach zwei Kilometern ist es dann soweit: Von der kleinen Straße zweigt eine noch kleinere ab und die geht ordentlich aufwärts. Aber es ist immer noch eine Straße, ich kann problemlos laufen und der Wheelie rollen. Bardone ist das erste Bergdorf, das ich erreiche, Terenzo das nächste. Beide mit kleinen, hübschen, fast 1000 Jahre alten Kirchen, alten Bruchsteinhäusern und Brunnen. Am Straßenrand sehe ich jetzt immer wieder Steinpfosten mit eingelassenen Pilgerkacheln. Manchmal fehlen die Kacheln auch. Sind Souvenirjäger am Werk gewesen? Eigenartigerweise finde ich aber auch die gleichen Kacheln an manchen Hauswänden als Verzierungen wieder. 

   Als ich mich in Terenzo auf der Kirchenmauer niederlasse, um meinen Blog von gestern endlich ins Internet zu setzen (im Gewölbekeller von Sivizzano waren wohl die Wände zu dick), kommen drei Radpilger die Straße hinaufgekeucht, einer noch fahrend, die beiden anderen schiebend. In Fornovo sind die etwa Dreißigjährigen heute gestartet und sie wissen nicht, wie weit es an diesem Tag noch geht. Nach einem kurzen Wortgeplänkel steigen sie wieder in die Pedalen, während ich mich weiter um einen Internetzugang bemühe. Leider habe ich keinen Erfolg, also mache ich mich auch an die nächsten Höhenmeter.

   Nur die fallen mir jetzt gar nicht mehr so leicht. Ein Pfad zweigt nämlich  von der Straße ab und der hat es in sich. Sehr steil, ausgewaschen, felsig, glatt. Auf einmal Stimmen hinter mir - die Radpilger. Sie haben den Abzweig auf den Pfad verpasst, erst spät ihren Fehler bemerkt und sind jetzt wieder hinter mir. Es gäbe ja auch die Radpilger-Streckenvariante, aber sie haben es sich in den Kopf gesetzt, den Weg der Fußpilger zu machen. Das haben sie nun davon. Und ein bepacktes Rad solch einen Pfad hochzuschieben, ist ein besonderes Vergnügen. Ich kann meinen Wheelie hinter mir herziehen, die drei müssen ihre Räder seitlich neben sich herschieben - ganz was Feines. Jedenfalls habe ich den Berg schneller als sie erklommen und sitze bereits fünf Minuten auf einer Picknickbank, als sie mit ihren Rädern stöhnend oben ankommen. Sie lachen gequält zu mir herüber, als wollten sie sagen: “Wir hätten ja auch die Radpilgerstrecke nehmen können, aber... na ja...“, setzen sich endlich mal wieder auf ihre Sättel und fahren weiter.

   Ich versuche ein weiteres Mal, ins Internet zu kommen, wieder ohne Erfolg. Das darf jetzt aber nicht zum Normalzustand werden, denke ich mir und mache mich auch wieder auf den Weg. Ich sehe, wie eine kleine Straße sich hier oben vom Sattel am Berghang entlang nach Castello di Casola hinunterschlängelt, eine Via-Francigena-Markierung weist aber auf einen Pfad steil bergab. Ich befürchte schwer eine Schikane nach dem Motto: Erst steil bergab, dann wieder steil bergauf, Hauptsache die Pilger müssen keinen Asphalt gehen. Nicht mit mir, denke ich und gehe auf der Straße weiter. 

   Die nächste halbe Stunde ist Genusswandern. Leicht abfallend geht es aussichtsreich Castello di Casola entgegen, links geht es tief ins Tal hinunter, um mich herum hohe Berge. Ich bin mitten im Apennin. Hinter Castello di Casola geht die schöne Straße sogar noch weiter, Autos gibt es hier anscheinend nicht, es ist einfach herrlich. Eine Viertelstunde später bin ich bei der kleinen Ansiedlung von Villa di Casola. Hier weiß ich jetzt allerdings, dass das schöne Leben erstmal wieder vorbei ist. An der Stelle, wo wieder ein Pfad beginnt, den mein Wanderführer mit “Der Steig weist ruppige und holprige Stellen... auf...“ beschreibt, halte ich kurz an und bereite mich innerlich vor. Und dann traue ich meinen Augen nicht. Unten aus dem Tal quälen sich meine drei Radpilger hoch. Sie schauen mich im ersten Moment auch an, als wäre ich der Weihnachtsmann, dann brechen sie in Gelächter aus. Ich glaube, der erste sagt zu den anderen, dass sie vielleicht doch lieber zu Fuß gehen sollten, weil sie dann schneller wären, aber so richtig lachen können die anderen darüber nicht.

   Dann kommt für uns vier der heutigen Quälerei zweiter Teil. Wieder steil, ausgewaschen, glitschig. Das Positive nur, der Pfad geht durch einen schattigen Kiefern- und Eichenwald. Die Sonne, die inzwischen wieder kräftig vom Himmel knallt, kann mich nicht noch zusätzlich ärgern. Trotzdem mag ich mir nicht vorstellen, dass das hier eine berüchtigte Downhill-Mountainbikeroute sein soll. Wie kann man daaaaa runterfahren!? “Salti del Diavoli“ - wenn eine Strecke schon so heißt... Wir stöhnen gemeinsam, schwitzen gemeinsam, hoffen gemeinsam, dass das bald ein Ende hat. 

   Endlich erreichen wir wieder eine Straße - und die führt nach zwei Kilometern direkt nach Cassio hinein. Oooder man nimmt nochmal den markierten Abzweig... geht steil einen Pfad hinunter, nur um für ein Foto an einem schönen Aussichtspunkt vorbeizukommen, um dann genauso steil wieder nach Cassio emporzusteigen. Nur, wer ist schon so verrückt? Vielleicht die drei Radpilger? Ich nehme aber an, jetzt haben sie auch die Nase voll und fahren der Straße nach. Ich habe sie jedenfalls nicht mehr gesehen.

   Um 14 Uhr bin ich am Ostello di Cassio, meinem heutigen Quartier. Ein tolles Haus, einem jeden Pilger wärmstens ans Herz gelegt. Schöne, saubere Zimmer, mit viel Liebe zum Detail ausgeschmückt, ein herrlicher Garten zum Entspannen, ein freundlicher Pilgervater. Genau das Richtige nach einem kurzen, aber anstrengenden Tag. 

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmSldVWHBuNDdOYlE/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Dienstag, 03 Juni 2014 13:56)

    Tja manchmal sind aller guten Dinge eben doch vier...

  • #2

    Die Pilgertochter (Samstag, 14 Juni 2014 23:33)

    Wie schön! Was macht man, wenn man nix mit sich anzufangen weiß? Man fegt die Pilgerherberge! Das kann auch nur dem Papa passieren! Und schön, dass du dich an mein Protestschlafen erinnerst und es im richtigen Moment anzuwenden weißt!


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