Vespa-Clubs on tour

Cassio - Ostello Passo della Cisa (20 km)

   Beim etwas mühsamen Aufstehen rumort es in meinem Schädel wie auf einer Großraumbaustelle in Dubai, während meine Körpermitte sich anschickt, ein kleines Fass Salzsäure nach oben zu pumpen. Gestern Abend drohte es mal wieder alkoholisch etwas unübersichtlich zu werden. Und das kam so:

   Ich hatte gerade mein Entspannungsnickerchen hinter mir, da kommt ein Pilger in meinem Zimmer zur Tür herein. Bald ist klar, er ist Deutscher, genauer gesagt Franke und heißt Roland. Seit Lausanne befindet er sich auf der Via Francigena, will, sobald er Rom erreicht hat, mit dem Zug nach Venedig fahren, von dort per Bus nach Belluno und dann auf dem “Traumpfad München - Venedig“ die Alpen von Süden nach Norden überqueren. In München besucht er seine Schwester, geht dann weiter auf Nürnberg zu und besucht dort seinen Bruder. “Der Rest ist für mich ein Heimspiel. Bis nach Hause sind es dann nur noch wenige Tage und ich werde unterwegs keinen Bierkeller auslassen. Im September werde ich wieder zu Hause sein.“ Das alles rief bei bei mir erstmal Bewunderung hervor. Dann allerdings entwickelte sich Roland in meinen Augen zum Knötterkopp. Die Poebene wäre ja wohl eine Zumutung, in der Schweiz ließe die Markierung sehr zu wünschen übrig, bei den Ortsanfängen fehlten die Tafeln mit den Stadtplänen, die Unterkünfte wären teilweise unter aller Sau, usw. ..., wenn die Via Francigena mal den Stellenwert eines Jakobswegs erreichen möchte, müsse aber noch einiges getan werden. Ich merkte sofort, dass es sich nicht lohnt, mit ihm darüber eine Diskussion anzufangen, hier war einfach ein Fachmann unterwegs. Ich empfahl ihm, erstmal zu duschen, dann sähe die Welt schon wieder anders aus. “Das kann ich Ihnen sagen, der Frau in der Touristen-Information in Fidenza habe ich aber Bescheid gesagt. Wenn die hier noch was werden wollen, muss sich noch vieles ändern, habe ich ihr gesagt“. Jaaa, jaaa... Auf meiner Symphathie-Skala landete er erstmal ziemlich weit unten.

   Als ich im Garten saß, um meine Entspannungsphase fortzusetzen, tauchte er frisch geduscht auf und knötterte weiter. “Also der Weg im Aostatal war ja teilweise so schlecht, dass ich mich zweimal am Fuß verletzt habe. Ich bin dann drei Tage lang nur etwa zehn Kilometer am Tag gegangen, den Rest der Tage bin ich immer so 20 bis 30 Kilometer mit dem Bus gefahren, um den Fuß zu schonen. In den Unterkünften habe ich dann massiert, massiert, massiert. Jetzt geht' s wieder! So muss man das machen. In den letzten drei Tagen bin ich jeweils um die 35 bis 40 Kilometer gelaufen, um alles wieder aufzuholen. Ging ganz gut, nur diese Hitze und diese blöden Hunde in der Poebene... unmöglich!“ Vielleicht meckert er, weil er einfach überanstrengt ist. Vielleicht darf nicht sein, was nicht sein kann! Und in einer Ebene zu wandern, kann vielleicht nicht schön sein. “Aber eins kann ich Ihnen sagen: Gegen die Via Francigena ist der Jakobsweg in Spanien ein Trimm-Dich-Pfad fürs Altersheim!“ Damit lag Roland allerdings nicht so ganz falsch.

   “Ich gehe jetzt mal auf ein bis zwei Gläser Rotwein rüber, dann habe ich die nötige Bettschwere und kann gut schlafen. Außerdem muss ich noch Tagebuch schreiben“. Jau, mach mal, Roland! Mit “rüber“ war die Pizzeria auf der gegenüberliegenden Straßenseite gemeint, die ich auch schon zum Abendessen ins Auge gefasst hatte. Roland ließ sich draußen an einem Tisch nieder, schrieb und trank.

   Schon am frühen Abend wird es in Cassio auf einer Höhe von fast 900 m ü.NN trotz Sonnenschein empfindlich kühl. Ich hatte die Wahl zwischen Frieren, aufs Zimmer oder auch “rüber“ zu gehen. Ich entschied mich für Letzteres, denn es gelüstete mich nach einer Pasta. Roland hatte sich inzwischen auch nach Drinnen begeben, wahrscheinlich zornig darüber, dass man ihm noch keinen Heizpilz aufgestellt hatte. Er saß noch vor seinem Tagebuch und einem Glas Rotwein, mindestens seinem zweiten. Ich setzte mich an einen Nachbartisch, um ihn nicht zu stören, aber auch, um selbst beim Blogschreiben nicht gestört zu werden.

   Nach einer halben Stunde hatte er seine “Büroarbeit“ fertig, verließ seinen Tisch und pflanzte sich an meinen. Na, bravo! Die Knötterei ging munter weiter, ich reagierte selten bis gar nicht. Als ich dann doch resignierte, bestellte ich mir meine Pasta. Roland bestellte auch Pasta. In der Pizzeria hängen viele Bilder von italienischen Filmstars der 50er Jahre, Sophia Loren, Gina Lollobrigida, Marcello Mastroianni... Während wir auf die Pasta warteten, schaute sich mein Pilgerfreund um und geriet ganz aus dem Häuschen. “Das waren damals noch Stars, nicht wie heute alle diese Sternchen. Überhaupt waren die italienischen Schauspieler die besten“. Wir aßen unsere Pasta, ich trank meine zwei Bier, Roland stieg auch auf Bier um. Dann wollte Roland ins Bett. “Der Tag war lang genug“. Hast recht, Roland. Geh ins Bett! “Also denn, wir werden uns morgen früh ja wohl nicht mehr sprechen, ich will schnell weg. Und außerdem werde ich wohl weiter gehen als Sie. Einen guten Weg noch!“ Ja, Roland, einen guten Weg noch!

   Fünf Minuten später stand er vollkommen fassungslos wieder vor meinem Tisch. “Wir sind ausgesperrt! Der Hospitalero wohnt ja gar nicht drüben und die anderen Pilger, die noch gekommem sind, sind weg zur Bar oben im Dorf und haben die Haustür zugezogen. Jetzt müssen wir warten, bis die wiederkommen. Das ist jetzt aber der Höhepunkt!“ Auf die Idee, sich den Schlüssel aus der Bar zu holen, kam er nicht. Dafür begann jetzt sein Frustsaufen. Drei Stunden lang stand in Folge ein Bier nach dem anderen vor ihm - und vor mir. Er bestand darauf, mich freizuhalten, und irgendwie wehrte ich mich dagegen, ihn daran zu hindern. Er wurde immer redseliger, immer lauter, ich immer bierseliger, immer leiser. Als dann endlich drüben in den Fenstern Licht aufleuchtete und wir beide rüberschaukelten, war der Weg gefühlt doppelt so lang wie der Hinweg. Im Bad stieß ich mir zweimal hintereinander am tiefen Deckenbalken den Schädel und ging schon mit Kopfschmerzen ins Bett. Wie sollte da erst der Morgen werden.

   Wie anfangs gesagt, der Morgen tut beim Aufstehen etwas weh. Aber der strahlende Sonnenschein und die Aussicht auf einen schönen Wandertag heilen bei mir schnell die Wunden, die der Alkohol geschlagen hat. Roland ist natürlich noch nicht weg, und ich lasse mir beim Frühstück genug Zeit, damit er nicht noch auf die Idee kommt, sich mir anzuschließen. Irgendwann ist er grußlos weg.

   Der Weg heute ist Genuss pur - für den, der die leichtere Variante wählt. Und die heißt wieder mal: Straße. Durchgehend von Cassio bis zu meinem Ziel, dem Ostello Passio di Cisa, ist es eine Höhenstraße mit grandiosen Blicken über die Täler und Berge des Apennin. Bis zur Hälfte der Strecke nach Berceto verläuft sie zunächst ohne große Höhenunterschiede, danach bis zum Passo della Cisa beständig, aber nur so steil bergauf, dass ich ohne groß zu schnaufen hochziehen kann, also Kategorie 1. Die Alternative wäre: Immer wieder mal links oder rechts von der Straße ab, hoch auf den Berg, steil wieder runter, auf zum Teil sehr ruppigen Pfaden, teils durch Wald, wo die Sicht gerade mal bis vor die eigenen Füße reicht.

Wenn ich nur die vierrädrigen Fahrzeuge zählen würde, könnte ich sagen: Auf der Straße ist kaum Verkehr. Bei den zweirädrigen sieht es da am heutigen Sonntag anders aus. Kurvenreiche Höhenstraße bei sonnigem Wetter kann nur bedeuten: Motorradwetter. Komischerweise kommen 90% der Motorradfahrer aus Richtung Fidenza, d.h. sie überholen mich. Die tollsten Maschinen sind auf der Strecke, die buntesten Motorradanzüge, mit Gepäck oder ohne, alleine oder mit Sozius - aber alle sind sie vor allem schnell, sehr schnell. 90% der Radfahrer kommen von vorne, aus Richtung Pontremoli. Den Cisa-Pass haben sie bereits geschafft und jetzt geht es in rasender Fahrt die Straße hinunter. Manchmal habe ich bei den ca. 60 kmh, die sie dabei erreichen, ein schlechtes Gefühl. Die Straße hat immer mal wieder Schäden, wie Risse, Absenkungen oder tiefe Schlaglöcher. Hoffentlich reagieren alle immer schnell genug, um Stürze bei dieser Geschwindigkeit zu vermeiden. Freude habe ich an der dritten Gruppe der Zweiradenthusiasten, den Vespafahrern. Irgendwo muss eine Veranstaltung laufen, wo Vespa-Clubs aus vielen Städten Italiens sich treffen und auf die Strecke geschickt werden. “Vespa-Clubs on tour“ sozusagen. Den ganzen Tag sind Vespas unterwegs. Mal der “Vespa-Club Milano“, dann der “Vespa-Club Pisa... Roma... Firenze... La Spezia“, usw. Immer sind es jeweils 5 bis 10 Fahrer eines Clubs, die mir in erheblicher Fahrt entgegengeschnurrt kommen. Es scheint mir aber eine Fahrt auf Geschwindigkeit zu sein, denn alle haben einen sehr ordentlichen Zacken drauf. Trotzdem findet immer noch der ein oder andere Fahrer die Zeit, mich kurz anzuhupen und zu grüßen. Das Spektakel der Zweiräder läuft den ganzen Tag, und da ich ja auch zwei Räder habe, gehöre ich also, sozusagen als Exot, mit dazu.

   Die Lautstärke der Höhenstraße wird für mich nur gemindert, als ich für eine Stunde mal von der Rennpiste abzweige, um nach Berceto hineinzugehen. Dort ist gerade der Gottesdienst im romanischen Dom San Moderanno beendet und die Menschen bevölkern nun den Platz davor oder sichern sich einen Platz vor den Bars. Überall ist ein ungeheures Geschnatter, und ich habe das Gefühl, die Leute haben nur auf diesen Moment in der Woche gewartet, um wieder mal Neuigkeiten austauschen zu können. Nach dem Motorengeheul der Landstraße ist mir jetzt dieses Gewusel zu viel. Schnell verlasse ich das Zentrum, gehe durch einige Gassen und komme erst am Ortsausgang in die Stille, die ich mir für eine Rast wünsche. Zehn Minuten lang genieße ich jetzt auf einer Bank im Schatten einer blühenden Kastanie diese Ruhe, mache die Augen zu, lausche den Vögeln und Insekten und esse erst danach mein Brot und meine Banane.

   Am frühen Nachmittag bin ich am Ostello Passo di Cisa, meiner Herberge, etwa drei Kilometer vor dem eigentlichen Pass. Ich bekomme ein Einzelzimmer im Dachgeschoss, sehr gut! Es ist zwar eiskalt, aber es gibt genug Decken. Ich teste sie eine Stunde aus und stelle fest, dass sie ausreichen. Anschließend teste ich den Kaffee im Barraum. Ich kann ihn auf deutsche Dimensionen ausbauen lassen und er schmeckt. Zufrieden setze ich mich mit ihm nach draußen in einen Liegestuhl und beobachte beim Schlürfen des heißen Kaffees die weiterhin vorbeirasenden Motorräder.

   “Sieh an, sieh an, wen haben wir denn da!?“ Roland! - Och nööö, nicht schon wieder...!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmeGtzYjA0UnVVbDA/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Kerstin und Hans-Jürgen (Montag, 02 Juni 2014 19:53)

    Hallo,
    da Du gestern vom Ostello della Cisa gebloggt hast, müsstest Du heute die Toskana erreicht haben und in Pontremoli bestimmt das Gelati probiert haben.
    Schön, dass die Furthen ausgetrocknet waren.
    Respekt, den Wheelie den steinigen Weg nach Terenzo und bis Cassio zu ziehen. Haben schon mit Rucksack und bei kühlerem Wetter gestöhnt.
    Wenn Du in Aulla startest, musst Du Dir die Strecke vorher genau ansehen, das ist fast nur Waldweg bergauf und steinig bergab, Ihr schafft das aber. Bitte genügend Wasser einpacken !!!
    Uns hat der Alltag wieder, schon nach ein paar Tagen sehnt man sich auf den Weg zurück, wären jetzt gern mit dabei.
    Deutsche Pilger sind manchmal komisch, meckern und tricksen. Vielleicht begegnen Dir auch noch andere Nationalitäten.
    Warten gespannt auf Deine nächsten Abenteuer.
    Liebe Grüße Kerstin und Hans-Jürgen

  • #2

    Der Kronprinz (Dienstag, 03 Juni 2014 17:54)

  • #3

    Die Pilgertochter (Sonntag, 15 Juni 2014 00:02)

    Ja, da hör ich nur Pilger aus Franken, Traumpfad München-Venedig, Belluno und mir schwant schon übles...


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