Manhattan, oder was???

Chianni - San Gimignano (15 km)

   Die Nacht wird wieder etwas mühsam. Im Bett neben mir liegt ein kerngesunder Italiener. Er schnarcht mit regelmäßigen Atemzügen und erzeugt damit Töne, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen. Die Schnarchfrequenz ändert sich auch nicht, wenn gelegentlich für Augenblicke die Tonbildung eingestellt wird. Mir fällt es schwer, dabei einzuschlafen, weil ich die Sekunden mitzähle, bis der nächste Laut erschallt. Angenehmer sind da die Schnarcher mit variationsreichen, überraschenden Tonfolgen, die zu neugierigem Hinhören ermuntern. Mich würde interessieren, zu welcher Schnarchspezies ich gehöre, denn ich weiß sehr wohl, dass auch mein Gaumensegel manchmal hart am Wind flattert.

   Bis jetzt habe ich nur deshalb noch nicht meine Ohrenstopfen aktiviert, weil ich den Mücken nicht die Chance bieten möchte, meinen Körper in eine Reliefkarte zu verwandeln. Das Fenster bleibt heute Nacht geöffnet, denn ich habe es satt, die ganze Nacht im eigenen Saft zu schmoren. Und darauf warten diese Biester ja nur! Um sich hinterhältig ins Zimmer zu schmuggeln und ihren Opfern das Blut abzusaugen! Ich will wenigstens kämpfen können, wild um mich schlagen, Trophäen an der weißen Wand sammeln. Wer behauptet, man solle sich nicht über Kleinigkeiten ärgern, hat noch nie eine Mücke in seinem kleinen Schlafzimmer gehabt.  Irgendwann muss ich mich entscheiden: Ohrenstopfen gegen den kerngesunden Italiener und damit die Chance zum Einschlafen, oder wahrscheinlicher Mückenbefall, weil ich die Biester nicht landen höre. Ich nehme die Ohrenstopfen.

   Als ich wach werde und mich aufrappel, schnarcht der Italiener noch immer seelig vor sich hin. Ich suche mich skeptisch ab und finde drei Einstiche. Das geht ja noch, dafür habe ich immerhin gut geschlafen. Aber trotz geöffnetem Fenster ist die Luft im Zimmer wie ein feuchter, lauwarmer Schwamm. Nach dem Zwieback-Frühstück mit heißem Kaffee (darauf will ich nun wirklich nicht verzichten, wenn es ihn schon gibt), dem Verpacken der Klamotten und dem Schuheanziehen läuft mir schon wieder der Schweiß an Stirn und Rücken runter. Eigentlich könnte ich jetzt duschen gehen.

   Doch als ich mich in aller Frühe wieder auf den Weg mache, ist es draußen besser auszuhalten als erwartet. Obwohl das Gewitter gestern Nachmittag vorbeigezogen ist, hat es irgendwo in der Nähe seine Wasserlasten abgeladen und sich bis hierher mit ein wenig Abkühlung ausgewirkt. Aber immer noch ist es reichlich schwül, als ich nach Gambassi Terme ansteige. Es ist mal wieder Samstag und die Menschen im Ort scheinen zu dieser frühen Stunde noch ihren verdienten Wochenendschlaf zu genießen. Erstes Sonnenlicht fällt in die kleinen Gassen, ein paar Katzen streifen umher, ein Bäcker öffnet gerade seinen Laden und ein alter Mann sitzt vor einer Bar, mit einem Zigarettenstummel im Mundwinkel, und wartet, dass geöffnet wird. Als er mich wahrnimmt, winkt er mir lächelnd zu und flüstert ein "Buon giorno!"

   Hinter Gambassi Terme, das weithin sichtbar oben auf einem Hügel liegt, geht es naturgemäß bergab. Wieder gehen meine Blicke über die Hügel der typischen Toskanalandschaft und das Gehen ist wiedermal purer Genuss: kein Lärm, keine Hektik, nur weiche Formen, einzelne Häuser, eine Zypressenreihe, ein endloser Himmel und die Sonne. Die Feuchtigkeit in der Luft zaubert noch ein zusätzlich stimmungsvolles Bild. Ganz weit entfernt liegt dichter Dunst in den Tälern und noch dahinter erheben sich blaugrau die Berge des südlichen Apennin.

   Mehr als gestern, wo hauptsächlich weite Getreidefelder auf den Hügeln das Bild bestimmten, rücken heute die Weinhänge und Olivenhaine in den Vordergrund. Immer wieder weisen Schilder am Wegesrand auf den Direktverkauf von Wein und Oliven hin. Große Güter liegen inmitten ihrer eigenen Hänge und Felder und laden zu "Spumanti" und "Chianti" ein. Auch seinen Urlaub könnte man auf diesen Gütern verbringen. Als "Agroturismo"-Betriebe bieten sie ebenfalls Zimmer an.

   Als die Sonne langsam aber sicher immer mehr an Kraft gewinnt, schieben sich gnädigerweise vereinzelt Wolken davor und verschaffen Linderung. Dass sich das aber hinter meinem Rücken zu einer Gewitterfront ausbaut, zunächst von mir unbemerkt, stelle ich erst fest, als es donnert. Gegen ein Gewitter mit ordentlich Regen und nachfolgender Abkühlung habe ich nichts einzuwenden, nur muss ich nicht gerade oben auf einem toskanischen Hügel stehen. Da kommt mir die kleine Wallfahrtskirche Santa Maria in Pancole mit ihrem Arkadenvorbau gerade recht, zumal sowieso Zeit für eine Rast ist. Ich setze mich also in aller Ruhe auf eine kleine Bank und warte auf Blitz, Donner und Regen.

   Blitz und Donner höre ich auch, aber der erhoffte Regen zieht wieder vorbei. Dafür ist es noch schwüler geworden und mit klebenden Textilien ziehe ich bald weiter. Ich schaue mich jetzt öfter mal um und bemerke in der Tat recht bald, dass eine zweite Gewitterfront folgt. Kein Mensch kann mir garantieren, dass auch sie an mir vorbeizieht und so beschleunige ich meine Schritte. Bald taucht vor mir die Silhouette von San Gimignano auf und wenn ich nicht darauf vorbereitet gewesen wäre, würde ich mir jetzt die Frage stellen, ob ich mich eventuell nach Manhattan verirrt habe.

   Wie Wolkenkratzer stechen hohe Türme in den Himmel und ihre Wirkung wird durch ihren Standort oben auf dem Stadthügel noch verstärkt. Der historische Stadtkern von San Gimignano ist seit dem Jahr 1990 Weltkulturerbe der UNESCO und wird oft tatsächlich als das "Manhattan des Mittelalters" bezeichnet. Von den ehemals sog. Geschlechtertürmen stehen heute noch 15. Ob sie früher zum Färben langer Stoffbahnen, als Zeichen von Wohlstand und Macht oder aus Platzmangel innerhalb der Stadtmauern so hoch errichtet wurden, weiß man heute nicht so genau. Originell und damit ein Touristenmagnet sind sie allemal.

   Am Stadtrand holt mich die Gewitterfront noch ein. Innerhalb kurzer Zeit blitzt und kracht es und die Schleusen öffnen sich. Ich zücke zwar meinen Schirm, als aber der Regen mit voller Wucht einsetzt, halte ich ihn mal bewusst neben mich und lasse mir das kühle Nass genussvoll über Kopf und Körper laufen. Nass bin ich vom Schwitzen sowieso, also was soll's?! Wie eine Massage bearbeiten die dicken Tropfen mein Gesicht und erfrischen mich. Herrlich! Allerdings ist jetzt auch alles andere an mir nass wie ein Schwamm und ich beeile mich, meine Unterkunft zu finden.

   Mit aufrichtigem, aber auch unnötigem Bedauern öffnet mir eine Nonne des benachbarten Monastero San Girolamo die Tür ihres Gästehauses und führt mich auf ein Pilgerzimmer. Drei Betten stehen dort, ob noch jemand kommt, weiß sie nicht, angemeldet hat sich außer mir niemand. Was mich begeistert: Ein großer Ventilator steht im Zimmer, die Nacht ist gerettet. Ich solle mich jetzt bitte erst ausruhen, meint die kleine Nonne fürsorgend, zur Besichtigung der Stadt bliebe dann immer noch genug Zeit. Außerdem sei im Moment das Wetter ja sowieso nicht so schön. Ich bin ganz ihrer Meinung. Duschen, Wäsche waschen, etwas essen, Matratze abhorchen, all das ist jetzt erstmal wichtiger.

   Am Nachmittag gehe ich dann nochmal los, bei wieder strahlendem Sonnenschein, hinein ins große Touristen-Getümmel. Es gibt wahrscheinlich keinen Toskanerurlauber, der nicht auch San Gimignano besucht und ich stelle bald fest, dass sich ein Besuch dieser Stadt wirklich lohnt, auch wenn die wie beim Schlussverkauf im Kaufhaus sich drängenden Besuchermassen den Genuss etwas schmälern. So treffe ich eben auf Heerscharen von modernen Nachfolgern der Pilger, die der Stadt im Mittelalter einen großen Aufschwung beschert haben. Nur diese - heute heißen sie Touristen - sind nicht mehr unterwegs auf der Suche zum Sündenerlass oder zu sich selbst, sondern auf der Jagd nach Schnappschüssen und Souvenirs. In den Läden der Straßen und Gassen können sie alles kaufen, was das Touristenherz begehrt: Kunst und Trödel, regionale Produkte und Kitsch.

   Mit ihnen allen zusammen lasse ich mich durch die Altstadt treiben und bin wirklich beeindruckt von so viel Mittelalter. Vor allem am Domplatz und an der großen Piazza della Cisterna könnte man sich noch mittendrin fühlen - wenn die Touristen nicht wären. Vor allem, weil auch hier, wie vorgestern in San Miniato Basso, gerade ein mittelalterliches Fest abgehalten wird. Mittelalterliche Kostüme überall, ein mittelalterlicher Markt, heute Abend ein Konzert auf dem Domplatz. Mal sehen, ob ich mich dazu heute Abend dann nochmal ins Getümmel stürze.

   Außerdem gibt es aber in San Gimignano einen weiteren, einen besonderen Höhepunkt: An der Piazza della Cisterna hat Danilo seine Gelateria, mehrfach mit seinen Kreationen ausgezeichnet als offizieller Eis-Weltmeister. Sowas gibt es wirklich! Ich werde mich mal erkundigen, ob ich nicht bei so einer Weltmeisterschaft als Geschmackstester und Punktrichter fungieren kann.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmNW1UVlVsSUFrakk/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Sebastian (Sonntag, 15 Juni 2014 14:56)

    Jaha, Geschmackstester bei einer Eisweltmeisterschaft, das würde dir schmecken...

  • #2

    Die Pilgertochter (Montag, 16 Juni 2014 21:04)

    Ja, und da hältst du uns vor, WELCHE Sorten du probiert hast?????????

  • #3

    Der Kronprinz (Mittwoch, 25 Juni 2014 09:26)

    Also ich kann noch bestätigen, dass zur sehr variantenreichen Sorte der Schnarcher gehörst.


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