Falsch ist manchmal richtig!

San Gimignano - Abbadia Isola (26 km)

   In San Gimignano war abends richtig was los. Fanfaren und Trommeln, Fahnenschwenker, Schwertkämpfer und Tanzgruppen ließen auf dem Platz vor dem Dom das Mittelalter nochmal im Ansatz lebendig werden. Dazu die beeindruckende Kulisse der alten Häuser und Geschlechtertürme, die Zuschauer auf der großen Domtreppe, die Akkustik auf diesem rundum von Häusern umgebenen Platz - das war schon gut, großes "Spectaculo". Als die Veranstaltung aber um 23.15 Uhr immer noch nicht beendet war, habe ich mich dann doch verdrückt und bin zur Herberge zurück.

   In den letzten Tagen brauche ich keinen Wecker mehr. Gegen 5.30 Uhr werde ich regelmäßig wach, stehe auf und eine Stunde später bin ich unterwegs. So auch heute. In der Nacht muss es noch einmal geregnet haben, die Straßen in San Gimignano sind nass. Eine Straßenkehrmaschine zieht auf dem Domplatz einsam ihre Runden, sonst ist um diese Zeit kein Mensch zu sehen. Doch! Fiorenzo sitzt vor einer Bar und frühstückt. Seit drei Tagen kennen wir uns, wegen ihm bin ich in San Miniato Basso aus der Herberge aus- und in das kleine Hotelzimmer eingezogen. Die Nacht hat er in der gleichen Herberge verbracht, aber nicht gefrühstückt. Dort gab es nur Nescafe zum Selbstanrühren und er geht nie ohne zwei Tassen Espresso auf die Strecke. Deswegen läuft er immer zuerst eine Bar an, um sich dieses "Doping" zu verpassen. Wir rufen uns ein "See you!" zu und ich gehe an ihm vorbei.

   Durch die Porta San Giovanni verlasse ich die Altstadt und lasse diesen besonderen Ort der Toskana auf einer kleinen Landstraße schnell hinter mir. Immer wieder schaue ich mich um und bewundere den Panoramablick auf die Silhouette von San Gimignano, die schon fast unwirklich wirkt.

   Die Wolkenbrüche von gestern Nachmittag und heute Nacht haben Spuren hinterlassen. Große Pfützen stehen auf der Straße, dichter Nebel liegt weit hinten in den Tälern und steigt nur allmählich hoch, das Gras auf den ersten Wiesenwegen ist pitschnass - und die Luft ist frisch. Wie herrlich! Endlich mal keine Schweißausbrüche nach 100 Metern, sondern angenehme Kühle auf der Haut. Aber auch die Nachteile machen sich bald bemerkbar: Pfade, auf denen der Boden in den letzten Tagen knochenhart und zum Teil aufgerissen war, sind jetzt schlammig oder glitschig. Das Vorankommen ist schwieriger. Furten, die normalerweise durch "meist ausgetrocknete Bachbetten" gehen, führen ordentlich Wasser, manche Trittsteine sind überspült. Ich brauche meine Zeit, um diese mittlerweile ungewohnten Hindernisse zu überwinden und bin nicht ganz so schnell unterwegs wie üblich.

   Fiorenzo hat jedenfalls Zeit genug, um zu mir aufzuschließen. Wir kommen nett ins Gespräch und gehen eine Weile zusammen. Nette Gespräche bergen aber auch eine große Gefahr: Man konzentriert sich nicht beständig auf den Weg bzw. auf die Markierungen und läuft falsch. Falschlaufen bedeutet meist einen Umweg, Fiorenzo und ich machen es anders, wir laufen eine Abkürzung. Offensichtlich verpassen wir den Punkt, wo eine Alternativroute, die nicht in meinem Wanderführer vermerkt ist, abzweigt. Wir folgen also dieser Alternativroute und in der nächsten Stunde erkennen weder Fiorenzo noch ich weder auf unseren Karten noch in unseren Wanderführern irgendetwas wieder. Aber da sind doch die Markierungen...!!! Doch irgendwann sind auch die verschwunden. Wat nu?  Jetzt macht sich bezahlt, dass ich mir in Lucca eine Wanderkarte gekauft habe, und nach längerem Studium und Nachvollziehen der letzten Kilometer glaube ich zu wissen, wo wir sind. Und das sieht eigentlich gar nicht schlecht aus. Wenn wir von nun an für etwa vier Kilometer eine Landstraße nehmen, laufen wir nicht in einem großen Bogen, sondern direkt auf unser Tagesziel Abbadia Isola zu und stoßen kurz davor sogar wieder auf den richtigen Weg.

   Für Fiorenzo birgt diese Alternative sogar noch einen weiteren Vorteil: Im Gegensatz zur Hauptstrecke kommen wir hier durch einen größeren Ort und damit an einer Bar vorbei. Während ich weitergehe, bleibt er zwecks Nahrungsaufnahme zurück. Das angenehme Wanderwetter lässt mich ohne Pause auskommen. Der Himmel ist seit Wochen mal wieder den ganzen Tag lang bedeckt und ein leichter Wind geht. Mich trägt es förmlich nach Abbadia Isola.

   Dann kommt ein Dämpfer. Als ich nach 25 km um 12.30 Uhr vor der Tür der Herberge stehe, muss ich auf einem kleinen Schild lesen, dass die Herberge erst um 14.30 Uhr öffnet. Das ist jetzt weniger schön. Ich hatte mich schon etwas auf die Dusche und die anschließende intensive Relaxphase, sprich: ein Nickerchen, gefreut und jetzt muss ich zwei Stunden warten. Glücklicherweise gibt es auf der anderen Straßenseite eine Bar und ich kann dort die Wartezeit absitzen. Ich lasse mir vom Wirt ein großes Panino mit Schinken zubereiten und bestelle gleich zwei "Kaffee" und eine kleine Kanne heißes Wasser dazu. Auf diese Art und Weise komme ich dann ungefähr auf das Maß eines deutschen Pots Kaffee, den ich brauche, um das trockene Panino runterzuspülen.

   Gaaanz langsam vergeht die Zeit und als endlich die Tür der Herberge aufgeht, kommt auch Fiorenzo anmarschiert. Er hatte also das bessere Timing. Wenige Minuten später sind auch die Pilger aus San Miniato Basso da und ruckzuck ist ein Pilgerzimmer voll. Wir alle können uns freuen: Heute Abend wird für uns alle gekocht.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmNGNycTIwYkNCOGs/

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Die Pilgertochter (Montag, 16 Juni 2014 21:15)

    Ich bin begeistert! Hab es doch noch geschafft, zu dir und deinen aktuellen Berichten aufzuschließen und es ist schon Wahnsinn: Du bist SO WEIT weg! Und das GANZ ZU FUß!!! Glückwunsch!


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