Ritus: Fußwaschung

Abbadia Isola - Siena (20 km)

   Gestern war wieder so ein Tag, an dem es Wichtigeres gibt als Blogschreiben. Aktuelle Ereignisse, schöne Städte oder einfach nur das harmonische Zusammensein mit anderen Pilgern müssen dann den Vorrang haben. Aber mal wieder der Reihe nach...

   Der Abend in der Herberge von Abbadia Isola hält für uns ein besonderes Erlebnis bereit. Der ehemaligen Klosteranlage Abbazia dei Santi Salvatore e Cirino, zu der unsere recht neu eingerichtete Herberge gehört, sieht man ihre einstige Bedeutung nicht mehr an. Der Name "Abtei Insel" ist wohl auch etwas verwunderlich, denn die Anlage steht schließlich in einer Landschaft, die recht trocken wirkt. Doch als das Kloster mit angrenzendem Hospital im Jahr 1001 an der Via Francigena gegründet und wenig später erweitert wurde, lag es in einem Sumpf, so dass man sich hier wirklich wie auf einer Insel fühlte. Bis ins 15. Jahrhundert lebten hier Benediktiner. Noch bevor es das Kloster gab, konnten in dem alten Ort Badia a Isola Pilger viele Jahrhunderte lang Unterkunft finden. Mein Pilgervorfahr Sigeric vermerkt den Ort zum Beispiel als Station XVI. Die Lage an der Grenze zwischen Siena und Florenz und an der Via Francigena gab dem Kloster einige Bedeutung. Erst als auf der anderen Seite des Sumpfes die Burg Monteriggione erbaut wurde, schwand sein Einfluss, und als die Mönche 1445 das Kloster verließen, wurde es ganz bedeutungslos.

   Wie in vielen Klöstern der damaligen Zeit werden die Mönche der Abbadia Isola einem Ritus gefolgt sein, der im Mittelalter weit verbreitet war: der Fußwaschung der Pilger nach ihrer Ankunft. Vor dem gemeinsamen Abendessen (und nachdem wir alle bereits unter der Dusche waren!!) laden uns die beiden Hospitaleros zu dieser Zeremonie ein. Damit unsere kleine internationale Gemeinschaft weiß, was sie erwartet, bitten sie uns, in einem Stuhlkreis Platz zu nehmen und verteilen zunächst Karten, auf denen in den jeweiligen Sprachen beschrieben wird, was, wie und warum sie diese Fußwaschung tun möchten. "Den Geist des Dienstes, mit welchem wir die Pilger begrüßen, wollen wir mit dem alten Ritus der Fußwaschung zum Ausdruck bringen. In jedem Pilger heißen wir Jesus Christus selbst willkommen. Nachdem wir die Füße gewaschen haben, beugen wir uns hinunter und küssen zum Zeichen der Verehrung die Füße". So passiert es dann. Beide Hospitaleros knien nacheinander mit einer Wasserschüssel und einem Handtuch nieder, benetzen mit dem lauwarmen Wasser unsere Füße und sprechen bei jedem die beiden Sätze: "Im Namen von Jesus Christus heißen wir dich im Hospital von Sankt Cirino und Jakob willkommen. Es möge dir das Ausruhen wohltun und dir Kräfte wiedergeben, um deinen Weg nach Rom fortzusetzen". Mich berührt das sehr und ich merke, dass es den anderen auch so geht. Es sind diese Gesten der Gastfreundschaft, die den Weg so besonders machen.

   Beim Abendessen geben uns die beiden fürsorglichen Hospitaleros noch einen wichtigen Tipp für den nächsten Tag mit auf den Weg. Ab einem bestimmten Punkt auf der Strecke sollen wir von dem markierten Weg auf die Straße abweichen, da wir sonst unnötigerweise im großen Bogen auf Siena zugeführt werden. Die Straßenvariante nach halbem Weg verkürze die Strecke immerhin um fast fünf Kilometer. Das entspricht natürlich zum einen vollkommen meinem Pilgerverständnis und zum anderen erhöht es unsere Chancen, bei früher Ankunft in Siena dort in der doch relativ kleinen Unterkunft einen Platz für die Nacht zu bekommen.

   Als wir am folgenden Morgen einer nach dem anderen aus dem Haus gehen, kommt der nächste besondere Moment. Jeder einzelne wird nach draußen begleitet und erhält von einem Hospitalero den Segen zur Fortsetzung seines Weges. Auch dies ein Ritus, der im Mittelalter üblich war, für uns alle aber neu ist. Anders als sonst, ergriffen und nachdenklich, mache ich mich auf den Weg.

   Vor mir sind schon Sabrina, die beiden Französinnen und Giovanni auf dem Weg, Fiorenzo wird noch folgen. Von Weitem sehe ich Monteriggione auf dem Monte Ala liegen. Wie eine Krone liegt die 570 m lange und mit noch 11 von ursprünglich 14 Wehrtürmen geschmückte Stadtmauer auf einem Weinberg. Ich durchquere auf trockenen Feld- und Waldwegen das ehemalige Sumpfgebiet und mag mir dabei gar nicht vorstellen, was damals die Pilger zu Mückenzeiten hier durchmachen mussten. Ein knackiger, aber nicht langer Aufstieg bringt mich dann hoch zum Tor in der Stadtmauer und weiter auf die Piazza Roma mit ihrer Kirche Santa Maria Assunta. Aus der Ferne betrachtet erscheint die Größe dieses im 13. Jahrhundert zur Verteidigung Sienas gebauten Kastells imposanter als in der Realität. Innerhalb der Mauern finden nur ein paar Gebäude Platz. Obwohl die mittelalterliche Architektur noch fast unverändert erhalten geblieben sein soll, wirkt der Ort auf mich durch die Sonnenschirme vor den Cafés und Bars und mit den Souvenirläden eher wie eine Attrappe aus einem Freizeitpark. Die Parkplätze auf der anderen Seite der Mauerumwehrung sind vermutlich größer als der Ort selbst.

   Inzwischen habe ich meine "Vorläufer" überholt und strebe nun auf Siena zu. Bereits gestern hatte ich es festgestellt: Die Landschaft zwischen San Gimignano und Siena entspricht nur noch teilweise den gängigen Vorstellungen von der Toskana. Immer wieder komme ich auch heute durch größere Feld- und Waldabschnitte, die genauso gut mitten in Deutschland liegen könnten. Nur der Baustil der Villen und Landhäuser, einige Zypressenreihen und kleine Burgen und Türme sind ein deutliches Zeichen dafür, dass ich in Italien bin. Vorbei an Pferdehöfen und verlassenen Gehöften nähere ich mich dem mit seinen beiden Schlosstürmen schon von weitem sichtbaren Castello Chiocciola. Hier muss ich, so die Empfehlung der Hospitaleros von gestern Abend, nach links auf die Straße abzweigen.

   Ab jetzt tausche ich mal wieder die Ruhe einer Pilgerschaft für eine Weile gegen das Gedränge einer Stadt. Auf der Straße hält sich zwar der Verkehr an diesem späten Morgen noch in Grenzen, aber mit jedem Kilometer, dem ich mich mit schnellen Schritten Siena nähere, wird es lauter und enger. Nachdem ich endlich die Altstadt durch die Porta Camollia betrete, entwickelt sich dieses große Touristenzentrum in der Toskana zu einem Ameisenhaufen. Durch das historische Zentrum wälzen sich Touristenströme.

   Da die Stadt (zu Recht, wie ich bald feststellen werde) als eine der schönsten der Toskana gilt, steht sie natürlich auf dem Pflichtprogramm vieler Touristen. Siena war einer der wichtigsten Pilgerstützpunkte an der gesamten Via Francigena, bot in zahlreichen Herbergen Unterkunft und versorgte die Kranken in bedeutenden Hospitälern. Ihre Blütezeit erlebte die Stadt vor allem zwischen 1287 und 1355, als nicht der Adel, sondern ein Bündnis reicher Kaufleute die Stadt regierte. Doch alle Erfolge in Handel und Krieg, aller Wohlstand und kulturelle Errungenschaften wurden von einem unbesiegbaren Gegner zum Erliegen gebracht: der Pest. 1348 starben zwei Drittel der Stadtbevölkerung, so dass sie in den folgenden 200 Jahren immer wieder zum Schauplatz schwerer Kämpfe wurde und Florenz schließlich die Eroberung gelang. Der kulturelle Stillstand nach der Pestkatastrophe ist aus heutiger Sicht ein Glücksfall, denn der mittelalterliche Baustil, der die heutigen Touristen so fasziniert und der Stadt dadurch große Einnahmen bringt, wurde kaum durch spätere Einflüsse verdrängt. Zu Recht zählt Siena deswegen zum Unesco-Weltkulturerbe.

   Die Sehenswurdigkeiten Sienas lasse ich erstmal unberücksichtigt und folge direkt der Beschreibung meines Wanderführers zu meiner Herberge am Rand der Altstadt. Erst muss mein Bett für die nächsten beiden Nächte gesichert sein, bevor ich mich der Stadtkultur widme. Eine Nonne der Accoglienza Santa Louisa nimmt mich an der Haustür freundlich in Empfang, wundert sich nur, dass ich schon so früh auf der Bildfläche erscheine. Andere Pilger kommen wohl, je nach Startzeit, Tempo und Wegstrecke, um einiges später an. Sie trägt mich auch für eine zweite Übernachtung ein, geht mit mir hoch zum Mehrbettzimmer, bezieht noch eben schnell mein Bett und wünscht mir eine schöne Zeit in ihrem Haus.

   Diese schöne Zeit beginne ich mit einer Duschorgie in einer viel zu kleinen Badewanne ohne Duschabtrennung und setze sie mit einer Hechtrolle auf die Liege mit anschließendem kurzem Pilgerkoma fort.

   Kaum habe ich die Augen nach einer Stunde wieder offen, klopft es an der Tür. Eine Nonne fragt mich, ob ich essen möchte. Da das sowieso als nächstes auf meinem Programm steht, antworte ich mal mit "Ja". Dann "Subito! Subito!" ruft sie und unterstützt dies mit kreisenden Armbewegungen. Ich eile hinunter in eine Art Speiseraum, die Nonne zeigt in Richtung der Küche. "Self service!" Was dann folgt ist das wiederholte Aufladen der köstlichsten Speisen auf meinen Plastikteller incl. Obst als Nachtisch und Kaffee zum Schluss. Ich bin baff! Damit habe ich nun nicht gerechnet. Und dass es dann auch noch um 20 Uhr Abendessen und ab 7 Uhr Frühstück gibt, erst recht nicht. Auch wenn ich natürlich spenden werde, habe ich damit bei meinem zweitägigen Aufenthalt in Siena viel Geld gespart.

   Zwei Tage wollte ich mir für Siena von vornherein gönnen. Satt und in aller Ruhe gehe ich am Nachmittag los auf Sightseeing-Tour. Eigentlich ist es nur ein Bummeln durch die Altstadt, vorbei an der Piazza del Campo, dem Pazzo Pubblico mit dem 88 m hohen Turm Torre del Mangia und der prunkvollen Kathedrale, mal in diese Gasse, mal in jenen Hinterhof, Blicke in Souvenirläden und Spezialitätengeschäfte - ein erster Überblick sozusagen. Das Wetter dafür ist eigentlich nur suboptimal. Schwere, dunkle Wolken bedecken den Himmel und ich sehe einigen Leuten deutlich an, dass sie mit ihrer Kleiderwahl (T-Shirt, Röckchen u. ä.) selbst nicht ganz so einverstanden sind. Da lobe ich mir doch meine Fleecejacke. Ohne Hast und Frösteln lege ich mir unterwegs zurecht, was ich mir morgen alles genauer ansehen möchte und gehe dann wieder zurück zu den Nonnen.

   In einem ihrer Räume steht sogar ein moderner Fernseher mit Flachbildschirm. Schon zu Hause hatte ich mir für dieses Datum vorgemerkt: " Fußball-WM: Deutschland - Portugal". Und so geschieht es denn, dass ich mir das erste Spiel "unserer Jungs" bei dieser WM in einem kleinen Zimmer eines Nonnenklosters in Siena ansehe. Mir fällt es echt schwer, bei der Spielweise und erst recht bei den Torerfolgen von Jogi Loews Truppe nicht öfter mal loszubrüllen, aber ich glaube, selbst dafür hätten die netten Nonnen noch ein Lächeln übrig gehabt.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmZ3VKVGFZMGVFekk/

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Lore (Dienstag, 17 Juni 2014 16:55)

    Ei, Reinhard, super liest sich das. Da kann ich nicht anders, da freu ich mich mit Dir über diesen besonders schönen Tag!
    LG
    Lore


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