Mittelalterliches Kunstwerk: Siena

Ruhetag

   Heute ist für mich Ausschlafen angesagt. Als ich um 7.30 Uhr aufstehe, sind Sabrina, Giovanni und Fiorenzo schon weg. Sie wollen "irgendwann" nochmal wiederkommen und sich Siena genauer ansehen. Das habe ich in der Vergangenheit auch schon öfter mal gesagt, aber es dann doch meistens nicht getan. Also tue ich es lieber jetzt, wo ich hier bin.

   Um 10 Uhr bin ich am Palazzo Pubblico, dem gotischen Rathaus. Bereits 1348 wurde hier am tiefsten Platz der Stadt, der Piazza del Campo, der schlanke, 102 m hohe Torre del Mangia erbaut. Da will ich hoch! Wo sich bald lange Warteschlangen an der Kasse und dann nochmal vor der Turmtreppe bilden, ist es um diese Zeit noch leer. Ohne die geringste Wartezeit bezahle ich dafür, dass ich gleich ordentlich außer Atem komme und beginne dann bedächtig meinen Treppenaufstieg. Erst sind es im unteren Bereich Steinstufen mit angenehmer Steighöhe, dann wird es weiter oben immer enger. Eine überdurchschnittlich gewichtige Person hätte hier außer mit den zahlreichen Stufen auch ein Problem damit, sich überhaupt hindurchzuzwängen. Zum Schluss werden aus den Steinstufen immer schmalere Holzstufen, kleine Fenster in der Turmmauer lassen mich ahnen, wie hoch ich schon bin und dass es nicht mehr lange bis oben dauern kann. Bei Stufe 388 (ich habe natürlich wieder gezählt) habe ich es geschafft und stehe auf dem höchsten Punkt von Siena. Die Aussicht ist atemberaubend - wenn das nicht schon die Stufen besorgt hätten. Weit geht der Blick über die Stadt und in die ganze Toskana, prägnant liegt der riesige Dom mit seinem Glockenturm vor und die muschelförmig angelegte und von mehrgeschossigen altehrwürdigen Palazzos umgebene Piazza del Campo unter mir. Bald werden sich dort, auf dem berühmtesten mittelalterlichen Platz Italiens, die Menschen drängen. Hier trifft man sich, hier sitzt man (entweder unter den Sonnenschirmen der Straßengastronomien oder direkt auf dem rötlichen Pflaster), hier schaut und genießt man. Seit dem Mittelalter wird hier auch das Pferderennen Palio di Siena ausgetragen. Dabei treten zweimal jährlich (2. Juli und 16. August) nach genau definierten Regeln die Contraden (Stadtteile) gegeneinander an. In der Platzmitte stehen dann Tausende von Zuschauern, während die Pferde auf dem mit Sand ausgelegten Pflaster um sie herumjagen. Nicht immer geht das unfallfrei zu und schon so manches Pferd ist dabei zu Schaden gekommen. Ein historisches und nach wie vor spektakuläres Vergnügen, aber auch ein zweifelhaftes.

   Nach einer Viertelstunde Genuss mache ich mich wieder an den Abstieg - ohne "Gegenverkehr". Das ist mittlerweile durch eine Art Ampelregelung sichergestellt. Von der Piazza di Campo gehe ich den kurzen Weg zur Kathedrale. Aus den zunächst wenigen Touristen sind inzwischen deutlich mehr geworden und vor dem Eingang des Ticket-Verkaufs und der Kathedrale selbst haben sich schon kleine Schlangen gebildet. Wie gut, dass ich mir meine Eintrittskarte schon gestern besorgt habe. Dabei macht es sich mal wieder bezahlt, dass ich Pilger (mit Pilgerausweis) bin. Für die ist der Eintritt nämlich hier umsonst.

   Die meisten Gebäude in der Altstadt Sienas wurden aus Backstein gebaut. In dieser Umgebung fällt der prunkvolle, mit viel Marmor verkleidete Dom besonders auf. Der riesige, weiß und schwarzgrün gestreifte Bau ist einer der beeindruckendsten Sakralbauten Italiens - ein Wunderwerk italienischer Gotik. Die prächtige Fassade begeistert alle Besucher. Hunderte sitzen oder stehen lange Zeit mit großen Augen davor und studieren die unglaublich vielen kleinen Details, die die strahlend helle Fassade verzieren. Im unteren Bereich dominieren die auch im Glockenturm vorherrschenden schwarzweißen Streifen, oben drängen sich herrliche Mosaike, Ornamente und Skulpturen zu einer sakralen Märchenwelt. Das klingt jetzt zwar fast etwas theatralisch, aber so habe ich es bei diesem Anblick einfach empfunden.

   Auch innen wirkt der Dom auf mich wie ein Stein gewordener Traum. Die gestreiften Säulen aus weißem Marmor und einem dunkelgrünen anderen Gestein, der einzigartige Fußboden mit seinen Einlegearbeiten - die 52 Bilder entstanden zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert - , die gewaltige, 1268 errichtete Marmorkanzel..., ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auch die vielen anderen Besucher scheinen beeindruckt und berührt zu sein. Langsam gehen sie staunend, schweigsam oder nur leise flüsternd durch dieses erhabene Bauwerk.

   Den Mächtigen in Siena reichte Anfang des 14. Jahrhunderts der Prunk ihres Meisterwerkes nicht aus. Sie planten einen gigantischen Erweiterungsbau, der nach seiner Vollendung das bisherige Hauptschiff zu einem Querschiff degradieren sollte. 1339 begannen die Bauarbeiten, doch nachdem bereits die Außenwände errichtet waren, sorgten zuerst der Nachweis statischer Mängel und später die Pest für die Einstellung der Bauarbeiten. Noch heute kann man Teile davon neben dem Dom sehen und eine Wand sogar als weiteren herrlichen Aussichtspunkt besteigen. Fasziniert stehe ich auch vor diesem Zeugnis fast schon größenwahnsinniger Selbstüberschätzung. Doch andererseits stellt sich mir die Frage, was ich heute bestaunen könnte, wären die Bauarbeiten vollendet worden. Vielleicht hätte Siena dann eine Kirche, die nur noch vom Petersdom in Rom übertroffen worden wäre.

   Nach vier Stunden wunderbarer Eindrücke gehe ich langsam zu meiner Unterkunft zurück. Mehr kann ich heute nicht aufnehmen. Außerdem gibt es gleich bei den Nonnen Mittagessen. Vielleicht gehe ich am späten Abend nochmal ins Zentrum der Altstadt zurück, wenn die vielen Lampen die Gassen, Plätze und Bauten Sienas beleuchten.

 

 

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