Nonne im Fußballfieber

Siena - Ponte d'Arbia (25 km)

   Gestern wurde es dann doch kein langer Abendgang zu den Lichtern von Siena. Um 21.30 Uhr war Zapfenstreich. Schlüssel werden bei den Nonnen grundsätzlich nicht ausgegeben und Pilger sollen ausreichend schlafen, damit sie gestärkt am nächsten Morgen wieder auf die Strecke gehen können. Da hat das "Nachtleben" keinen Platz. Recht hat sie ja, die Nonne! Ich gehe nur noch einmal durch die Gassen, an der Piazza de Campo vorbei, zur Kathedrale, drehe dort um, nehme den gleichen Weg zurück, aber nicht ohne unterwegs noch an einer Gelateria einen Boxenstopp einzulegen. Noch keine Lampe ist irgendwo an, höchstens die Scheinwerfer der Autos, die ab und zu durch die Altstadtgassen fahren. Kein Wunder, wir stehen ja auch kurz vor Mittsommer. Um 21 Uhr bin ich schon wieder "zu Hause", genau richtig zum Anstoß des WM-Spiels Brasilien : Mexiko.

   Während die anderen Pilger sich schon auf ihren Nachtschlaf vorbereiten, ziehe ich mich in das Zimmer mit dem Fernseher zurück und schalte RAI 1 ein. In den folgenden 94 Minuten des Spiels erlebe ich dann wieder mal, wie viel entspannter deutsche Fußballreporter für ihre Fernsehzuschauer ein Spiel kommentieren und wie schnell man andererseits Italienisch sprechen kann. Mindestens 90 von den 94 Minuten sind das reinste Trommelfeuer. Da wird ins Mikro geschrien, bei einem rollenden Angriff immer lauter werdend, ein abgehacktes Stakkato bei kurzen Ballstaffetten, ein Aufschrei beim Torschuss und Stöhnen beim fehlgeschlagenen Abschluss. Man möchte dem Kommentator zurufen: "Mensch Junge, hol mal Luft!", aber er würde es ja nicht hören.

   Zu Beginn der zweiten Halbzeit geht die Zimmertür auf und Nonne Ginienza kommt herein. Mist, denke ich, jetzt dreht sie dir den Fernseher auch noch ab! Schließlich ist mittlerweile hohe Schlafenszeit für Pilger. Doch weitgefehlt! Sie holt sich einen Stuhl heran und schaut sich mit mir das Spiel an. Ich gucke wohl etwas dümmlich, aber sie macht mir mit einer Mischung aus Italienisch und Bruchstücken von Englisch klar, dass sie ein Fußballfan ist und dass ihre Favoriten (natürlich) Italien, aber auch Brasilien sind. Außerdem scheint es ihr der brasilianische Torwart Caesar besonders angetan zu haben. Bei seinen Torabstößen schnellt ihr rechter Fuß nach vorne, bei gefährlichen Torschüssen springt sie auf, greift sich oft vor Entsetzen an den Kopf oder hält sich die Augen zu, schimpft bei einem Foul wie ein Rohrspatz, feuert ihre Brasilianer an und ist bei Spielschluss sichtlich enttäuscht über das torlose Remis. Wenn mir das vor einigen Wochen jemand gesagt hätte, dass ich mir mit einer Nonne in einer Klosterherberge mal ein Fußball-WM-Spiel ansehe...

   Der Abschied von Schwester Ginienza fällt heute Morgen herzlich aus: angedeutetes Küsschen links, Küsschen rechts, wie eben bei Italienern so üblich. Ich sage ihr, dass sie nicht traurig sein soll, wenn Italien im Endspiel gegen Deutschland verliert und werde von ihr daraufhin heftigst in den Oberarm gekniffen. Aber sie lacht, bringt mich noch auf die Straße und winkt mir hinterher.

   Die beiden Französinnen Melanie und Martine sind schon wieder seit einer halben Stunde weg. Martine, die so alt ist wie ich, hat Fußgelenkprobleme und Angst, ihr großes Ziel Jerusalem (!) nicht zu erreichen. Vor drei Monaten ist sie zu Hause in St. Etienne im französischen Zentralmassiv gestartet und möchte Heiligabend in Bethlehem feiern. Ihre fröhlichen Augen funkeln immer, wenn sie davon erzählt. Von Rom aus geht sie weiter nach Brindisi in Süditalien, lässt sich von dort mit der Fähre nach Albanien übersetzen, dann weiter durch Anatolien bis zur türkischen Südküste und von dort mit dem Schiff bis nach Haifa. In Israel nimmt sie ihren Weg über Nazareth, Jerusalem und Bethlehem. Ich wünsche es dieser lieben Frau von Herzen, dass sie ihr großes Ziel erreicht. Ich wünsche ihr aber auch nach Rom eine solch nette Unterstützung wie in den letzten Wochen durch ihre junge Landsmännin Melanie, die immer ein wenig auf sie achtet.

   Der heutige Tag wird einfach wieder ein Wandertraum. Nach den letzten beiden etwas wolkenreichen Tagen, scheint heute wieder die Sonne von einem klargewaschenen Himmel, ein leichter Wind geht, die Werte auf dem Thermometer liegen zumindest am Morgen knapp unter 20ºC und die toskanische Landschaft könnte wieder kein Künstler schöner malen. Der Rückblick zeigt noch stundenlang Siena von der Schokoladenseite und nach vorne und zu den Seiten sehe ich nur gelbe und grüne Hügel, Gehöfte und Landhäuser, Pinien und Zypressen.

   Nur für eine Stunde wird der vollkommene Genuss mal unterbrochen. Bei der Großbaustelle einer neuen Straße ist die Wegmarkierung nicht eindeutig, mein Wanderführer hilft mir auch nicht so recht weiter und prompt finde ich mich eine Zeit lang auf der vielbefahrenen S2 wieder, der berühmten "Cassia". Ihr werde ich ab jetzt zwar des Öfteren begegnen und auf ihr ein Weilchen entlangziehen müssen, aber für heute war das in diesem Umfang nicht geplant. Die Trassenführung dieser alten Handelsstraße, die noch aus der Zeit der Römer - und wahrscheinlich schon der Etrusker - stammt, hat sich über die Jahrhunderte erhalten. Sie wurde von Rom aus in Richtung Toskana angelegt, in neuerer Zeit natürlich für den modernen Verkehr ausgebaut und auch abschnittsweise mal etwas anders geführt. Die Via Francigena legt immer mal wieder einen Teil auf dieser ehemaligen Route zurück.

   In dem Abschnitt zwischen Siena und Monteroni d'Arbia ist die Cassia nicht sonderlich breit ausgebaut, dafür rauscht der Verkehr aber recht ordentlich. Einen Fußgängerstreifen oder gar einen begleitenden Radweg gibt es nicht und ich muss mich ganz schön an den Fahrbahnrand quetschen. Trotzdem finden sich immer wieder PKW- und LKW-Fahrer, die freundlich grüßen und damit meinen Stresspegel niedrig halten. Hinter Ponte a Tressa ist auch dieser ungewollte Ausflug auf die Schnellstraße vorbei, ich finde die Via Francigena wieder und der Traum Toskana geht weiter.

   Es wird so einsam, so weit, dass ich mir irgendwann so winzig vorkomme wie eine Ameise. Die goldgelben Kornfelder finden zeitweise nur am Horizont ihre Grenzen und der blaue Himmel, von weißen Schäfchenwolken durchzogen, ist im wahrsten Sinne des Wortes die Krönung. Wenn ich ab und zu stehenbleibe, um dies alles konzentriert in mich aufzusaugen, schnürt es mir manchmal die Kehle zu. Ist dies jetzt schon so eine Art großes Finale? Was soll jetzt noch Schöneres kommen? In zwei Wochen bin ich in Rom!

   Als ich den Ortsanfang von Ponte d'Arbia erreiche, höre ich die Glocken. Das wäre jetzt nicht nötig gewesen. Aber ich glaube, sie läuten, weil es 12 Uhr ist. Zehn Minuten später bin ich an der Herberge. Nach meinem Klingeln öffnet mir ein Mann, von dem ich annehme, dass er der Hospitalero ist. Bald stellt sich heraus, dass er ein Engländer aus Newcastle ist und sich auf dem Weg von Rom nach Canterbury befindet. Von der wahren Hospitalera hat er den Auftrag bekommen, nachfolgenden Pilgern die Tür zu öffnen und ihnen nahezulegen, sich ein Zimmer und ein Bett auszusuchen. So kann man seinen (freiwilligen?) Dienst natürlich auch versehen. Ich suche mir ein Bett in einem Doppelzimmer aus und lebe den Rest des Tages hervorragend darin. Mit John, dem Engländer, unterhalte ich mich lange. Wir nutzen die Vorteile, wenn zwei Pilger der Via Francigena, die in unterschiedlicher Richtung unterwegs sind, sich begegnen. Jeder gibt dem anderen Tipps, macht auf schwierige Streckenabschnitte aufmerksam, empfiehlt Unterkünfte oder eben nicht. So vergeht die Zeit.

   Um das Abendprogramm brauche ich mir keine Gedanken zu machen: in die Pizzeria gegenüber zum Essen, anschließend 100 m weiter in die Bar zum Fußball Spanien : Chile. Passt!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmTlF3WkFac210NWs/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Donnerstag, 26 Juni 2014 10:01)

    Mann das hört sich ja toll an. Da wäre ich echt gerne ein paar Tage dabei...


Translation: