Heiße Quellen

San Quirico d'Orcia - Radicofani (31 km)

    Der Besuch der Bar, um mir dort das WM-Spiel Italien : Costa Rica anzusehen, hat sich auf jeden Fall gelohnt. Ich habe mich köstlich amüsiert. Nicht etwa darüber, dass Italien verloren hat, neiiiiin! Die Menschen beim Mitfiebern und letztendlich beim Leiden über die Niederlage beobachten zu können, war ganz großes Kino.

   Als ich etwa eine Viertelstunde vor Spielbeginn in die Bar kam, war kein Mensch drin. Zehn Minuten später war sie voll. Jung und Alt saßen dicht gedrängt, übten Schlachtgesänge ein und schwenkten große und kleine Fahnen in den Nationalfarben Grün-Weiß-Rot. Alles wirkte sehr harmlos und sympathisch. Nur eine kleine Gruppe von vier hirnlos rumgrölenden Jugendlichen senkte durch pure Anwesenheit den Durchschnitts-IQ in der Bar um geschätzte zwanzig Punkte. War die Laune aller Zuschauer während der ersten Halbzeit noch recht positiv, so wich die anfängliche Begeisterung immer mehr einer fast verblüfften Ernüchterung über die unerwartete Hilflosigkeit der Squadra Azzuri dem Gegner gegenüber, und es wurde leiser in der Bar. Nur die grenzwertige Boygroup grölte in einem fort und tanzte dabei immer wieder vor dem großen Fernseher herum. Der Wirt rief den Störern des öfteren einiges zu, was ich natürlich nicht verstand, aber sie reagierten nicht im geringsten. Ich hätte das an deren Stelle getan, denn der Wirt war ein breitschultriger Einsneunzig-Mann mit einem Gesichtsausdruck, gegen den man am liebsten einfach so fünf Jahre Haft ohne Bewährung verhängen würde. Aber sie ignorierten dies völlig. Auch bei mir kam so langsam der Moment, der mir klarmachte, dass ich kein konsequenter Pazifist bin, denn sekundenlang wiegte ich in Gedanken ein großes, scharfes Fleischermesser in meiner Hand.

   Als während der zweiten Halbzeit der Frust der Zuschauer immer mehr anstieg, ließ auch merklich ihre Geduld mit den Jungs nach. Bei einem wiederholten Fehlschuss kam es dann zum optischen Höhepunkt: Ein Jugendlicher sprang dem anderen auf den Rücken, beide zusammen fielen nach hinten und landeten genau auf ihrem Tisch, auf dem mehrere halb geleerte Gläser Bier standen. Diese flogen nun im hohen Bogen in Richtung der anderen Fußballfans, ergossen ihre Inhalte auf mehrere Hosen, bevor sie zersplitternd auf dem Boden landeten. Das war der Moment, in dem es den Wirt und drei andere Männer nicht mehr auf ihren Stühlen hielt. Mit einer bewundernswerten Schnelligkeit packte sich jeder einen am Kragen und warf ihn achtkantig zur Tür hinaus. Die Kommentare, die dabei fielen, waren wohl eindeutig, denn die vier Jungs unternahmen keinen Versuch, wieder hineinzukommen. Sie standen nur draußen vor dem großen Fenster und sahen den Wirt mit so traurigen und gleichzeitig vorwurfsvollen Augen an wie ein Rudel von Spaniel, dessen Herrchen keine Hundeschokolade mitgebracht hat. Nach dem Abpfiff des Spiels hatten die "des Feldes Verwiesenen" dann wieder etwas mit allen anderen gemeinsam: Sie schlichen bedröppelt nach Hause.

   Morgens an der Bar treffe ich zum Frühstück Landsmann Bert, der auch mit in der Herberge übernachtet hat. Sein Frühstück besteht aus einem Glas Bier und einer Zigarette - jedem das, was er braucht. Er ist Schwabe, war schon auf einigen Jakobswegen unterwegs und hat ein hohes Kommunikationsbedürfnis, was ich recht bald feststelle. Das habe ich aber nun mal nicht, jedenfalls nicht durchgehend. Ich verdrücke daher schnell meine beiden Teilchen, schlürfe meinen Kaffee und bin weg.

   Bald hinter dem Ortsende von San Quirico d'Orcia bin ich wieder auf einer der vielen "weißen Straßen" der Toskana, so genannt, weil ihr heller feiner Schotterbelag so typisch für diesen Landstrich ist. Sie durchziehen die Weinberge und Kornfelder und führen zu den großen Weingütern und Bauernhöfen, den alleinstehenden Landhäusern und kleinen Ortschaften. Einer dieser Orte ist das winzige und verwunschene Vignoni hoch oben auf einem Berg, von wo ich tief hinunterblicken kann auf die bald nur noch leicht gewellte Landschaft, die mir für die nächsten Stunden bevorsteht. Wieder sieht sie anders aus als gestern oder vorgestern. Heute gibt es kaum Kornfelder und keine Weinhänge, sondern weite Grasflächen. Die Landschaft steigt immer mehr an, wird karger. Schafherden weiden auf den ausgedehnten Grasflächen und werden von zwei bis drei Hirtenhunden bewacht. Einen Schäfer sehe ich nicht. Große Bauernhöfe liegen weit verstreut und zu den meisten führen diese typischen Zypressenalleen.

   Ich komme nach Bagno Vignoni. Wenige Häuser gruppieren sich um den zentralen "Wasserplatz" in der Ortsmitte. Wunderschön spiegeln sie sich im einstigen Thermalbecken, aus dem deutlich sichtbar Blasen und Wasserdampf emporsteigen. Fast 50ºC soll das Wasser heiß sein und gegen manche Krankheiten helfen. Beim nur etwa 100 m entfernten Parco dei Mulini füllte früher das heilsame Thermalwasser, das schon zu Zeiten der Etrusker bekannt war, die offenen Badebecken. Man kann nur erahnen, wie viele Pilger hier schon im Laufe der Jahrhunderte Rast gemacht und zumindest ihre Füße dort drin gebadet haben. Heute gibt es nur noch eine schmale Rinne, durch die das Wasser über die Felsen fließt und kurz dahinter als Wasserfall ins Tal des Orcia stürzt.

   Bald hinter dem ehemaligen Thermalbad stoße ich auf die Cassia. Wie vor einigen Tagen empfohlen, werde ich ab jetzt für acht Kilometer an ihr entlanggehen, erspare mir damit einen vier Kilometer längeren Weg, der mir nicht mehr von dieser Landschaft zeigen würde, als die Straße jetzt auch. Außerdem hält sich der Verkehr sehr in Grenzen, was möglicherweise am heutigen Samstag liegt. Ich laufe wie aufgedreht, freue mich über die vielen Grüße, die Autofahrer mir zuhupen oder zuwinken und komme gut voran. Schon bald bin ich an der Stelle, wo ich die neue Cassia verlasse und wenige Meter weiter westlich für einige Kilometer auf der ehemaligen, antiken, wenn auch immerhin schon geteerten Cassia weitergehe. An vielen Stellen sehe ich deutlich, wie eine Teerschicht nach der anderen im Laufe der Jahre abgebröckelt ist, und irgendwo ganz unten drunter findet man wohl auch noch den antiken Steinbelag.

   Beim Hotel-Restaurant-Bar Beyfin, dem einzigen dieser Art weit und breit in dieser einsamen Gegend, raste ich. Nach vier Stunden wird es Zeit. Eine Dreiviertelstunde sitze ich im angenehmen Schatten, denn die Sonne meint es heute wieder sehr gut mit mir. Ich bin aber selbst erstaunt, wie problemlos ich diese Temperaturen wegstecke. Ich schwitze zwar erheblich, aber Schwitzen ist ja auch nur eine Schutzfunktion des Körpers.

   Von Beyfin geht es nun für acht Kilometer konstant bergauf, immer aber nur in der Kategorie 1. Wie schon seit vielen Kilometern sehe ich dabei konstant den Bergkegel mit dem Turm Rocca di Radicofani vor mir. Langsam, ganz langsam kommt er näher und nach weiteren eineinhalb Stunden erscheint das Ortsschild von Radicofani vor mir. Wie schon Pilger seit vielen Jahrhunderten ziehe ich in den Ort ein, der am Fuße seines Turmes liegt. Direkt bei der Kirche ist die kleine Herberge. Ich bin wieder angekommen.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmbkx0Qk0zd0hoUGs/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Montag, 23 Juni 2014 13:19)

    Ha, das Schauspiel rund ums Fußballspiel klingt ja auch nicht sooo viel anders als das Public Viewing hier in Deutschland. Wenn auch mit einem fulminanten Finale.

    Schön, wenn du mit den Temperaturen klar kommst. Wer hätte das gedacht? Und da brauchste dich ja nicht zu wundern, dass die Pfunde purzeln, wenn du sie einfach so runterschwitzt. Ich hoffe nur, du trinkst genug...

  • #2

    Der Kronprinz (Donnerstag, 26 Juni 2014 20:31)

    Ja wie... Und keine Arschbombe ins heiße Becken?!


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