Am Kratersee

Aquapendente - Bolsena (19 km)

   Wir sechs Pilger, die wir uns in den letzten Tagen spätestens in den Unterkünften immer wieder treffen, haben uns die drei zur Verfügung stehenden Mehrbettzimmer in der Herberge gut untereinander aufgeteilt: Das belgische Ehepaar Rita und Jean-Paul haben eins für sich, Javier und Bert und Piet und ich jeweils eines. So hat jedes "Pärchen" etwas mehr nächtliche Ruhe, es knistern morgens nicht mindestens zehn Plastiktüten, sondern nur die Hälfte und man kann sich fertig und auf den Weg machen, auch wenn andere noch schlafen wollen. Wie sich in den letzten drei Tagen herausgestellt hat, haben Piet und ich den gleichen Rhythmus und so stehen wir beide gleichzeitig auf und verlassen auch gleichzeitig die Herberge. In der Bar am Rathausplatz frühstücken wir und gehen dann los. Es ist gerade mal 7 Uhr.

   Hundert Meter weiter treffen wir an der nächsten Bar Javier und Bert, weitere fünfzig Meter später rufen uns Rita und Jean-Paul ein "Bon camino!" aus der letzten Bar von Aquapendente zu, bevor wir wieder auf die Landstraße einbiegen.

   Hach, ich werde das alles bald vermissen. Diese fast rituellen Abläufe eines Pilgertages, die sich Tag für Tag wiederholen, aber doch immer wieder auch anders sind, weil man immer wieder anderen Menschen begegnet, sich grüßt, manchmal Tage, eher aber Abende miteinander verbringt, Gespräche führt, nebeneinander im selben Raum schläft, sich verabschiedet. Die Landschaften und Wege sind jeden Tag anders, die Städte und Dörfer, die Herbergen. Nur eines bleibt immer gleich: der Wunsch, gesund in Rom anzukommen.

   Dass das nicht selbstverständlich ist, musste ich gestern erfahren. Abends klingelte mein Handy und zu meiner Freude war Maria aus Südtirol, meine Pilgerfreundin vergangener Tage aus den Anfängen der Toskana, an der Leitung. Sie wollte sich erkundigen, wie weit ich inzwischen gekommen bin und wie es mir geht. An ihrer Stimme merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. So war es dann auch. Im Moment des Telefonats war sie in Fornello, nur noch ca. 50 Kilometer von Rom entfernt. Und sie muss abbrechen. Körperliche Probleme erlauben es ihr nicht mehr weiterzugehen. Das ist entsetzlich bitter! Ich weiß, wieviel es ihr bedeutet hätte, in Rom anzukommen und wie weh es ihr tut, dieses Ziel jetzt nicht zu erreichen. Irgendwann einmal will sie die letzten Tage nachholen, aber das ist nicht dasselbe. Ich versuche erst gar nicht, sie zu trösten, es würde mir nicht gelingen. Sie wünscht mir aber, dass ich es schaffe, und ich weiß, dass es von Herzen kommt. Spätestens wenn ich auf dem Petersplatz stehe, werde ich wieder an Maria denken.

   Pilger gehen den Weg morgens unterschiedlich an. Die einen muffeln noch genussvoll in den Morgen hinein, brauchen lange bis sie ins Rollen kommen, bis der richtige Gehrhythmus gefunden und eine gewisse Steifheit aus den Beinen getrieben ist. Andere haben diese Probleme nicht, begrüßen innerlich jubilierend den neuen Wandertag und stürmen mit einem leisen Lied auf den Lippen los. Zu den ersteren gehört Piet, zu den letzteren ich. Wir sind noch keine 200 m unterwegs, als Piet hinter mir brummt: "Geh du schon mal! Du bist mir zu schnell!" Wir verabreden uns zum zweiten Kaffee in San Lorenzo Nuovo, und wenn es da nicht klappt, dann sehen wir uns eben in der Unterkunft von Bolsena wieder.

   Wieder gehe ich erstmal den direktesten Weg, und das ist der auf der Cassia. Obwohl heute Montag ist und ich einen gewissen Berufsverkehr vermutet habe, ist alles halb so schlimm. Auf der flachen Strecke durch die jetzt wieder hauptsächlich von Kornfeldern geprägte Landschaft des nördlichen Latiums komme ich wunderbar voran und schneller als gedacht bin ich in San Lorenzo Nuovo. Am Rand des großen Platzes Piazza Europa in der Ortsmitte lasse ich mich im Schatten auf einer Bank zur Rast nieder und sitze gerade mal zehn Minuten, da kommt auch Piet um die Ecke. Er springt noch eben in den Alimentari rein, holt sich etwas Brot und Wurst und kaut mir dann anschließend neben mir auf der Bank etwas vor. So wird es zwar nichts aus meinem zweiten Kaffee, aber Piet hat zumindest sein zweites Frühstück - auch ohne Kaffee.

   Bis Bolsena gehen wir nun zusammen. Wir haben kaum unsere Bank verlassen, senkt sich hinter dem Ortsende von San Lorenzo Nuovo die Cassia ab und es eröffnet sich ein wunderbarer Blick auf den Bolsenasee. Umgeben von Hügeln liegt er wie eine riesige, fast kreisrunde Scheibe vor uns, nur zweimal ist der Wasserspiegel durchbrochen von Inseln, Martana und Bisentina. Er ist der größte italienische Vulkansee, hat eine Tiefe von bis zu 151 m und entstand durch den Einsturz unterirdischer Magmakammern. Der Vulkan Vulsinio war zum letzten Mal vor 2000 Jahren aktiv. Erdgeschichtlich gesehen ist das noch weniger als ein Augenzwinkern und Piet und ich hoffen, dass er auch weiterhin in Ruhe schläft.

   Auf unserem herrlichen Weg am Hang entlang, mit ständigen Blicken auf den See und einer immer wieder aufwehenden leichten Seebrise, kommen Piet und ich intensiv ins Gespräch. Wir unterhalten uns über unsere Berufe, über das junge holländische Königspaar, über unsere früheren jeweiligen Reisen oder Wanderungen, über den Unterschied von Wandern und Pilgern. "Auf meinen Pilgerwegen habe ich erfahren, was Mitmenschlichkeit heißt, zwischen uns und den Menschen am Weg, aber besonders unter uns Pilgern selbst". Piet, der evangelische Pastor, formuliert es nahezu kämpferisch: "Auf dem Pilgerweg wird die klassenlose Gesellschaft Realität. Wenn die Pilgerinnen und Pilger am Abend erschöpft in der Herberge ankommen, die Blasen an den Füßen pflegen und die Wäsche von Hand waschen, dann sind wir alle gleich!" Ich kann ihm da nur Recht geben. Auf dem Pilgerweg wird tatsächlich eine Utopie angesprochen: die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, in der sich die Menschen verschiedenster Nationen, Kulturen und Gesellschaftsschichten im gleichen Ziel zusammenfinden.

   Noch vor 12 Uhr, bevor die Hitze das Wandern anstrengender macht, sind wir in Bolsena. Wunderschön liegt der Ort am Ufer des Sees und ist deshalb natürlich auch ein beliebter Urlaubsort, nicht nur für ausländische Touristen, auch für Italiener selbst. Sogar die alten Etrusker hatten hier ihre Siedlung Volsinii und Wissenschaftler vermuten, dass sich in der Nähe ihr zentrales Heiligtum, Fanum Voltumnae, befunden haben soll.

   Piet und ich durchqueren den langgezogenen Ort auf dem uralten Pilgerweg, der jetzt die Fußgängerzone ist, und mich begeistert sofort das mittelalterliche Flair und die Unaufgeregtheit, die diesen Ort durchzieht, trotz Touristen. Ich werde einen Tag hierbleiben und erst am Mittwoch weitergehen. Das bedeutet aber auch, dass ich mich von Piet verabschieden muss. Er hat sich spontan vorgenommen, eine Doppeletappe zu machen, weiterzumarschieren bis Montefiascone. Vor meiner Herberge an der Piazza Santa Cristina verabschieden wir uns voneinander. Beiden tut es etwas leid, aber das gehört zum Pilgern. Als er die Straße weitergeht, klingel ich an der Tür der Herberge der Nonnen vom Istituto Suore Sacramento.

   Von einer der Nonnen werde ich sofort warmherzig empfangen. Sie erlaubt mir sogar, zwei Nächte hierzubleiben, was nicht selbstverständlich ist. Fast hilft sie mir noch, meinen Wheelie die Treppen hinaufzutragen und erst als ich ihr zu verstehen gebe, dass ich meinen treuen Begleiter schon ohne Probleme bis in den 4. Stock gehievt habe, lässt sie davon ab. Sie zeigt mir mein Zimmer, gibt mir einen Hausschlüssel und wünscht mir einen schönen Tag in Bolsena.

   Es dauert drei Stunden bis Bert und Javier auftauchen, Rita und Jean-Paul scheinen die andere Herberge des Ortes angelaufen zu sein. Rita wollte schon gestern eine Waschmaschine. Beim Abendessen mit Bert und Javier vor einer Pizzeria in einer kleinen Seitengasse erfahre ich, dass Javier in Spanien direkt am berühmten Pilgerweg Via de la Plata wohnt, etwa hundert Kilometer nördlich von Sevilla. Er schwärmt mir von diesem Weg vor und lädt mich zur Übernachtung in sein Haus ein. Die Via de la Plata schwirrt mir schon seit einiger Zeit im Kopf herum und dieses Gespräch führt nicht dazu, mir diesen Gedanken auszutreiben.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmVUZmbVZ4TDU0bTA/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Dienstag, 24 Juni 2014 13:29)

    Och Papa! Ist nicht irgendwann mal gut? Kannst du nicht einfach mal alt werden wie normale Leute? Hast die eine Tour noch nicht zu Ende, da organisierst du schon die nächste... Nein, war nur Quatsch. "Genieß es und halt die Nase in den Wind!" hat ein weiser Mann mir mal gesagt...

  • #2

    Der Kronprinz (Freitag, 27 Juni 2014 07:33)

    Haha, war ja klar, dass direkt der nächste Klops kommt.


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