Seele baumeln lassen

Letzter Ruhetag

   Heute ist mein letzter Ruhetag. Kein Wandern, kein Schwitzen, wenig Schreiben. Nur Ausruhen und die Seele baumeln lassen, mich innerlich einstellen auf meine letzten Tage auf der Via Francigena und herausfinden, ob ich traurig bin. Ich weiß, dass ich ein Resümee ziehen sollte, so ganz langsam.

Ich stehe zusammen mit Javier und Bert um 6 Uhr auf. Eigentlich könnte ich noch länger schlafen, aber mein Körper ist mittlerweile auf diese Zeit eingestellt und ich kann sowieso nicht mehr schlafen. Bevor Javier durchstartet, gibt er mir noch seine Adresse und Telefonnummer in Spanien an der Via de la Plata. Er bittet mich fast, im nächsten Jahr diesen Pilgerweg zu gehen, seine Heimat kennenzulernen und in seinem Haus zu übernachten. Kann ich da noch Nein sagen?

   Mit Bert setze ich mich noch unten vor die Bar zum Frühstück. Während ich wieder meine inzwischen gewohnten zwei Teilchen zum Kaffee esse, raucht Bert seine gewohnten zwei Zigaretten. Das wäre aber bald schiefgegangen. Ihm war gestern noch der Tabak ausgegangen, die Tabakgeschäfte sind jedoch, im Gegensatz zu den Bars, zu dieser frühen Stunde noch geschlossen. Doch ohne Frühstückszigarette(n) geht ja bei Bert gar nichts. Mit Argusaugen studiert er jeden Menschen, der an uns vorbeiläuft. Aber lange Zeit ohne Erfolg. Dann endlich kommen zwei Jungs von der kommunalen Straßenreinigung und das ist Berts Chance. So schnell, wie ich ihn noch nie gesehen habe, ist er bei ihnen, schnorrt sich von jedem einen Glimmstängel und kommt glücksstrahlend zum Tisch zurück. Damit kann der Tag für ihn beginnen. Ich mag diesen Mann. Er ist mit Sicherheit ein intelligenter und gebildeter Mensch, aber irgendetwas hat ihn irgendwann mal aus der Bahn geworfen. Doch ein Lebenskünstler ist er allemal. Als sich unsere Wege trennen, führen die ersten Schritte seines neuen Wandertages in den Tabakladen. Dort ist inzwischen das Ladengitter zur Seite gezogen und die Tür steht offen.

   Ich bleibe noch weitere zwei Kaffeelängen vor der Bar sitzen und schreibe. Das fällt mir nicht leicht, denn es passiert so viel Interessantes um mich herum: Die Straßenreinigung ist immer noch damit beschäftigt, jede einzelne Zigarettenkippe aus den Pflasterfugen zu kehren, der Mann vom Obstladen baut seine verlockende Ware draußen auf, Menschen kommen an der Bar vorbei und werfen den dort Anwesenden freundliche Worte zu, Schwestern des Klosters eilen über die Piazza Santa Cristina in die Basilika zu ihrem zweiten Morgengebet und langsam tauchen auch die ersten Touristen auf.

   Auf einmal sehe ich Marion die Fußgängerzone hinunterkommen. Ich habe heute mit ihr gerechnet, aber nicht um diese Zeit, früh morgens um 9 Uhr. Selbst wenn sie um 6 Uhr in Aquapendente losgegangen ist, kann sie nicht jetzt schon hier sein. Sie sieht sofort mein erstauntes Gesicht und beichtet, dass sie heute mit dem Bus gefahren ist. Fußprobleme, aber nichts wirklich Schlimmes, nur eine Vorsichtsmaßnahme. Eine Stunde später kommt aus Richtung Rom einer ihrer Landsleute mit schwerem Rucksack anmarschiert. Als er meinen Via Francigena-Führer vor mir auf dem Tisch liegen sieht, spricht er mich an und wir unterhalten uns eine Weile. Wim ist, genau wie Piet, von Utrecht aus losgezogen, durch Deutschland und Österreich nach Italien gekommen, über Verona nach Assisi und von dort den Franziskusweg bis Rom gegangen und befindet sich jetzt wieder auf seinem Rückweg auf der Via Francigena durch die Schweiz und Frankreich zurück nach Holland. Das nenne ich eine Pilgerreise!

   Gegen Mittag kommen weitere Pilger an. Werden sie diejenigen sein, mit denen ich in Rom einziehe? Vielleicht nicht mit allen, aber mit dem einen oder anderen wahrscheinlich schon. Einige von denen, die mir in den letzten Tagen und Wochen über den Weg gelaufen sind, werden schon da sein, Vincent und Roland bestimmt. Andere stehen vor den Toren: Sabrina, Gino, Fiorenzo, Heinz. Martine und Melanie haben es auch nicht mehr weit. Wie fühlen sie sich jetzt? Traurig, erleichtert, froh, dass es endlich vorbei ist?

   Ich werde jetzt nochmal durchs Städtchen bummeln, ein Eis verdrücken und mit meinem vierten Kaffee für heute meinen geruhsamen Nachmittag beschließen. Dann geht es in die Bar Centrale. Für Italien steht das entscheidende Fußballspiel gegen Uruguay an. Verlieren sie, ist für sie die WM wohl beendet. Für sie ein kaum zu ertragender Gedanke.

 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Pischotka (Mittwoch, 25 Juni 2014 00:08)

    Huch, das Foto irritiert mich jetzt aber.
    Ich dachte, du hättest abgenommen! ?!?!?

  • #2

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 25 Juni 2014 08:08)

    Ha! Das hab ich auch direkt gedacht! Papa, nach gepurzelten Pfunden sieht das nicht aus...

  • #3

    Sebastian (Mittwoch, 25 Juni 2014 09:05)

    Schaust du auf dem Foto so traurig drein, weil Italien rausgeflogen ist? Ist doch spitze :-)

  • #4

    Der Kronprinz (Freitag, 27 Juni 2014 07:38)

    Die täglich vier Kugeln Eis lassen grüßen...


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