EST! EST!! EST!!!

Bolsena - Montefiascone (15 km)

   In den Klöstern Italiens werden zumindest in einer Hinsicht unterschiedliche Verfahrensweisen angewandt. In den einen werden die Pilger so auf die Mehrbettzimmer verteilt, wie sie ankommen, egal ob Mann oder Frau, in den anderen wird streng nach Männlein und Weiblein getrennt. Nur Ehepaare (mit Ringen an den Fingern!) bekommen bei den letzteren, wenn sie Glück haben, ein Doppelzimmer. Mir soll das ja alles herzlich egal sein, ich will es nur verstehen. So schlafe ich in der Nacht mit Marion und Antonella in einem Dreibettzimmer und zwei andere Männer in einem Doppelzimmer. Vielleicht hätten sich die beiden Mädels ja auch über das Doppelzimmer gefreut...?

   Alle drei hüpfen wir um kurz vor 6 Uhr aus den Betten. Die alltäglichen Handgriffe beim Packen sind bei uns so eingeschliffen, dass wir zwanzig Minuten später schon die Unterkunft verlassen. Antonella, die kleine, temperamentvolle Italienerin aus Lucca, geht direkt ohne Frühstück los. Sie könne so früh morgens noch nichts essen, meint sie, und hoffe auf eine Bar in ein bis zwei Stunden. Marion und ich gehen von der Herbergstür nur die zehn Schritte auf die gegenüberliegende Straßenseite in die Bar Miracolo. Dort herrscht ausgesprochene Katerstimmung. Schon gestern Abend durfte ich hier miterleben, wie für die Italiener ein kleines Stück ihrer Welt zusammenbrach, als ihr Team bei der WM sich aufgrund einer Niederlage von dieser Veranstaltung verabschieden musste, und daran kauen sie alle jetzt noch herum. Immer noch wird kommentiert und lamentiert und der allgemeine Frust wird hin- und hergeschoben. Marion, die Holländerin, kann darüber nur fett grinsen. Ihre Oranjes sind problemlos in die nächste Runde marschiert. Ich halte mich mit der Schadenfreude noch sehr zurück, denn Jogi Loews Buben sind noch keinesfalls auf der sicheren Seite.

   Marion kaut und trinkt wesentlich langsamer als ich, daher klinke ich mich recht bald bei meinem Wheelie ein, verabrede mich mit ihr in der Unterkunft von Montefiascone und trolle mich. Schnell bewege ich mich erstmal wieder auf der Cassia. Der Himmel ist bedeckt, dunkle Wolken werden von einem kräftigen Wind getrieben. Das ist eigentlich ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Normalerweise kommen die Wolken, wenn überhaupt, erst am Nachmittag. Trotzdem ist es schon wieder recht warm. Ist ein frühes Gewitter im Anmarsch? Über dem Bolsenasee hängen die Wolken so tief, dass ich das gegenüberliegende Ufer gar nicht sehen kann. 

   Die Cassia bringt mich an einigen Campingplätzen vorbei. Dort rührt sich noch nichts, obwohl sie alle gut gefüllt aussehen. Nicht nur ausländische Touristen werden hier in ihren Caravans und Wohnmobilen die Nacht oder ihren gesamten Urlaub verbringen, auch bei den Italienern sind die Schulferien angebrochen und damit die Haupturlaubszeit. Die meisten von ihnen allen werden aber wohl um diese Zeit noch in ihren Kojen liegen und nur die wenigsten machen sich vielleicht gerade mit Zahnbürste und Rasierapparat auf den Weg zum mehr oder weniger luxuriösen Sanitärbereich. Wer von ihnen allen weiß überhaupt, dass sie hier an einem jahrhundertealten Pilgerweg lagern?

   Nach etwa einer Dreiviertelstunde zweige ich von der Cassia ab und sehe bald darauf wieder die VF-Markierung vor mir. Während ich auf der Cassia ziemlich nah am Ufer war, geht es jetzt den Hang hoch. Nicht sehr steil, nicht lange, aber steil und lang genug, um ins Dampfen zu kommen. Auch der Wind kann mir jetzt kaum Kühlung zufächeln, denn der Weg verläuft für einige Zeit in einem dichten Wald. Ich bin sowieso erstaunt, wie "grün" sich diese Landschaft mir präsentiert, durch die die Via Francigena in Latium führt. Man nimmt ja gemeinhin an, dass es, je südlicher man kommt,  umso trockener wird. Doch der Wasserreichtum dieser Region sorgt für überaus reichliche Vegetation. Das wussten wohl auch schon die alten Etrusker zu schätzen und haben kräftig hier in der Gegend gesiedelt. Zahlreiche archäologische Ausgrabungen weisen das nach und an einigen komme ich vorbei. Es ist für mich immer wieder faszinierend, in welchem Umfang große Geschichte und Kultur hier am Weg liegt: Etrusker, Langobarden, Römer, Kaiser Friedrich Barbarossa, Päpste, Adelsgeschlechter, Ritterorden, Pilger, alte Handels- und Heerstraßen, Kathedralen, Klöster, Hospize, Mittelalter, Renaissance, ...

   Aus den tiefen Wolken lösen sich mal kurz einige dicke Regentropfen, vielleicht zur Erinnerung, dass es sie überhaupt noch gibt, dann ist es aber auch schon wieder vorbei. Aber die warme, drückende Luft ist weg, vom Wind ausgetauscht, überaus angenehm, so kann es bis Rom bleiben. Der Weg irritiert mich allerdings etwas, bzw. es ist nicht der Weg, es ist die Markierung, die nicht mehr so ganz mit der Wegbeschreibung in meinem Wanderführer übereinstimmt. Ich denke aber, in dieser zur Zeit immer noch bestehenden Anfangsphase der "neuen" Via Francigena ist das gar nicht zu vermeiden. Wanderführer können gar nicht so aktuell sein, dass nicht doch kurzfristige Wegverlegungen diese dann wieder schnell veralten lassen. So tauchen Markierungen auf Schildern auf, die den fünf Meter weiter auf Steinen aufgemalten Pilgermännchen oder Pfeilen widersprechen. Da wird man oben am Hang wieder auf die Cassia ans Seeufer hinuntergeleitet, obwohl doch eine wenig befahrene kleine Landstraße den Pilger ohne Höhenverlust bequem nach Montefiascone leiten würde. Glücklicherweise hatte ich mir in Bolsena eine Karte für die letzten Tage gekauft und prompt macht sie sich bezahlt. Ich erkenne auf ihr genau, was für mich der optimale Weg ist und schon bald sehe ich die wuchtige Kuppel des Domes Santa Margherita von Montefiascone vor mir auftauchen. Es ist gerade mal 10 Uhr.

   Durch das hohe Stadttor Porta Maggiore betrete ich die historische Altstadt und fühle mich sofort wieder ins Mittelalter versetzt. Vielleicht liegt es daran, dass noch so gut wie keine Touristen hier sind, keine Postkartenständer auf der Straße stehen, es wirkt alles so ursprünglich. Zufällig sehe ich das Straßenschild der "Via Garibaldi", hier geht es zum Monasterio San Pietro, meiner Unterkunft. Wenige Minuten später stehe ich vor dem großen Klostertor. Habe ich Glück, darf ich gleich hinein oder muss wieder erst noch sauber gemacht werden? Ich habe Glück. Nach meinem Klingeln geht direkt der automatische Türöffner, und als ich eintrete, kommt mir eine strahlende dunkelhäutige Nonne entgegengeeilt. Selbstverständlich könne ich hier übernachten und auch sofort auf mein Zimmer. Ich werde gefragt, ob ich im Kloster heute Abend essen möchte. Auch Frühstück? Kostet zwar etwas, aber ich komme immer noch viel besser dabei weg, als in irgendeinem Restaurant oder in einer Pizzeria. Außerdem gibt es bei solchen Gelegenheiten mal was anderes als Pizza und Pasta und immer auch eine Flasche Wein dabei. Natürlich sage ich zu.

   Nach den wenigen 15 km Wanderung fällt natürlich die Erholungsphase nicht so lang aus. Bereits nach eineinhalb Stunden werde ich zum Touristen und ziehe mit dem Fotoapparat um den Hals los. Direkt am Tor zum oberen Stadtteil an der Piazza V. Emanuel, durch das auch die Via Francigena weiterverläuft, fällt mir ein großes Schild auf: "100 km alla Tomba di Pietro" (100 km bis zum Petrusgrab"). Gemeint ist natürlich Rom. Nun ist alles relativ. So auch diese Entfernungsangabe. Rechne ich die Kilometer zusammen, die mein Wanderführer mir aufzeigt, komme ich auf mindestens noch 120 km. Ich lege also hiermit nicht Montefiascone, sondern meinen nächsten Übernachtungsort Viterbo als den Punkt fest, von dem an mich dann noch 100 km von meinem großen Ziel Rom trennen.

   Im typischen Touristen-Schlenderschritt steige ich durch enge Gassen und über kleine Plätze hinauf zum Rocca dei Papi, dem in mittelalterlicher Zeit stark befestigten Zufluchtsort mancher Päpste, besteige den Torre del Pellegrino und habe von dort oben einen überwältigenden Blick über die Stadt, die umliegende Landschaft und den riesigen Bolsenasee. Welch ein Panorama! Ich schaue sogar von oben auf die Kuppel von Santa Margherita, und an ihr vorbei, ganz dahinten, muss Rom liegen.

   Bei den Restaurants in der Altstadt prangen mir immer wieder Schilder mit der Aufschrift "Est! Est!! EST!!!" entgegen, mit denen für den Wein geworben wird, der nur hier und in wenigen umliegenden Gemeinden wie Bolsena und San Lorenzo Nuovo von gut 400 Winzern auf etwa genauso viel Hektar Fläche angebaut wird.

   Dazu gibt es eine amüsante Legende: Es war das Jahr 1111. Der deutsche Prälat Johannes Fugger aus Augsburg hatte sich dem Zug seines Kaisers Heinrich V. nach Rom angeschlossen. Er hatte großen Gefallen an den italienischen Weinen und so schickte er jeden Tag seinen Diener voraus, der Lokale mit guten Tropfen ausfindig machen und kennzeichnen sollte. Es war ausgemacht, an solchen Stellen ein kurzes "Est!" für "Hier ist es!" an die Türe zu schreiben. Dem Diener mundete der Wein in Montefiascone jedoch so gut, dass er die dreifache Verstärkung wählte und an die Türe schrieb. Weiterhin berichtet die Legende, dass sich Fugger ab diesem Tage nur noch dem vertieften Studium des Muskatellers gewidmet habe. Manche Stimmen behaupten, er habe sich an dem Wein zu Tode getrunken. Der Wein hat jedoch die Bezeichnung EST! EST!! EST!!! behalten.

   Zum Abendessen bekommen Marion, Antonella und ich keinen EST! EST!! EST!!! vorgesetzt, sondern einen Weißwein aus eigenem Klosteranbau. Auch lecker!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmTFNCZFhmZHlMZVk/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 26 Juni 2014 07:48)

    Dann gratuliere ich dir für heute doch schonmal zum Unterschreiten der 100 km-Marke!

  • #2

    Der Kronprinz (Freitag, 27 Juni 2014 07:51)

    Wahnsinn. 100km zu Fuß sind eigentlich kein Pappenstiel. Aber bei dem, was du schon runter gerissen hast, ist das ja nur noch ein Katzensprung.


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