Klosterfrieden

Viterbo - Vetralla (19 km)

   Was macht man, wenn man das WM-Spiel Deutschland : USA sehen will, in zehn Minuten ist Anstoß und im Fernsehen der Bar, die nahe bei der Unterkunft liegt, wird es nicht übertragen? Man wird schnell! Wie ein Wiesel hastete ich gestern am frühen Abend durch Viterbos Gassen, graste eine Bar nach der anderen ab, aber immer nur, um ein bedauerndes Kopfschütteln zu ernten. Dazu muss man wissen, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Italiens nur ein Spiel pro Spieltag übertragen wird, alle anderen laufen über Sky. Dies war gestern beim Spiel der Deutschen eben der Fall. Eine gewisse Ahnung trieb mich auf den großen Stadtplatz beim Rathaus, der Piazza del Plebescito. Und tatsächlich: Bei der einzigen Bar dort prangte mir der Aufkleber "SKY" an der Tür entgegen. Ich hatte so gerade noch Zeit, mir eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu holen und sie an der Theke zu bezahlen, da pfiff der Schiedsrichter das Spiel an. Mit mir saßen etwa zehn junge Amerikaner vor der Flimmerkiste, die Italiener im Raum zeigten kein Interesse. Zu tief saß wohl noch der Frust vom eigenen Ausscheiden. Recht bald war auch das Interesse bei den Amerikanern vorbei und sie widmeten sich mehr ihren Smartphones und Notebooks. Fußball war wohl doch nicht so unbedingt ihr Sport. Wäre ein Spiel ihrer Mannschaft bei einer Eishockey-WM gezeigt worden, hätte die Sache wohl anders ausgesehen. So freute am Ende ich mich alleine über den glücklichen deutschen Sieg und ging zufrieden wieder zurück in die Herberge.

   Bereits am Nachmittag waren die beiden jungen Spanier Julio und Pedro in der Herberge angekommen, deren Pilgerreise von Rom nach Santiago de Compostela gerade erst begonnen hat. Mir war direkt aufgefallen, dass Julio seine Gitarre mit sich trug, und als ich zurückkam, saß er alleine vor der Herberge, spielte und sang dazu. Leise, gefühlvolle Lieder, nicht für irgendein Publikum, für sich. Ich setzte mich etwas abseits, wollte den Jungen in seiner Welt nicht stören. Dann spielte er "Halleluja" von Leonard Cohen - und es war um mich geschehen. Während ich ihm wie gebannt zuhörte, stiegen Bilder meines langen Weges in mir auf, von Landschaften, Menschen, besonderen Momenten. Ist man ein Weichei, wenn man in solchen Augenblicken seine Tränen nicht unterdrücken kann? Ich wehrte mich nicht dagegen, ließ sie fließen. Nach diesem so berührenden Lied packte er seine Gitarre ein und ging in die Herberge. Es waren eine der schönsten fünf Minuten meiner Reise.

   Marion erzählt mir heute Morgen, dass sie Julio auch durchs offene Fenster hat spielen hören und ganz fasziniert war. Bei unserem gemeinsamen Frühstück auf der Terrasse von MacDonald's (!) am Ortsende von Viterbo ist dieser besondere Moment vom gestrigen Abend Anlass, uns über weitere intensiv erlebte Augenblicke während unserer Pilgerreisen auszutauschen. Dabei sind wir uns einig, dass nicht das Große, Spektakuläre uns besonders in Erinnerung bleiben wird, sondern die vielen kurzen Momente, die einen aus irgendeinem Grunde ergriffen haben.

   Als Marion sich auf den Weg macht, bestelle ich mir noch eine zweite Tasse Kaffee. Ich weiß, dass sie gerne alleine geht, da haben wir was gemeinsam. Mein Kaffee verschafft ihr einen gewissen Vorsprung und bei einer Rast treffen wir uns wahrscheinlich eh wieder. Ich unterhalte mich noch etwas (mit Händen und Füßen) mit dem Fensterputzer arabischer Abstammung, der die Eingangsglastür des Fastfood-Tempels reinigt, bin mir mit ihm einig, dass Deutschland ein schönes Land ist und eine gute Fußballnationalmannschaft hat, und mache mich dann auch auf die Strümpfe.

   Die ersten Kilometer auf dem Weg bringen mich nun immer wieder über besondere Streckenabschnitte. Links und rechts der schmalen Straße ragen in gewissen Abständen mehr als zehn Meter hohe Tuffsteinwände in die Höhe. Die nahen Cimini-Berge, die vulkanischen Ursprungs sind, haben hier vor Urzeiten ihr Auswurfmaterial hinterlassen, das sich im Laufe der Zeit dann zu diesem Tuffgestein verfestigte. Es wird mir in den nächsten beiden Tagen wohl noch öfter begegnen. Marion, die ich bald vor mir laufen sehe, wirkt winzig und fast eingequetscht zwischen diesen Wänden.

   Dann ändert sich der Weg abrupt. War er vorhin noch eingezwängt zwischen dem Tuffgestein, verläuft er plötzlich und unvermittelt durch große Kornfelder und der Blick schweift kilometerweit. An seinem Rand wachsen die herrlichsten Blumen und ich laufe zu Marion auf, die dabei ist, einige der Blüten zu pflücken, um sie in ihrem Buch zu pressen. Von da an gehen wir zusammen, reden etwas miteinander - und gehen falsch.

   Glücklicherweise erinnere ich mich an zwei große, markante Steine links am Weg und an die Stelle in meinem Wanderführer, die dem Pilger aufträgt, hier auf einen Wiesenpfad abzuzweigen. Im Gespräch vertieft, sind wir nur daran vorbeigetappt. Genau das passiert Pilgern oft, die gemeinsam unterwegs sind, viel öfter, als Allein-Gehenden. Das wurde mir schon oft bestätigt.

   Marion und ich trotten also etwa dreihundert Meter zurück und treffen kurz vor dem richtigen Abzweig auf Glenn aus Australien, der ebenfalls fälschlicherweise geradeaus weiterläuft. Er behauptet steif und fest, dass es bei den beiden großen Steinen keine Markierung gibt, die nach links weist. Gemeinsam schauen wir genauer hin und finden sie natürlich doch, aber halb verwittert und fast vollständig zugewachsen. Hier muss dringend freigeschnitten und nachgepinselt werden.

   Im Dreiertrüppchen ziehen wir weiter, zwischen Kornfeldern, durch Olivenhaine und an Haselnussplantagen vorbei. Glenn ist Mitte April in Canterbury gestartet, hat viel zu erzählen und will viel von Marion und mir wissen. Und ehe wir uns versehen, sind wir, ohne eine Pause gemacht zu haben, in Vetralla. Glenn will heute noch 13 km weiter bis Capranica, Marion möchte in einem B&B in Vetralla bleiben, mich zieht es noch zwei Kilometer weiter zum einsam gelegenen Benediktinerinnenkloster "Regina Pacis", meiner Unterkunft für heute. Eigentlich müssten wir uns jetzt also trennen, aber Glenn möchte noch so viel wissen. Er zieht uns fast in die erste Bar von Vetralla und lädt uns zum Kaffee ein. Eine halbe Stunde dauert es noch, bis wir uns dann wirklich voneinander verabschieden.

   Zwanzig Minuten danach sehe ich das Monastero Benedittine Regina Pacis vor mir. 1575 wurde die Kirche von den Kapuzinern erbaut, wenige Jahre später das dazugehörige Kloster mit Kreuzgang. Bis 1962 bewohnten Mönche die Anlage, 1972 erwarben sie die Benediktiner. Auch wenn ich wie im Endspurt die Straße hochgezogen bin, jetzt werde ich langsamer. Die letzten Meter bis zum Tor möchte ich noch genießen. Durchatmen. Ich kann es nicht anders sagen: Ich bin gerührt vor lauter Dankbarkeit. Jeden Tag darf ich solche Traumstätten betreten, und wenn sie es einmal nicht sind, mache ich mir eben eine daraus. Die Nonne, die mich in Empfang nimmt, bittet mich, noch einen Moment zu warten, damit sie das Zimmer herrichten kann. Kurz darauf liege ich in meinem kleinen Doppelzimmer auf dem Bett, höre draußen im Garten die Vögel zwitschern, sonst nichts.

   Als ich eine Stunde danach aufwache, sehe ich im Garten Marion und Antonella entlangspazieren. Sie haben also beide doch noch den Weg hierher gefunden. Wenig später sitzen sie im Schatten der Bäume, jeder für sich, mit geschlossenen Augen. Ich gehe auch raus, lege mich auf die Wiese und schaue in die Wolken. Es ist so schön, so ruhig, so friedlich hier. Sein Name macht dem Kloster alle Ehre: Regina pacis - Königin des Friedens.

   Nach einer Weile hole ich mir mein Tablet raus und beginne mit meinem Blog. Als ich fertig bin, steht die Sonne schon zwei Handbreit über dem Horizont. Blaue Stunde. Die Hitze hat nachgelassen, ein sanfter Sommerwind animiert die Blätter in den Bäumen zu einem leise rauschenden Abendgetuschel.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmR2hjN0pjTlptd1k/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Die Pilgertochter (Samstag, 28 Juni 2014 07:51)

    Oh Mann, da steigt einem ja schon beim Lesen gleich das Pipi in die Augen. Schön, dass du gerade am Ende deiner Reise noch so viele bewegende Momente erleben darfst.

  • #2

    Lore (Samstag, 28 Juni 2014 08:49)

    Hab mir die Version -1985- von Leonard Cohen gerade mal auf youtube angehört. Für alle, die auch eine Gänsehaut bekommen möchten:
    https://www.youtube.com/watch?v=S6KLK_8Tg6Y&list=RDS6KLK_8Tg6Y
    Gruß
    Lore

  • #3

    Der Kronprinz (Dienstag, 01 Juli 2014 09:49)

    Cool! Welch ein krönender Abschluss...!


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