Betont einfach!

Sutri - Campagnano di Roma (21 km)

   Noch drei Wandertage habe ich vor mir, dann ist das Abenteuer Via Francigena vorbei. Ich habe ein Kribbeln im Bauch. Warum? Vorfreude auf die Ewige Stadt? Ein wenig Betrübtheit, weil es bald vorbei ist? Freude auf zu Hause? Wahrscheinlich von allem etwas. Bestimmt kribbelt es aber auch, weil heute der ausgerechnete Geburtstermin meines zweiten Enkelkindes ist. Oder wartet es, bis Opa wieder zu Hause ist? Jedenfalls hat der Vater, mein Sohn Julian, sich auch nie so genau an Termine gehalten, und vielleicht kommt das Kind ja auf den Papa raus. Ich drücke ihm und Barbara und natürlich dem kleinen Ungeborenen ganz fest die Daumen und bin in Gedanken bei ihnen.

   In meinem kleinen Zimmer bei den Karmeliterinnen höre ich es nebenan schon früh rumpeln. Antonella packt ihren Rucksack, also hat sie heute nicht verschlafen. Ich stehe auch auf, es ist kurz vor 6 Uhr. Eine Viertelstunde später schnattern Antonella und Marion auf dem Flur rum und poltern die Treppe runter. Die Herbergstür geht auf und fällt wieder ins Schloss, das italienisch-holländische Pilgerinnenduo ist weg. Warum so schnell, meine Damen? Die Bar öffnet doch erst um 6.30 Uhr! In aller Ruhe packe ich meine Siebensachen, schiebe meinen Wheelie die Stufen zur Haustür hinunter, ziehe die Tür fest ins Schloss und werfe den Schlüssel bei den Karmeliterinnen in den Briefkasten.

   Zwei Minuten später bin ich bei Antonella und Marion in der Bar und hole mir mein Teilchen "con crema" (hmmmmm!!!) und meinen Kaffee an der Theke ab. Inzwischen sind wir schon fast typische Italiener geworden. Ruckzuck sind das Teilchen verschlungen und der Kaffee geschlürft, eine längere Muße gibt es beim Bar-Frühstück nicht. Marion zieht zuerst los, Antonella folgt kurz darauf, ich werfe noch einen kurzen Blick in die ausliegende "Corriera della Sport" mit den Fußballergebnissen von gestern Abend und bin dann auch weg.

  Kaum habe ich die Altstadt von Sutri verlassen, bin ich schon wieder von viel Geschichte umgeben. Die Via Francigena führt durch den archäologischen Park und der trägt seinen Namen zu Recht. Ein großes, aus einem Tuffsteinberg herausgeschlagenes Amphitheater aus der Römerzeit mit Platz für 9000 Personen, die ebenfalls aus dem Tuffstein herausgeschlagene Kirche Madonna del Parto und eine Vielzahl von etruskischen Gräbern aus dem 6.-4. Jahrhundert v. Chr. geben mir direkt am Anfang des Wandertages eine geballte Portion Historie.

   Zufrieden ziehe ich weiter. Die Sonne lacht mir wieder frontal von vorne ins Gesicht und ich kann ihr nur dankbar sein, dass sie sich mehr als drei Monate lang so viel Mühe gegeben hat, mir eine treue Begleiterin zu sein. Wie immer morgens stapfe ich ihr bestens gelaunt entgegen, nutze aber doch jeden Schatten, der sich mir bietet. Das Gras am Straßenrand und die Blätter der Haselnussbäume glitzern mit ihren Abermillionen Tautropfen und ich beginne erneut, den Tag mit allen Sinnen zu genießen. Weit vor mir  sehe ich Antonella am Straßenrand marschieren und es wird nicht lange dauern, bis ich sie eingeholt habe.

   Denke ich! Doch plötzlich ist sie weg. An einem Punkt, wo wir rechts abzweigen müssen, nimmt sie offensichtlich den ersten Weg, obwohl der zweite erst richtig gewesen wäre. Wie ich wenige Minuten später feststellen muss, ist die Markierung irreführend, aber ich kann ihr nicht mehr helfen. Sie muss selbst merken, dass sie falsch läuft und umkehren.

   Ich laufe weiter, wieder an großen Haselnussplantagen vorbei, an Olivenhainen, an einem Golfplatz. Noch kein Mensch schwingt dort seinen Schläger. Es ist erst 8.30 Uhr, die Herrschaften, die sich diesem Hobby widmen, schlafen um diese Zeit noch.

   Dann bin ich in Monterosi. Bei der ersten Bar lacht mir Marion entgegen. Den ersten Kaffee hat sie schon hinter sich, trinkt aber zur Gesellschaft mit mir noch einen zweiten. Ich erzähle ihr von Antonella und beide machen wir uns etwas Sorgen. Doch unnötig. Fünf Minuten später biegt sie ebenfalls zur Bar ein, zuckt kurz mit einem Lächeln die Schultern und holt sich auch ihren Kaffee. Pilger kommen eben immer an, kurze "Fehltritte" gehören dazu.

   Wir beraten gemeinsam über die weitere Marschrichtung. Mein Wanderführer beschreibt bis zu unserem Tagesziel Campagnano di Roma einen gewaltigen Umweg, Marions GPS eine wesentlich kürzere Route an der Cassia entlang. Wir entscheiden uns (natürlich) für die kürzere Variante und stiefeln los. Zunächst ist alles kein Problem. Der Weg parallel zur Cassia ist angenehm zu gehen, wenn auch etwas lärmbelästigt. Dann marschieren wir auf einer Spur, die nur von hüfthohen Begrenzungssteinen vom fließenden Verkehr abgetrennt ist. Irgendwann sind wir sogar gezwungen, direkt neben der Fahrspur der Cassia zu gehen, die hier bereits zweispurig ausgebaut ist, also Autobahncharakter aufweist. Wir drei sind mittlerweile abgebrüht genug, um die uns entgegengerast kommenden Autos und Motorräder stoisch zu ertragen. Im Gänsemarsch trotten wir hintereinander her und freuen uns immer wieder über die aufmunternden Hupzeichen der Autos und ausgestreckten Hände der Biker, als wollten sie uns zurufen: "Ihr habt es bald geschafft, Pelegrinis! Weiter! Weiter!" Es sind immer wieder diese Zeichen der Anteilnahme, die aus einem normalen Pilgertag einen besonderen machen.

   Als wir die Cassia verlassen können, sehe ich an ihrem Straßenrand das Schild "Roma 35 km". Hört sich gut an, sind aber Cassia-Kilometer. Für uns Via Francigena-Pilger werden es auch gut über 40 km werden. Aber was ist das schon...

   Die Sonne übertreibt es jetzt wieder ein wenig. Ohne viel Schatten geht es Campagnano entgegen. Die Abstände zwischen Marion, Antonella und mir werden länger, besonders als es auf den letzten beiden Kilometern wieder etwas bergauf geht. Um die späte Mittagszeit stehen wir vor der Herberge - und müssen erstmal tief Luft holen.

   Eigentlich ist sie zunächst mal eine Baustelle, und wo sie keine Baustelle ist, ist sie..., wie soll ich sagen..., betont einfach. Das ist bei mir die Vorstufe von "Dreckloch". Es ist muffig, an vielen Stellen wiehert der Schimmel, der Boden ist staubverschmiert, es herrscht eine Ordnung wie bei Woolworth auf den Wühltischen und mittendrin liegen Matratzen auf dem Fußboden, nebeneinander oder in Stapeln, die wohl schon Cäsars Legionen auf ihrem Marsch Richtung Gallien gedient haben. Ich habe nichts gegen Matratzen und Kopfkissen ohne Bezug, aber mehr als einen deutlichen Bezug zum Vornutzer sollten sie nicht haben. Es gibt Etablissements, wo man es vorzöge, in einer eigenen Hängematte einen halben Meter über den Betten zu liegen und nachts zum Pinkeln in den Wald zu gehen, um die Begegnung mit urogenitalen Pilzkulturen zu vermeiden. Dieses ist eines davon.

   Ich nehme das alles mit Galgenhumor, packe meine bewährten Vliesbezüge aus Jakobswegzeiten aus und beziehe damit die optisch sauberste Matratze, die ich in einem der beiden Räume finden kann. Die Auswahl ist nicht groß. Marion ergreift erstmal die Flucht und rennt in die gegenüberliegende Bar um nachzudenken. Antonella beißt kräftig die Zähne zusammen, geht mit dem Gesichtsausdruck größten Ekels in eins der beiden "Bäder" zum Duschen und ich gehe in das zweite. Als das (immerhin heiße) Wasser etwa zwei Minuten läuft, drückt es, anstatt abzulaufen, durch den Abfluss nach oben und umspült meine Füße mit Büscheln von Haaren, die garantiert nicht von meinem Kopf stammen.

   Als ich danach für meine gewohnte Relaxphase auf der Matratze liege, kann ich nicht anders: Ich muss lachen. So etwas als Pilgerherberge anzubieten, ist schon mutig. Aber auf einer Pilgerreise kann man nicht immer nur auf Rosenblättern gebettet sein, es muss auch mal ordentlich pieken.

   Marion sieht das wohl anders. Als ich aufwache, liegt ein kleiner Zettel auf meinem Bauch. "Hallo Antonella, hallo Reinhard! Ich wollte euch beide nicht beim Schlafen stören. Ich bin nach Formello weitergegangen. Hier hätte ich heute Nacht nicht eine Minute geschlafen. Wir sehen uns morgen spätestens in La Storta! Gruß Marion"

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmZ0tVRzhuZU82TGc/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Lore (Sonntag, 29 Juni 2014 23:13)

    Und? Wie war die betont einfache Nacht? Juckt es überall?
    LG
    Lore

  • #2

    Die Pilgertochter (Montag, 30 Juni 2014 16:11)

    Hmmm, herrlich! "Betont einfach" ist doch immer das größte Abenteuer!

  • #3

    der kronprinz (Dienstag, 01 Juli 2014 14:54)

    na lecker!!!


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