Letzter Tag "im Grünen"

Campagnano di Roma - La Storta (28 km)

   Die, die nicht geflüchtet sind, haben die Übernachtung mit der höchst grenzwertigen Hygiene anscheinend gesund überlebt. Am frühen Abend kamen noch zwei Pilger an und es hat mich überrascht, dass jeder glaubte, noch eine einigermaßen vertretbare Matratze gefunden zu haben. Danielas und Pinos kleine Geschichte ist auch ganz nett. Beide trafen sich an einer Bushaltestelle in Viterbo. Daniela, eine junge Italienerin, ist schon länger auf der Via Francigena unterwegs, musste aber aus irgendeinem Grund gestern bis Campagnano mit dem Bus "überbrücken". Pino, ein rüstiger älterer Herr aus Viterbo, der an diesem Tag seinen 74. Geburtstag feierte, wollte sich an seinem Ehrentag etwas Besonderes gönnen und nahm sich vor, zur Bushaltestelle zu gehen und dort den ersten Bus zu nehmen, der auftaucht und mit diesem zu dessen Endhaltestelle zu fahren. Es kam der Bus nach Campagnano, in ihm machte er sich mit Daniela bekannt, die ihn dazu überreden konnte, sie nach Rom zu Fuß zu begleiten. Er machte "den Spaß" mit und landete, nur mit einem kleinen Rucksack mit Verpflegung und einer Zahnbürste sowie mit Jesuslatschen an den Füßen in einer siffigen Pilgerherberge.

   Während sich Daniela als überzeugte "Nachtpilgerin" schon um 3 Uhr (!) auf den Weg macht, treffen sich Antonella, Pino und ich um 6.15 Uhr in der Bar gegenüber und werfen uns unser italienisches Frühstück ein. Da Antonella immer zuerst los will, um ganz alleine ihren Morgenmuffel zu vertreiben, lassen Pino und ich sie erst ziehen und gehen dann mit Abstand hinterher. Meine anfänglichen Bedenken, mir einen 74jährigen "ans Bein zu binden", verfliegen sehr schnell. Er ist ein sehr interessanter und humorvoller Gesprächspartner, der wie der gestiefelte Kater mit Riesenschritten einherschreitet. Ich muss in einigen Abschnitten richtig Gas geben, um mit ihm schritthalten zu können. Meine Versuche, mich seiner Schrittlänge anzupassen, scheitern bitterlich.

   Auf diese Weise aber fangen wir Antonella bald wieder ein und gehen fortan zusammen. Die Landschaft, die wir durchwandern, lässt mich fast nicht verstehen, dass wir uns morgen um die gleiche Zeit auf endlos langen und höchst verkehrsreichen Straßen durch die Millionenstadt Rom bewegen werden. Alles ist grün, es geht bergauf und bergab, weit im Hintergrund erheben sich die recht stattlichen Monti della Sabina, wir gehen an Landvillen, großen Zypressen und Pinien vorbei, über uns ein blauer Himmel mit vielen Schäfchenwolken - es ist nochmal eine Wonne. Und irgendwann sehe ich, gaaanz, gaaanz weit am südlichen Horizont eine Ansammlung von hohen Häusern. Das können nur die ersten Außenbezirke von Rom sein! Pino, gebürtiger Römer, der erst seit drei Jahren in Viterbo wohnt ("My girlfriend kicked me out!" - Herrlich, oder?) bestätigt mir das, und mein Herzchen macht einen kurzen Doppelschlag. Wow, daaahinten werde ich morgen Mittag sein, kaum zu glauben.

   Dann sehe ich Flugzeuge aufsteigen, eins nach dem anderen. Sie müssen alle auf einem der beiden großen Flughäfen Roms gestartet sein. Bald sitze ich in einer dieser Maschinen und fliege nach Hause. Erstmals empfinde ich, dass sich "nach Hause" für mich gut anhört. Ich bin nicht traurig, dass es dem Ende meiner langen Pilgerreise zugeht. Da gibt es so Vieles, worauf ich mich zu Hause freuen kann. Es ist aber keinesfalls so, dass ich denke: Endlich ist es vorbei! Zu viel wunderbare Momente, zu viel herrliche Landschaften hat mich dieser Weg erleben lassen. Nur der Gedanke, dass dies nicht mein letzter Pilgerweg sein darf, lässt mich ohne Trübsal "Richtung Heimat schwenken".

   In Formello, dem wohl letzten kleinen Ort an der Via Francigena, rasten wir nochmal unmittelbar vor dem großen Stadttor bei einer Bar. Auch das werde ich vermissen: das tägliche Ansteuern dieser italienischen "Kommunikationszentren", wo man sitzen kann, ohne etwas bestellen zu müssen, wo man/frau sich trifft, um zu tratschen, um den geliebten Espresso zu trinken oder ein Panino oder ein Dolce zu essen, und das für wenig Geld.

   Auf den letzten Kilometern bis La Storta, was schon zum Einzugsgebiet von Rom gehört, macht Antonella mir große Freude. Schon immer sehe ich sie mit kleinen Kopfhörern im Ohr laufen, aber jetzt scheint sie ihre Lieblingsmusik zu hören. Ohne jede Scheu schmettert sie lauthals die Lieder mit, breitet dabei immer wieder unterstützend ihre Arme aus und schließt hingebungsvoll ihre Augen. Dabei tritt das Phänomen auf, das man kennt: Sie singt, weil sie sich selbst mit ihren "Ohrenstopfen" nicht hört, in einem Ausmaße laut und falsch, dass es zum Gottserbarmen ist. Ich könnte mich wegschmeißen!!! Pino fühlt sich aufgefordert, mit dieser Katzenmusik mitzuhalten und jault herzzerreißend immer wiedermal mit. Seine Laune steigt von Minute zu Minute an und gipfelt in seinem Wunsch, für eine Weile mal meinen Wheelie ziehen zu wollen. Natürlich kann ich ihm diesen Wunsch nicht verwehren und bin für ungefähr eine Stunde meinen Lastenträger los.

   So kommen wir gutgelaunt in La Storta an - und werden dort recht brutal mit dem konfrontiert, was uns morgen früh blühen wird - der Cassia auf ihren letzten Kilometern nach Rom hinein. Dies aber nur für einen kurzen Moment. Dann sind wir wieder in einem kleinen Nonnenkloster zur Übernachtung. Marion ist schon seit einiger Zeit da, hatte sie doch nur einen kurzen Tag von Formello bis hierher. Während wir im Klostergarten nochmal die Ruhe genießen, rauscht unten auf der Cassia der Verkehr vorbei.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmTUd5QXMyTzZTOGs/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Die Pilgertochter (Dienstag, 01 Juli 2014 07:44)

    Auf geht's zum letzten Gefecht!

  • #2

    Christel (Dienstag, 01 Juli 2014 12:06)

    Du hast es geschafft! Gratulation! Besuch' in Rom das Grab Johannes XXIII und grüß' ihn von uns!
    Fr.Jupp + Christel

  • #3

    Der Kronprinz (Dienstag, 01 Juli 2014 14:59)

    Unfassbar. Der verrückte, alte Mann hat es tatsächlich geschafft. Wir sind stolz auf Dich. Aber jetzt komm endlich nach Hause!!!


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