Letzte Touristentage

   Die Stimmung beim Frühstück ist gedrückt. Für alle ist heute richtig Schluss mit dem Pilgerdasein, nur ich habe noch eine kleine Galgenfrist. Die meisten machen sich gleich auf zum Bahnhof Termini, um mit Zügen zum Flugplatz oder direkt nach Hause zu fahren. Zu ihnen gehört auch Antonella, die es bis zu ihrer Heimatstadt Lucca gar nicht so weit hat. Marion trifft sich gleich am Bahnhof mit ihrem Mann und gemeinsam gönnen sie sich noch drei Tage in Rom. Für Antonella und Marion war es das erstemal, dass sie auf einer Pilgerreise waren, aber für sie steht fest, dass sie im nächsten Jahr ein Stück vom Jakobsweg gehen. Ja, ja, wenn man einmal infiziert ist...

   Alle drei müssen wir schlucken, als wir uns am Tor voneinander verabschieden. Es ist schon eigenartig, wie intensiv sich so eine Pilgergemeinschaft entwickelt, auch wenn man sich noch gar nicht so lange kennt. Antonella fällt mir um den Hals und drückt dabei eine Träne weg. Dann dreht sie sich ganz schnell um und stapft davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als Marion fünf Minuten später geht, versuchen wir beide es mit Lachen und dummen Sprüchen, z.B. dass der andere ja nicht Weltmeister werden kann, weil man gegen das jeweils andere Land verliert. Jeder entdeckt aber feuchte Stellen in den Augen des anderen. Ich hoffe, Marion hat mit der Pilgerreise ihren schweren Burnout überwunden, denn das war der Auslöser ihrer Pilgerschaft.

   Ich selbst packe auch meine Sachen zusammen, denn nach zwei Übernachtungen muss ich aus der Herberge raus. Doch die nächste ist schon reserviert. Mit Einverständnis der Hospitaleros kann ich Wheelie und Rucksack noch geschützt hier lagern und ab 15 Uhr abholen. Länger will ich mich aber auch auf keinen Fall durch Rom bewegen.

   Heute ist nochmal Roms Antike angesagt. Ich marschiere zum gar nicht weit von Trastevere gelegenen Kapitolshügel, blicke von dort auf die Ruinenlandschaft des Forum Romanum hinab, gehe zu den Überresten des Circus Maximus, komme zur Lateranbasilika (San Giovanni in Laterano), nehme dann Kurs auf das Kolosseum und den Konstantinbogen und schlendere von dort aus bei inzwischen brütender Hitze durch das Ruinenfeld des Forum Romanum, das mal der Mittelpunkt der Welt war, zurück zum Kapitolshügel. Eine halbe Stunde danach bin ich wieder in der Herberge.

   Jetzt würde ich mich nur wieder gerne duschen und ausruhen, aber das geht ja nicht. Also beiße ich die Zähne nochmal für eine knappe Stunde zusammen und schleppe mich bei 36ºC durch den dicksten Touristen- und Autoverkehr zu meiner letzten Unterkunft, die angenehmerweise ganz in der Nähe des Bahnhofs Termini liegt.

   Morgen muss ich mir eigentlich nur noch irgendwie die Zeit vertreiben. Mein touristisches Programm habe ich durch. Trevi-Brunnen und Spanische Treppe kann ich mir schenken, da dort alles eingerüstet ist und renoviert wird. So hat es mir jedenfalls Antonella erzählt. Also werde ich das machen, was ich in den letzten Wochen immer so gerne gemacht habe: mich zwei- bis dreimal in eine Bar setzen, Teilchen oder ein Panino essen, dazu mehrere Caffé Americano trinken und vorbeischlendernde oder -hastende Menschen beobachten, mindestens zweimal eine Gelateria heimsuchen, ein wenig im Rom-Führer lesen oder auch nochmal im altvertrauten und inzwischen schwer abgegriffenen Via-Francigena-Führer blättern. Dabei werden Erinnerungen aufsteigen, die mich lächeln lassen oder mir die Kehle zuschnüren werden. Aber es werden wunderbare Erinnerungen sein.

   Irgendwann werde ich versuchen, ein Fazit zu ziehen. Aber erst in einigen Tagen. Ich möchte erstmal etwas Abstand zu diesen bewegenden Wochen nehmen und richtig zu Hause ankommen.

 

 

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Kommentare: 6
  • #1

    Lore (Freitag, 04 Juli 2014 22:03)

    Lieber Reinhard,
    es war auch für mich wunderbar, dank Deiner lebendigen, nachdenklichen und interessanten Berichte von der Sieg nach Rom zu laufen. Wie andere es auch empfinden: es wird mir was fehlen. Komm gut heim - und dann dauert es nicht mehr lange und Du "pilgerst" auf andere Art durch die Uckermark.
    Liebe Grüße
    Lore

  • #2

    Kathrin (Samstag, 05 Juli 2014 01:08)

    Lieber Reinhard, da spricht mir Lore aus dem Herzen, Deine Berichte werden mir fehlen. Jeden Abend/ Nacht habe ich Deine Reise verfolgt. Jeden Abend wurde mein Entschluss gefestigt, auch auf der VF zu pilgern. Am 21.7. werde ich hoffentlich in Lausanne ankommen und dann muss ich wohl oder übel eine Pause machen. Aber 2015 geht's weiter! Bestimmt ist bis dahin Dein Buch schon da und ich werde es im Gepäck haben. (Nimm also bitte ganz dünnes Papier).
    Nun wünsche ich Dir einen guten Rückflug und hoffentlich kommst Du noch pünktlich zur Geburt des Enkelkindes.
    Also noch einmal: mille grazie e tanti auguri.
    Liebe Grüße aus der Eifel

  • #3

    Die Pilgertochter (Samstag, 05 Juli 2014 12:51)

    Jetzt ist es endlich soweit. Komm nach Hause, Papa! Besuch dein zweites Enkelkind, Opa!

  • #4

    Lore u. Peter (Samstag, 05 Juli 2014 13:17)

    Na - dann herzlichen Glückwunsch, Opa!

    Peter und Lore

  • #5

    Renate und Christoph (Sonntag, 06 Juli 2014 11:25)

    Herzlichen Glückwunsch, Opa!
    Hab eine gute Heimreise und Ankunft zu Hause und fühl dich feste gedrückt!

    Liebe Grüße aus Much
    von Christoph und Renate

  • #6

    Der Kronprinz (Montag, 07 Juli 2014 09:23)

    Danke für die vielen tollen Berichte! Ich habe jeden einzelnen gelesen...


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