Du kannst dem Leben nicht mehr Tage geben, aber dem Tag mehr Leben!

  

   So, ich bin - auch im übertragenen Sinne - wieder zu Hause angekommen. Ich stehe morgens nicht mehr um 6 Uhr auf, schiele nicht mehr nach dem Wetter, sorge mich nicht mehr um das nächste Nachtquartier, esse seit mehr als einer Woche keine Pizza und kein Eis und schwitze nicht mehr. Alles irgendwie komisch! Mein zweites Enkelkind Mattea ist inzwischen zehn Tage alt, Deutschland seit gestern Fußballweltmeister und ich stelle fest, in meinem Bett ruht es sich sehr gut. Ich hatte nun einige Tage Zeit, meine lange Pilgerreise in Gedanken Revue passieren zu lassen und will ein Fazit ziehen.

   Zunächst die reine Statistik: Insgesamt war ich 2106 km unterwegs, davon 701 km in Deutschland, 368 km in der Schweiz und 1037 km in Italien. Gebraucht habe ich dafür 100 reine Wandertage (33 in Deutschland, 18 in der Schweiz und 49 in Italien), im Durchschnitt also gut 21 km pro Tag. Auf dem Weg zu seinem Grab hat mir Petrus, der ja nach landläufiger Meinung bei der göttlichen Aufgabenverteilung auch für das Wetter zuständig ist, diesbezüglich die besten Voraussetzungen beschert. Mein bewährter großer Regenschirm kam nur ca. zehnmal zum Einsatz, davon nur einmal über einen ganzen Tag hinweg. Die einzige "Schlechtwetterperiode" fand für etwa fünf Tage zwischen Bern und Lausanne in der Schweiz statt. Sonnenstunden gab es zu Hauf, meine Creme mit Sonnenschutzfaktor 30 habe ich komplett aufgebraucht und vor allem gegen Schluss in der Toskana und in Latium meinte es die goldene Scheibe am Himmel manchmal sogar zu gut mit mir.

   Meinen müden Körper habe ich nachts recht unterschiedlich gebettet: 35 mal in Fremdenzimmern, Pensionen, B&Bs, kleinen Hotels oder Bauernhöfen, 21 mal in Wanderheimen, Hostels, Jugendherbergen oder in einem "Weinfass" auf einem Campingplatz, 25 mal in kirchlichen oder kommunalen Pilgerherbergen und 15 mal in Klöstern. Die Qualität schwankte zwischen "3-Sterne-Hotel-Standart" bis "betont einfach", aber wer unterwegs denselben Komfort wie zu Hause braucht, sollte keine Pilgerreise auf sich nehmen.

   Mindestens 300 Stunden habe ich damit verbracht, meine Erlebnisse, Gefühle und Gedanken in meinem Blog niederzuschreiben und ich habe es mit viel Freude getan. Zusammen mit den fast 2000 Fotos und über 70 Videosequenzen werden mir die Blogeinträge dabei helfen, diese wunderbare Pilgererfahrung für mich unvergesslich zu machen.

   Zehn Kilogramm habe ich abgenommen und Verletzungen hat es keine gegeben, bis auf ein paar blutige Kratzer durch Brombeerranken. Von größeren Pannen oder gar "Katastrophen" bin ich Gott sei Dank verschont geblieben. Nur drei Paar durchgelaufene Socken, zwei Paar abgelaufene Wanderschuhe, ein von der Sonne vollkommen verblichenes Wander-Shirt, ein Winkelhaken im Wheelie-Regenschutz durch Hundebiss und der Verlust von einem Taschentuch, einem kleinen Handtuch, einer Armbanduhr und zwei Fußnägeln stehen auf der Negativ-Seite. Aber wie sagt man so schön: Ein bisschen Schwund ist immer!

   Auf der Plus-Seite steht so viel! Ich fange mal bei den Unterkünften an, die mir besonders in Erinnerung bleiben werden: mein uriges Weinfass auf dem Campingplatz am Dreifelder Weiher, das Wanderheim im Aussichtsturm auf dem Großen Feldberg im Taunus, das Naturfreundehaus in Dreieichenhain, die Klöster in Frankfurt-Sachsenhausen, Beinwil, Siena, Bolsena und Vetralla, das Bett bei Tobi und Mandy in Solothurn (incl. Käsefondue!), die Kammern auf den Bauernhöfen Montpelon im Schweizer Jura und Bättwil im Schweizer Mittelland, die wunderschönen B&Bs von Mme Mottier in Aigle am Genfer See und Anna Maria ("Verde Musica") in Borgofranco gegen Ende des Aostatals, die einladenden Ostellos in Cassio und "Passo di Cisa" kurz vor dem Cisa-Pass und "Sigerico" kurz vor Gambassi Terme sowie die überaus gastfreundlichen kirchlichen Herbergen in Sivizzano, Valpromaro, Abbadia Isola, Radicofani, Lucca, Buonconvento, Viterbo und Rom-Trastevere gegen Ende meiner Reise. Oft schlief ich alleine auf meinen Zimmern, manchmal zu zweit oder zu dritt, ab und zu aber auch im ganzen Rudel. In der Evolution vom Urmenschen zum modernen Individuum mag das Schlafen in der Gruppe eher die Regel als die Ausnahme dargestellt haben. Aber selbst wenn man Pilgern als Rückbesinnung auf einfache Lebensformen begreift, stellte das, was nachts in den letztgenannten Fällen auf viele zukam, eine echte Herausforderung dar. Wohl dem, der - wie ich - mit Ohropax versorgt war.

   Auf der Plus-Seite stehen besonders die herzlichen Gastgeber vieler Unterkünfte (die Pensionswirtinnen, die Mönche und Nonnen der Klöster, die Hospitaleros in den Herbergen) und die vielen Mitpilgerinnen und Mitpilger, mit denen ich - manchmal nur einige Stunden, manchmal aber auch einige Tage und Nächte - zusammen war (Roland, Bert und Heinz aus Deutschland, Maria aus Südtirol, Leonardo, Enrico, Fiurenzo, Pino, Daniela und Antonella aus Italien, Manuel aus der Schweiz, Sabrina aus Österreich, Jean, Martine, Melanie, Anni und Mart aus Frankreich, Pius, Brigit, Jean-Paul und Rita aus Belgien, Javier, Julio und Pedro aus Spanien, John aus England, Glen aus Australien sowie Piet und Marion aus Holland). Alles Menschen, die meinen Weg bereichert haben, auf unterschiedliche Weise, mit unterschiedlicher Intensität. Mit ihnen zusammen fühlte ich mich, trotz aller individueller Unterschiede, unter "Gleichen" auf einem gemeinsamen Weg.

   Was waren für mich die besonders bewegenden Momente? Es waren so viele, was soll ich für eine Auswahl treffen? Besonders war natürlich der Moment, als ich am ersten Tag meine Haustür hinter mir schloss und mich auf den Weg machte oder als ich mich von meinem Sohn Florian verabschiedete, der mich noch zwei Stunden auf seinem Fahrrad "zum Städtele hinaus" begleitete. Besonders und für mich unvergesslich aber auch die vielen anderen Momente: das überraschende kurze Wiedersehen mit Sebastian, Florian und der kleinen Amelie am Weinfass auf dem Campingplatz am Dreifelder Weiher und mit Annika im Kloster des Deutschherrenordens in Frankfurt-Sachsenhausen; der genauso überraschende Besuch der Via-Francigena-Pilger Kathrin und Hans-Jürgen in Bretten; die besondere Atmosphäre in den Klöstern in Beinwil und "Regina Pacis" in Vetralla; die "Königsetappen" entlang des Genfer Sees oder in der Toskana; das Abendessen mit den Mönchen des Klosters in Saint Maurice und mein Gespräch dort mit Abt Joseph; die unfreiwillige und intensive Wasserdusche durch die Bewässerungsspritze im Aostatal; das Übersetzen über den Po mit Fährmann Danilo; die Tierbegegnungen auf den Straßen und Wegen mit Hunden, Kuh, Esel, Gänsen, Hase und Wildschwein und mit dem Hund Pepe von B&B-Wirtin Anna Maria, der mir eine Einlegesohle und Salami klaute; der feucht-fröhliche Abend mit Tanz und viiiiiel Alkohol  in einer Unterkunft in der Po-Ebene und den daraus resultierenden Gleichgewichtsstörungen noch am nächsten Tag; der "Urlaubstag am Mittelmeer" hinter Marina di Massa mit Maria; das Eintauchen ins "Wolkenmeer" hinter Radicofani; die Hitze-Kilometer auf den "weißen Straßen" der Toskana; das mehrmalige 15-minütige italienische "Frühstücken" in kleinen Bars; die frühen stimmungsvollen Morgenstunden in den Städten und auf den Wegen; das abendliche "Halleluja" von Julio mit seiner Gitarre vor der Herberge in Viterbo; der Blick auf Rom vom Monte Mario; der Gang auf den Petersplatz; das Abholen des Testimoniums in der Sakristei des Petersdoms und - was kann schöner sein zum Abschluss - die Nachricht von der Geburt meines zweiten Enkelkindes Mattea auf dem Flughafen Fiumicino bei Rom.

   Mit meinem Pilgerweg nach Rom hatte ich mich mal wieder auf für mich Neues, Unbekanntes eingelassen. Ich hatte mein Alltagsleben verlassen, um auf ein weit entferntes Ziel loszulaufen. Ich wusste nicht, ob, wie und mit wem ich ankomme. Ich wollte erneut, wie vor einem Jahr bereits auf meinem Jakobsweg, Distanz nehmen zum Alltag, das Tempo verringern, entbehren können, jeden Tag aufs Neue wagen, meine Sinne öffnen, um das wahrzunehmen, was in mir und außerhalb von mir vor sich geht. Ich wollte mich ganz bewusst auf alles einlassen, was kommt. Hitze, Regen und Hindernisse wollte ich als Herausforderung ansehen und nicht als etwas, worüber man lange klagen muss. Ich wollte mich selbst wieder anders spüren, nicht nur in Rom ankommen, sondern ein Stück weit bei mir selbst.

   Die lange Zeit unterwegs und die täglichen Kilometer, die steinigen, engen, ausgewaschenen Pfade bergauf und bergab, die zeitweiligen hohen Temperaturen brachten mich manchmal an meine Grenzen. An die Grenzen der inneren Überwindung, aber auch an die körperlichen Grenzen des Erträglichen. Doch solche "Grenzerfahrungen" zu wagen, war sicherlich einer der Gründe meiner Reise.

   Religiöse, spirituelle Motive? Unterwegs habe ich sehrwohl bemerkt, dass das Gehen/Wandern/Pilgern bei mir existentielle Fragen "hervorlockt". Ich habe für mich eine Offenheit fürs Spirituelle entdeckt. Ich habe an Meditationen teilgenommen, wiederholt den Pilgersegen empfangen, habe mich beschützt gefühlt. Ich habe die Natur genossen, die Schöpfung, mit allen meinen Sinnen, empfand tiefe Freude und Dankbarkeit. Ich habe Religiösität bei vielen Menschen erlebt und in der Aneinanderreihung von verschiedenen uralten und erhabenen Kulturgütern, in der Regel Kathedralen, Kirchen und Klöstern. So kam ich gar nicht an der Geschichte der Religion vorbei, sondern erlebte alles sehr intensiv mit und war berührt davon.

   Ich denke, Pilger gibt es, weil es Pilgerwege wie den Jakobsweg oder die Via Francigena gibt oder Pilgerziele wie Rom, Santiago de Compostela oder Jerusalem, und diese Wege gibt es, weil es Pilger gibt. Ohne sie wären es Wege wie alle anderen. Es ist egal, welcher Religion man angehört, wie man den Gott nennt, an den man glaubt. Pilgern ergibt auch einen Sinn, wenn der "rechte Glaube" fehlt. Auch dann kann man spirituelle Erfahrungen machen. Wichtig ist, dass man sich für den Geist des Pilgerweges öffnet, ihn fühlt, ihn erlebt und so selbst ein Teil des Weges wird.

   Dass ich meinen Weg nach Rom so erleben und genießen konnte, habe ich nicht nur mir selbst zu verdanken. Ich bedanke mich auch bei meiner Familie, die das notwendige Vertrauen in mich setzt und mich immer wieder ziehen lässt, bei den lieben Menschen, die meine Blogbeiträge kommentiert oder mir ins "Gästebuch" geschrieben und mich damit ein ums andere mal "angefeuert" haben, bei meinen Mitpilgern für so viele schöne gemeinsame Stunden und Gespräche, bei den vielen Gastgebern der verschiedenen Unterkünfte für ihre meist überaus herzliche Gastfreundschaft, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Touristen-Informationen für manch geduldige und immer sehr nützliche Hilfe und bei vielen Menschen entlang des Weges für manch netten Gruß, eine bereitwillige Auskunft, ein Winken oder nur ein Lächeln.

   Ein besonderer Dank geht aber an meine treuesten Weggefährten: meinen Wheelie, meinen Rucksack, meine "Technikabteilung", bestehend aus Kamera, Smartphone und Tablet, meine Wanderschuhe und - meine Ohrenstopfen. Was hätte ich ohne sie alle nur gemacht...?

   Jetzt beginnt wieder die Zeit DANACH, die aber schon sehr bald wieder in die Zeit DAVOR einmünden wird. Es wird dann wieder einen anderen Weg für mich geben. Der Grund ist ganz einfach: Ein Schiff ist im Hafen sicher, dafür wird es aber nicht gebaut. Oder wie meine "Pilgertochter" Annika mir in ihrem letzten Blog-Kommentar geschrieben hat:

 

Wenn ein Abschnitt im Leben zur Vergangenheit wird, ist Platz für die Zukunft.

  

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Kommentare: 9
  • #1

    Lore (Dienstag, 15 Juli 2014 10:34)

    Danke Reinhard!

    Bis bald
    Lore

  • #2

    Der Kronprinz (Dienstag, 15 Juli 2014 17:23)

    Sehr schön!

  • #3

    Alfred (Dienstag, 15 Juli 2014 18:57)

    Ich hoffe dass du dich wieder in deiner Welt zuhause wohlfühlst und aber auch gleich wieder den Mut hast etwas neues zu wagen egal wohin die nächszte Pilger-Wanderreise geht. Habe täglich deinen Blog gelesen, der mir jetzt fehlt und hoffe bald die Nachricht zulesen dass es wieder los geht. Ob allei zu zweit oder wieder auf acht Beinen.

  • #4

    Müller Selma (Mittwoch, 16 Juli 2014 00:11)

    Vielen Dank für alle Berichte in den letzten Wochen. Mit diesem letzten Beitrag ist diese Pilgerreise auch für mich abgeschlossen. Jetzt freue ich mich auf eigene Erfahrungen und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute.
    Selma

  • #5

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 16 Juli 2014 07:51)

    Schön, dass du wieder zu Hause bist!

  • #6

    Renate (Mittwoch, 16 Juli 2014 11:36)

    Hallo Reinhard,
    danke für die "Zusammenfassung". Rein statistisch gesehen schon imposant! Habe die Strecke mitverfolgt und ein bisschen fehlen mir jetzt die täglichen Berichte. Aber du hast es mit deinem letzten Beitrag wunderbar abgerundet.
    Komm gut wieder in deinem Zuhause an und lass alles noch lange weiterklingen. Und genieße das Opa-Dasein.
    Herzliche Grüße aus Much
    Renate

  • #7

    Kathrin (Mittwoch, 16 Juli 2014 23:33)

    Lieber Reinhard, noch mal DANKE für die tollen Berichte. Ich werde Deine Spuren suchen gehen.
    Liebe Grüße aus der Eifel
    P. S. Morgen geht's mit dem Rad auf die letzte Frankreich Etappe und hoffentlich bis nach Lausanne.

  • #8

    Christel (Donnerstag, 17 Juli 2014 08:51)

    Danke lieber Reinhard! Es war spannend, schön, eindrucksvoll und manchmal anrührend, Deine Reise in Deinem Blog mitzuerleben. Hochachtung!!!!
    Alles Gute für zu Hause!
    Fr. Jupp und Christel

  • #9

    Werner (Freitag, 18 Juli 2014 22:12)

    Eine sehr einfühlsame Zusammenfassung. Wer wie ich mitgelesen hat und selbst Weitwanderwege liebt, kann jeden Gedanken nachvollziehen. Danke für Deine vielen Eindrücke und Berichte
    Werner


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