Stochern im Nebel

Wieden - Haldenhof (13 km)

   Heute muss wieder die Vernunft siegen. Ich muss nochmal rauf auf über 1.400 m. Der Belchen ist mit seinen 1.414 m ü. NN der vierthöchste Berg des Schwarzwaldes. Aber anders als der Feldberg, der ganz leicht zu erklimmen ist, sieht das beim Belchen anders aus. “Aufstieg und Abstieg führen über alpine Pfade, die Trittsicherheit erfordern. Der Abstieg durch den Steilhang der Hohen Kelch gilt sogar als eine der schwierigsten Passagen des gesamten Westweges“, sagt mein Wanderführer. Herr Behringer, die andere Hälfte von Adelheid, rät mir dringend ab, den Wheelie mitzunehmen. “Viel zu gefährlich“!, meint er. “Außerdem müssten sie in den Steilhängen über Felsen und hohe Stufen, von den Baumwurzeln ganz zu schweigen. Sie machen sich und ihre Karre kaputt. Ich fahr das Ding zum Haldenhof.“ Ich bin richtig froh, dass er so rigoros für mich entscheidet. Wenn ich unterwegs feststelle, dass es doch nicht sooo schlimm ist, kann ich wenigstens sagen “Herr Behringer war Schuld“.

   Als ich den Wagen vor ihm her zu seinem Wagen rolle, bemerkt Herr Behringer mit Kennerblick, dass die Räder vom Wheelie klackern und ein wenig wackeln, ein Problem, das ich schon seit Windeck habe. In der Garage öffnet er seinen Werkzeugkofffer, schnappt sich einen Steck- und einen Schraubenschlüssel in passender Größe, kniet sich hin und widmet sich den Rädern. Nach einer Minute ist er zufrieden und gemeinsam verstauen wir mein dienstbares Gefährt in seinem Kofferraum. Ob das Problem jetzt wirklich behoben ist, werde ich morgen erst sehen, heute hat Wheelie ja wieder einen Ruhetag.

   Auf seinem Weg zum Haldenhof, meinem heutigen Quartier, fährt mich Herr Behringer aus dem kleinen Talörtchen Wieden hinauf auf den Pass am Wiedener Eck, dorthin, wo ich gestern den Westweg verlassen hatte, und lässt mich raus. “Seien Sie vorsichtig! Wenn es hier schon so kalt ist, dann ist es oben eisig. Wahrscheinlich ist es dann auch glatt.“ Er schüttelt mir kräftig die Hand, steigt wieder in seinen Wagen und hupt zum Abschied.

   Vor mir haben drei junge Westwegwanderer ebenfalls gerade ihren Tag begonnen, wahrscheinlich haben sie im Berggasthof Wiedener Eck übernachtet. Sie legen ein ordentliches Tempo vor, eher um nicht festzufrieren als um schnell anzukommen. Ich lasse mir bewusst Zeit, der Anstieg auf den Belchen wird noch genug Atem kosten. Ohne Wheelie ist es schon einfacher, ich fühle mich leicht und locker, ich habe viel Zeit, die Strecke ist kurz - der Belchen kann kommen.

   Ich kreuze eine Skipiste, gehe unter einem Lift hindurch und bin dann im Wald, der mich bis kurz vor dem Gipfel nicht mehr aus den Klauen lassen wird. “Wenn Sie Glück haben, werden Sie unterwegs an einigen Stellen einen fantastischen Ausblick in die Rheinebene und hinüber bis in die Vogesen bekommen. Vielleicht sehen Sie aber auch nichts.“ Ich will mal so sagen: “Nichts“ wäre jetzt eine Übertreibung. Ich sehe zehn Meter Weg vor mir, nach links und rechts ebenso weit Baumstämme und Felsen. Ansonsten sehe ich..., ja doch, NICHTS. Ich stecke im Nebel, der alles zudeckt. Kaum ein Laut ist zu hören, selbst die Vögel schweigen. Nur meine Schritte, die ich langsam einen vor den anderen setze, wirken lauter als sonst. Genauso mein Atmen, das immer hechelnder wird.

   Aber es hat was! Gehen im Nebel hat was! Dann ist nicht mehr wichtig, was weiter weg oder gar in der Ferne liegt oder passiert. Dann geht der Blick zum Naheliegenden, man schaut sich bewusster um. Da sind die verschiedenen Moose und Flechten an den Baumrinden und Steinen, die verwachsenen oder schon abgestorbenen Bäume mit ihrem Baumpilzbefall oder den Löchern, die bereits der Specht gebohrt hat. Es wird mir nicht langweilig auf diesem Pfad zum Belchen hinauf.

   Doch ich muss aufpassen. Bei allem Schauen nach links und nach rechts, legt sich vielleicht einmal eine knorrige Baumwurzel oder ein junger Felsen hinterlistig in den Weg und stellt mir ein Bein. Aber das ist noch nicht alles. Die Schnee- und Graupelschauern von gestern Abend, heute Nacht und heute Morgen haben ihre Spuren hinterlassen. Nichts ist wieder weggetaut, alles liegt noch auf Wurzeln und Steinen und ist festgefroren. Es ist höllisch glatt! Der Pfad wird immer enger, links geht es steil rauf, rechts extrem steil runter. Ein “alpiner Pfad“ eben. Ich bin heilfroh, dass ich es nicht doch mit dem Wheelie versucht habe, es wäre einfach nicht gegangen.

   Kurz bevor ich aus dem Wald auf die Hochfläche hinaustrete, liegt sogar zusätzlich noch Schnee auf dem Pfad, hanglastig Richtung Abgrund. Ich mag gar nicht daran denken, wo ich hier mit meinem Wheelie geblieben wäre. Jetzt kann es nicht mehr weit sein bis ganz oben. Nur gut, dass ein Schild zum Gipfel weist, zu sehen ist von ihm nichts, nur grauer Nebel und Schnee. Ich gehe den Spuren nach, die andere heute schon vor mir getreten haben und irgendwann taucht vor mir aus diesem Grau das Gipfelkreuz auf. Ich bin oben. Kaum vorstellbar, dass sich von hier aus an normalen Tagen ein grandioser Blick eröffnen soll. Jetzt bin ich schon froh, dass ich den Weg zum etwas tiefer gelegenen Belchenhaus erkennen kann.

   Direkt neben dem Bergrestaurant liegt die Bergstation der Belchengondelbahn und ich wundere mich, dass sie trotz des Wetters immer noch “Gipfelstürmer“ nach oben bringt. Nicht viele sind es, aber selbst bei den wenigen frage ich mich: Was wollen die hier? Belchen abhaken, Nebel besichtigen, Urlaubs- oder Wochenendzeit totschlagen?

   Als ich im Belchenhaus sitze und einen heißen Tee trinke, kommen sie irgendwann alle herein, dick vermummt und mit rotgefrorenen Gesichtern. Sie essen ihr Wiener Würstchen mit Fritten, trinken ihr Bier, gehen nochmal zur Toilette und fahren mit der nächsten Gondel wieder runter. Nur die wenigsten schaffen es bis zum Gipfel. Vielleicht meinen sie, das Belchenhaus stände auf dem Gipfel...

   Der Pfad runter ist nicht weniger happig, eher im Gegenteil. In einer Fels- und Geröllrinne geht es zunächst in engen Serpentinen zu Tal, dann brauche ich auf breiten Forstwegen nur noch rollen lassen. Meine Erleichterung, auf meine innere Stimme und auf Herrn Behringer gehört zu haben, lässt mich den Berg fast runterhüpfen. Gleichzeitig kommt langsam die Frage in mir auf: Was erwartet dich noch im Schweizer Jura und in den Alpen? Doch das dauert noch und für alles wird es Lösungen geben.

   Um 14 Uhr bin ich schon im Gasthof Haldenhof. Mein Wheelie wartet bereits am Treppenaufgang zu den Zimmern auf mich und ich habe den Eindruck, er will mir sagen: “Ich glaube, es war gut, dass ich heute nicht mitmusste. Den Weg hätte ich zwar geschafft, aber es war einfach zu kalt.“ - Heuchler!

 

Zur Karte: https://docs.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmTkZZSnN4R0VXVG8/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Die Pilgertochter (Sonntag, 20 April 2014 10:58)

    Ha! Deine letzten beiden Tage erinnern mich ja fast an Ostersonntag letztes Jahr. Weißt du noch? Unsere Übernachtung in Le Cergne, der Osterhase, der uns morgens besucht hat... die Herbergseltern Martine und Phillipe, die uns draußen im Morgenmantel verabschieden... Nebel... schweinekalt... Hach, das waren noch Zeiten.... Allerdings war das drei Wochen früher als in diesem Jahr... Na, da wächst doch die Vorfreude auf die nächsten Gebirgsketten!

  • #2

    Seine (Sonntag, 20 April 2014 22:11)

    Lieber Reinhard,
    Frohe Ostern und bessere Sicht in den nächsten Tag wünschen wir Dir.
    Willi und Maria

  • #3

    Der Kronprinz (Mittwoch, 23 April 2014 13:19)

    Endlich auch mal schlechtes Wetter..!


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