Lange, lange Emme

Lohn-Ammansegg - Burgdorf/Bättwil (24 km)

   Tobi ist schon weg, als ich aufstehe. Mandy kurz davor aufzubrechen. Nochmal kommt von ihr der Hinweis mit Fingerzeig Richtung Kühlschrank und Kaffeemaschine: “Nimm alles, was du brauchst! Und guten Weg weiterhin!“ Ich nehme alles, was ich brauche, und eine halbe Stunde später bin ich auch weg.

   Seinerzeit, als er sich die Wohnung mit Mandy gesucht hat, hat er intuitiv die richtige Entscheidung getroffen. Er wohnt so gut wie an meinem Weg. Streng genommen müsste ich ja jetzt zurück nach Solothurn, um keine Pilgerkilometer auszulassen. Um eine Stunde später wieder mehr oder weniger an Tobis Haustür vorbeizukommen? So jeck bin ich nun auch wieder nicht. Also freue ich mich über eingesparte sechs Kilometer, 24 sind auch noch genug.

   Nach zwei Straßenkilometern habe ich den Weg wieder. Und für den Rest des Tages kann ich ihn auch nicht mehr verlieren. Von nun an gehe ich fast 20 Kilometer (!) immer an der Emme entlang. Die Emme fließt durchs Emmental, und das Emmental kennen wir alle - vom Käse. Jetzt weiß ich auch, wo der Käse herkommt, der nicht zu meinen Lieblingskäsesorten gehört. Die gesamte Strecke über sehe ich, dass die Emme in einem von Menschenhand geschaffenen, breiten Bett dahinfließt. Zur Zeit der Hauptschneeschmelze muss dieser Fluss reißend sein, jetzt führt er nur wenig Wasser. Begleitet wird die Emme von einem nur wenige Meter breiten Wäldchen, durch den der Weg führt, meist auf butterweichem Waldboden, zum Teil noch “aufgemotzt“ durch Rindenmulch. Ich gehe wie auf einem Velourteppich und höre meine eigenen Schritte nicht.

   Direkt hinter Bätterkinden stinkt es auf einmal gewaltig zum Himmel. Ein Klärwerk direkt am Wegesrand, und zwar der übelsten Sorte. Was nützt der Balsam für die Füße, wenn die Nase terrorisiert wird? Für fünf Minuten versuche ich so wenig wie möglich zu atmen, dafür sind danach die Atemzüge, die ich machen muss, besonders intensiv. Als ich das Klärwerk endlich hinter mir habe, werde ich das Gefühl nicht los, dass mir der Gestank noch kilometerlang in den Klamotten steckt.

   Für das Schloss Landshut verlässt der Weg mal kurz die Emme, immerhin gilt es, das einzige intakte Wasserschloss im Kanton Bern dem Wanderer vorzuführen. Es sieht auch richtig nett aus, nur im Moment ist das Wasserschloss kein Wasserschloss mehr. Der Wassergraben führt kein Wasser. Der Graben sieht aus wie eine leergelaufene Badewanne, in der sich der Dreck von mindestens fünf Kindern nach einer Schlammschlacht abgelegt hat. Ursache: Der Graben wird saniert, d.h. er wurde saniert. Eigentlich soll seit drei Tagen schon wieder Wasser in den Graben einlaufen, aber noch ist nichts davon zu sehen.

   Nach dem kurzen Abzweig bin ich bald wieder an der Emme. Immer weiter geht es an ihr entlang, immer weiter. Sehr abwechslungsreich ist das nicht. Ich sehe die Wehre, die kleinen Brücken auf der Karte, hake eins nach dem anderen ab. Nach einiger Zeit sehe ich die Zeit für ein Eukalyptusbonbon gekommen und fasse in die Seitentasche meiner Hose. Gestern waren noch vier Bonbons drin, jetzt ist die Tasche leer. Ich weiß aber genau, dass ich sie nicht aus der Tasche rausgenommen habe. Des Rätsels Lösung ist ganz einfach. Gestern Abend hat Mandy einen großen Waschgang mit meinen Klamotten gemacht. Irgendwann reicht eben der Handwaschgang nicht mehr. In der Waschmaschine müssen sich die Bonbons bei 40° Wassertemperatur aufgelöst haben. Hoffentlich verstopft das übriggebliebene Papier jetzt nicht Mandys Waschmaschine.

   Wenig Abwechslung macht einen Weg lang, auch wenn er gar nicht soooo lang ist. Endlich, aber doch schon um 14 Uhr, erreiche ich Burgdorf. Damit bin ich aber noch nicht angekommen. Ich muss noch hoch zum Bauernhof Bättwil. Am Himmel bauen sich, nach einem Morgen mit Sonnenschein und recht hohen Temperaturen, dunkle Wolken auf. Wenn ich Pech habe, bekomme ich noch ein nasses Fell. Burgdorf ist nicht von solch besonderer Schönheit, dass ich lange hier verweilen muss. So lege ich einen Zahn zu, um einem eventuellen Regen zu entgehen.

   Ich bin keine hundert Meter mehr vom Bauernhof Bättwil entfernt, als die ersten Tropfen fallen. Aber es bleibt dabei, viel Wasser fällt nicht vom Himmel. Etwas weiter westlich, in der Region um Fribourg, muss es schlimmer gewesen sein. Im Radio höre ich abends etwas von Überflutungen.

   Frau Mathys, die Bäuerin von Bättwil, begrüßt mich überschwänglich. Sie stellt mich vor die Wahl: Kleines, einfaches Einzelzimmer im Haus mit Toilette und Dusche über den Hof oder Matratzenlager mit Toilette und Waschgelegenheit im Nebenhaus. Ich nehme das Einzelzimmer. Der Preis ist für beide Möglichkeiten derselbe.

   Der Bauernhof Bättwil ist ein großer Sandsteinbau, bereits 1715 als ehemaliger Stadthof erbaut. Von 1834 bis 1854 war er Armenerziehungsanstalt für Knaben unter der langjährigen Leitung des Reformpädagogen Pestalozzi.. Seit 1928 ist er im Besitz der Familie Mathys, jetzt in der 3. Generation. Die Mathys' bewirtschaften 22 ha, den größten Teil davon für die Milchwirtschaft und 6 ha mit Ackerbau. Kühe, Rinder, Kälber, Schweine, vier Großesel, ein Pferd, Schafe, Ziegen, Hunde, Katzen, Hühner, Gänse und Enten bieten das ganze Panorama eines traditionellen Bauernhofes, wie man ihn sich von früher her vorstellt. An Touristen, Wanderer und Pilger vermieten sie eine Ferienwohnung, Zimmer, ein Matratzenlager und Schlafen im Stroh. Ein Feierraum für Hochzeiten, Geburtstage, Dorf- und Vereinsfeiern darf natürlich nicht fehlen. Vieles erinnert mich an den Berghof Montpelon in Gänsbrunnen. Die Familien Lanz und Mathys kennen sich auch, über viele Kilometer hinweg.

   Das “Nachtessen“ nehme ich mit der Bauernfamilie zusammen ein. Pellkartoffeln gibt es, mit Salat, dazu Schinken und verschiedene Käsesorten, natürlich incl. Emmentaler. Hauptgesprächsthemen sind die unterschiedlichsten Gäste, die hier schon übernachtet haben, die Arbeit auf dem Hof, das Wetter und - das Lieblingsthema von Frau Mathys - ihre Esel.

   Nach dem Essen setzt sich Herr Mathys noch etwas vor den Fernseher. Nach einer Viertelstunde ist er davor eingeschlafen. “Es war heute wieder ein harter Tag für ihn“ sagt seine Frau.

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Sebastian (Samstag, 26 April 2014 00:09)

    Aha, eine Erziehungsanstalt. Genau da gehörst du hin!

  • #2

    inge.geisler (Samstag, 26 April 2014 07:38)

    An der Stelle möchten wir mal ganz herzlich Gruesse in die Schweiz an Tobias und seine Familie schicken. Schoen etwas vonDir zu hören. Gruß auch vom ganzen Rest.
    Vielleicht mal bis bald im Windecker Laendchen.
    Gruß Inge Geisler


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