Ein Männerhaus

Orsonnens - Bressonnaz (28 km)

   In der Nacht werde ich wach und bin schweißgebadet. Der Heizkörper bollert wie verrückt. Wahrscheinlich haben Vietnamesen ein anderes Heizverhalten.

   Um 7.30 Uhr steht unten in der Gästeküche wieder alles für mich bereit, im Übermaß. Was mir schon öfter aufgefallen ist, sehe ich hier auch wieder: Neben Marmelade ist Hartkäse immer auf dem Tisch, Wurst oder Schinken so gut wie nie. Ist das so in der Schweiz? Brötchen habe ich auch schon seit der Jugendherberge in Bern nicht mehr gehabt, sondern nur noch dicke Scheiben Grau- oder Körnerbrot. Ich will mich keineswegs beklagen, ich stelle nur fest.

   Während ich in der Gästeküche sitze, frühstücken die vietnamesischen Zisterziensermönche in ihrer schwarzweißen Dienstkleidung in ihrem eigenen Speiseraum. Sie erzählen und lachen dabei lauthals, dass es eine Freude ist zuzuhören. Wie anders war das doch in Beinwil. Als ich eine halbe Stunde später bei ihnen anklopfe, den Kopf zur Tür reinstecke und mich verabschiede, springen alle von ihren Stühlen, stellen sich nebeneinander und geben mir breit lächelnd nacheinander die Hand. “Gut geschlafen? Gut gegessen?“ Hätte mich einer gefragt: “Schön warm gewesen auf Zimmer?“, wäre meine Antwort nicht ganz eindeutig ausgefallen. Von den Stufen der Haupteingangstür winken sie mir alle hinterher. “Bonne route, bon chemin, gute Weg! Ultreia!“ höre ich sie rufen und bin gerührt.

   Ich bin kaum eine halbe Stunde unterwegs, komme ich mir kurzfristig etwas albern vor. Ein junger Mann kommt vom Hof eines Bauernhauses, geht mit seinen schweren Gummistiefeln auf die nebenliegende Weide in der Absicht, eine Kuh dort herunter und in den Stall zu treiben. Die Kuh ist not amused, schlägt immer wieder Haken und ist nur mit viel Mühe dazu zu bringen, ihr grünes Speisezimmer zu verlassen. Irgendwann tut sie es, schlägt dabei aber nicht den Kurs zum heimatlichen Stall ein, sondern zieht vor, auf die Straße zu laufen und in meine Richtung zu traben. Herannahende Autos und ein LKW beruhigen weder die Kuh noch den jungen Bauern. Ein Auto überholt die Kuh und versucht, ihr den Weg abzuschneiden. Als die Kuh daraufhin seitlich gegen das Auto poltert, legt der Fahrer den Rückwärtsgang. ein. Der Jungbauer kommt angerannt und schreit sich die Seele aus dem Hals, was die Kuh nur noch doller macht. Jedenfalls kommt sie nun mit Highspeed auf mich losgerannt. Panisch wegrennen wäre jetzt irgendwie komisch, also stelle ich mich mit meinem Wheelie quer auf die Straße und rudere mit den Armen. Das wird jetzt zwar nicht weniger komisch aussehen, aber es zeigt Wirkung. Die Kuh erschrickt sich wahrscheinlich mehr über meinen neongelben Wheelie als über meine lächerlichen Armbewegungen, aber sie bleibt kurz wie angewurzelt stehen, dreht dann urplötzlich um und galoppiert an Jungbauer, Auto und LKW vorbei in den Stall. Der Jungbauer hebt dankend die Hand und rennt ihr hinterher. Was man nicht alles so erlebt...

   Das Wetter weiß nicht so recht, was es will. Bei meinem Abmarsch vom Kloster sah es noch recht brenzlig nach Regen aus, jetzt lugt mal wieder die Sonne aus einer Wolkenlücke hervor. Doch weiter im Norden, ich glaube, über Villaz-St. Pierre, gehen schwere Schauer nieder. Ich hoffe, dass dieser Kelch an mir vorübergeht, doch ich hoffe vergebens. Mit Glück schaffe ich es noch bis zu einem Dachvorsprung in La Longerai, der mich vor dem Schlimmsten verschont. Nach 20 Minuten ist der gröbste Regen durch und ich gehe unterm Schirm weiter. Nach einer weiteren halben Stunde ist auch das vorbei und wie sich herausstellen wird, war es das für heute.

   Kurz vor Romont komme ich am Nonnenkloster La Fille Dieu vorbei. Auf einer kleinen Tafel vor der Klosterkirche steht angeschlagen, wann die Klosterschwestern sich hier zu Gebeten zusammenfinden. Siebenmal am Tag und einmal in der Nacht ist das der Fall und jeder zur rechten Zeit vorbeiziehende Pilger ist eingeladen, daran teilzunehmen. Sie nehmen auch Pilger zur Übernachtung auf, nur wer sich nicht bis 17 Uhr angemeldet hat, muss weiterziehen. Eins aber geht immer. Die Toilettentür neben der Klosterpforte ist Tag und Nacht geöffnet.

   Vom Kloster zum Zentrum von Romont geht es die einzig nennenswerte Steigung für heute hoch. Die kleine Stadt liegt auf einem bis zu 90 m über der Talebene aufragenden Hügel. Er gilt als Überbleibsel des eiszeitlichen Rhônegletschers. Bevor ich richtig außer Atem bin, bin ich aber schon oben. Nach kurzer Zeit fällt mir auf, dass in den Straßen Kleingruppen von Kindern aufgeregt herumrennen, an Haustüren klingeln oder einfach Leute ansprechen. Sie sprechen ein paar Sätze, stellen sich dann feierlich im Halbkreis auf und beginnen zu singen. Es sind durchweg fröhliche Lieder, die allen Angesungenen ein Lächeln ins Gesicht zaubern - und anschließend den Geldbeutel zücken lassen. Ich frage ein älteres Ehepaar und habe Glück, dass es gut Deutsch spricht. Im Kanton Freiburg ist es ein alter Brauch, dass Kinder, wie bei uns zu St. Martin, am 1. Mai zwei bis drei Lieder vorsingen, um damit den Frühling zu begrüßen. Als Belohnung bekamen sie früher nur Süßigkeiten, heute schauen sie, wie bei uns, eher nach dem einen oder anderen Silberling.

   Die Altstadt von Romont gefällt mir. Die übriggebliebenen Teile der Stadtbefestigung, die gotische Kollegiatskirche, das Schloss, alle Zeugen einer bewegten Vergangenheit. Besonders beeindruckt mich im Schloss, direkt hinter dem mächtigen Tor, ein gewaltiges Tretrad, 4,50 m im Durchmesser, mit dessen Hilfe früher Wasser aus dem benachbarten 40 m tiefen Schlossbrunnen heraufgeholt wurde. Wer musste in diesem großen Rad treten, treten, treten, um einen Eimer voll Wasser nach oben zu bringen?

   Ich bin mit meinen Gedanken ganz weit weg, ich glaube, bei dem heutigen Geburtstag meiner Frau und dem wohl aus diesem Grund zur Zeit stattfindenden Clantreffen, als mir am Ortsanfang von Hennens ein gewaltiger Schreck in die Glieder fährt. Ich biege gerade um die Ecke eines großen Bauernhofes, als mir ein Monster von Hund entgegenfliegt. Erst als ihn seine Kette erbarmungslos zurückreißt, beginnt er sein wütendes Gebell. Welcher Mechanismus im Körper auch immer für die Adrenalinproduktion verantwortlich ist, in diesem Moment funktioniert er wie geschmiert. Noch nie war er so versessen darauf, einen heißen Schub dieses Saftes auszustoßen. Ich gucke dreimal hin, ob er auch wirklich angekettet ist, warte darauf, dass meine Beine wieder bewegungsfähig werden und setze mich dann langsam in Bewegung. Himmel, muss das denn immer sein?

   Noch habe ich heute nicht gerastet und ich bin schon fast vier Stunden unterwegs. Eigentlich war auch noch keine Gelegenheit. Doch hinter Curtilles, nach einem langen, steilen Abstieg ins Tal der Broye, bekomme ich die passende Gelegenheit auf dem Silbertablett serviert. Unter dem weit vorstehenden Dach einer Scheune steht, einfach so, ein großer Gartenstuhl, mit weichen Sitzpolstern. Daneben eine Kiste mit Feuerholz - und eine Palette mit sechs Säcken Düngemittel. Im ersten Moment denke ich, hier wäre ein Jakobusfreund am Werk gewesen: Ein Stuhl für den erschöpften Pilger zum Ausruhen, Holz für eine eventuelle kleine Feuerstelle, vielleicht sogar eine trockene Schlafstelle unter dem weiten Vordach, aber was soll das Düngemittel dabei? Die Frage bleibt ungeklärt.

   Die letzten Kilometer des Tages lege ich entlang des Flusses Broye zurück. Bis Moudon, meinem Etappenziel, begleitet er mich. Die Abwechslung auf der Strecke hält sich schwer in Grenzen, nur eine Möwe kommt mir mal entgegengeflogen. EINE MÖWE??? Wo kommt die denn her? Doch dann komme ich drauf: Keine 30 Kilometer von hier beginnt der Genfer See. Mit rund 70 Kilometern Länge und 14 km Breite ist er der zweitgrößte See Mitteleuropas - und da wird es ja wohl Möwen geben. Wahrscheinlich hat sich dieses Exemplar hierher an die Broye verirrt.

   Am Ufer der Broye liegt Moudon mit seiner historischen Altstadt. Eine Dreiviertelstunde danach kommt Bressonnaz. Bressonnaz hat nicht viel zu bieten, bis auf einen Bahnhof. Und neben dem Bahnhof steht meine Unterkunft, das Relais de Bressonnaz, was nichts anderes ist, als eine Fernfahrerunterkunft. Herrlich! Hier riecht es förmlich nach Testosteron, hier wird nach dem deftigen Essen und nach einigen Bier mit der Faust auf den Tisch gehauen (warum auch immer) und, ja wirklich, die Wirtin nach dem nächsten Stripteaselokal gefragt. Das Schönste aber: Direkt unter meinem Zimmerfenster verläuft die Bahnstrecke nach Lausanne, etwa alle zwanzig Minuten fährt ein Zug durch und lässt die Fensterscheiben und mein Bett erzittern. Ich werde zumindest meine Ohrenstöpsel bemühen müssen.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmYzNvc1JxcEo5b2M/

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Die Pilgertochter (Freitag, 02 Mai 2014 15:46)

    Hach, so eine Unterkunft am Ende eines Wandertages... wie romantisch. Genau das Richtige für einen Rinderflüsterer.


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